Alfred-Kerr-Preis – Rede von Jurorin Ursina Lardi
Wir sind alle Verstrickte
22. Mai 2024. Schauspielerin Ursina Lardi, Ensemblemitglied der Berliner Schaubühne, war in diesem Jahr Alleinjurorin des Alfred-Kerr-Darstellerpreises, den sie an Nikita Buldyrski vergab. In ihrer Laudatio spricht sie auch darüber, was Theatertreffen-Produktionen übers Theater generell erzählen.
Von Ursina Lardi
22. Mai 2024. Die drei Königinnen des diesjährigen Theatertreffens, Lina Beckmann, Wiebke Puls und Valerie Tscheplanowa sind alle Preisträgerinnen des Alfred-Kerr-Preises. Das sagt sehr viel über seine Bedeutung und auch über den Spürsinn meiner Juroren-Vorgänger und -Vorgängerinnen aus.
Ich war sowohl 2020 als auch 2021 als Jurorin des Alfred-Kerr-Darstellerpreises angefragt. Beide Male wurde der Preis pandemiebedingt nicht vergeben, weil die Theatertreffen nur gestreamt wurden, der Kerr-Preis aber explizit ein Theaterpreis ist und die Aufzeichnung einer Aufführung allenfalls ihr Zitat.
Schockverliebt und betört
Beide Male hatte ich schon über eine mögliche Preisträgerin nachgedacht. Die Tänzerin Beatrice Cordua in Florentina Holzingers Abend Tanz hatte mich schlicht sprachlos gemacht. Ihr Sich-selbst-Aussetzen, ihr beißender Humor, ihre Klarheit, ihre Coolness und Eleganz. Gut, sie ist um die 80 Jahre alt, egal, dachte ich, es ist ihre erste Sprechrolle, sie ist Nachwuchs, wie man ihn sich potenter nicht wünschen kann. 2021 war es die Performerin Lucy Wilke, in die ich mich geradezu schockverliebte. Ihr Abend Scores that shaped our Friendship ist in seiner hochreflektierten Intimität ein liebevoller Tabubruch. Zwei Menschen mit so verschiedenen Körpern, der eine von spinaler Atrophie, der andere vom Tanz geformt und geprägt, treten in einen Dialog, berühren sich, tanzen und werden getanzt, sind in jedem Augenblick mutig und anmutig zugleich.
Beide Darstellerinnen, beide Abende, waren betörend, bestürzend, sie haben meine Art, die Welt wahrzunehmen aufs Produktivste gestört, haben meine Weltsicht erweitert. Ich werde sie nie vergessen und wollte dieses Forum nutzen, sie nochmal in Erinnerung zu rufen und mich für die Performance der beiden Darstellerinnen zu bedanken.
Ich bin ja keine Kritikerin und kann mir deshalb erlauben, nur von einigen Momenten zu berichten, die mich am diesjährigen Theatertreffen berührt und begeistert haben. Ich habe ausdrücklich nicht den Wunsch, den Inszenierungen oder der Stückauswahl als Ganzes gerecht zu werden.
Welche Hingabe, welcher Genuss am Auftritt!
Als in Riesenhaft in Mittelerde zu Beginn des Stückes sich diese vielen Menschen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten, gegenüberstehen, einander in die Augen schauen, aufeinander zugehen und gemeinsam singen: "Die Welt ist im Wandel, die Welt ist im Wandel", war es um mich geschehen. Ja! Genau! Wie gut! Hoffentlich ist sie das! Hier und in diesem Augenblick auf jeden Fall ist sie das.
Überhaupt immer wieder die Darstellerinnen und Darsteller des Theater Hora. Welche Hingabe, welcher Genuss am Auftritt. Sie wollen etwas erleben. Es ist ja nicht nur die Lebenszeit der Zuschauenden, für uns Spielende ist es auch unsere eigene Lebenszeit, die abläuft, während wir auf der Bühne stehen. Warum also Bescheidenheit? Warum sich begnügen mit der Bewältigung von oft so übersichtlich komplexen Aufgaben? Warum Schonung? Sowohl von uns selbst als auch vom Publikum?
Bei The Silence traf mich der Moment, als ich begriff, dass es dem Sohn nicht möglich sein wird, die Dinge mit seiner Mutter zu klären. Dass es ihre Überlebensstrategie ist, die Verletzungen – sowohl die selbst erlittenen als auch die anderen Menschen zugefügten – unter Verschluss zu halten und dass das gewaltsame Herausholen derselben sie zerstören würde. Dem Sohn bleibt nur die Kapitulation, aber in ihr liegt eine Schönheit, denn sie führt vielleicht in eine neue Freiheit, die im Verzeihen statt im Klären liegt. Während ich Dimitrij Schaad als Falk Richter beim Sich-Erinnern an seine Kindheit und Jugend zusah, konnte ich erleben, dass Erinnern nichts Rückwärtsgewandtes ist, sondern eine Form des Werdens.
Es hat etwas von Notwehr, als Frau immer wieder Männerfiguren zu spielen
Wenn Wiebke Puls‘ Anna Petrowna in Die Vaterlosen die Sinnlosigkeit ihres zur Untätigkeit verurteilten Lebens als Frau in den Abgrund ihres Stiefsohnes hineinschreit, ist es ein Moment großer Klugheit und Emotionalität. Zwei Begriffe, die oft als sich gegenseitig ausschließend gesehen werden. Aber nicht nur das Denken, auch die Emotion ist ein Erkenntnisinstrument. Auch auf der Bühne. Ich kann durch die Emotion Dinge begreifen und begreifbar machen, die jenseits eines klugen Gedankens sind. So kann ich mir selbst und dem Publikum ermöglichen, in eine Figur hineinzuschauen, statt sie lediglich zu durchschauen, was ja wohl das Langweiligste überhaupt ist. Zwei der drei großen Protagonistinnen des Theatertreffens spielen Männer, Nathan und Laios. Ich habe auch des Öfteren Männer gespielt, tolle Figuren, widersprüchlich, unbequem, irritierend. Und doch hat es etwas von Notwehr, als Frau immer wieder Männerfiguren zu spielen. Ich würde mir wünschen, dass der Prozess der Entwicklung von genauso ambivalenten, vielschichtigen und verwirrenden weiblichen Figuren mehr an Fahrt aufnimmt. Es ist mühsam festzustellen, wie hartnäckig sich die tradierten und eben unrealistisch einseitigen Frauenfiguren im Spielplan halten, ärgerlicherweise werden sie zuweilen auch von Regisseurinnen reproduziert.
Manchmal wird man im Theater ein wenig zu sehr an die Hand genommen und durch gut gangbares Gelände geführt. Etwas zu oft entsteht das Gefühl, auf der Höhe der Handlung zu sein und nicht unbedingt in unbekannte Höhen und Tiefen vorzudringen. Doch mit "Bucket List" wird man nicht so schnell fertig. Ich sah die Zersplitterung des Individuums angesichts der Katastrophe in seine Einzelteile, von denen doch viele so demütigend banal und beschämend kleinlich sind. In ein beklemmendes Gefühl der Verlorenheit gestoßen hatte ich zugleich einen großen Genuss an der fantastischen Musikalität der Beteiligten, an ihrem schieren Können, an ihrer Kunst und Fähigkeit zur Abstraktion. In diesem Widerspruch liegt die Kraft dieses Abends.
Es muss immer um etwas gehen, immer!
Wir sind alle Verstrickte. Verstrickt in unsere private Geschichte, unsere Familie, unseren Alltag, verstrickt in die politische und gesellschaftliche Gegenwart, in die wir zufällig geworfen sind. Wir Schauspieler*innen sind zusätzlich verstrickt im Realitätsverzerrungsfeld des Theaters mit seinen Macht-, Verteilungs- und Statuskämpfen. Das Theater ist ein Ort, an dem Freiheit oft Thema und selten Praxis ist. Wenn es uns gelingt, für Momente all das hinter uns zu lassen oder zumindest zur Seite zu treten und uns frei auf einer Bühne zu bewegen, hat das schon etwas Utopisches. Um Nietzsche zu zitieren: "Frei ist, wer in Ketten tanzen kann." Wenn die drei Performer in "Extra Life" im gleißenden Licht des Schlussbildes in ihrer unerbittlichen Langsamkeit trotz aller traumatischen Erfahrungen tanzend beinahe abheben, erreichen sie für Augenblicke diese Utopie.
In "Die Hundekot-Attacke" verstand ich, dass es hier nicht allein um einen Diskurs über das Verhältnis von Kritik und Kunst und um Machtstrukturen geht, sondern um den Überlebenskampf einer Handvoll Künstlerinnen und Künstler. Um angesichts drohender Arbeitslosigkeit aufgrund des bevorstehenden Leitungswechsels am Theaterhaus Jena die Aufmerksamkeit der Kritik auf sich zu ziehen, machen sie einen Abend über Kritikerinnen und Kritiker. Nicht nur Schauspielerinnen und Schauspieler, alle Menschen lieben es, wenn über sie gesprochen wird, wenn sich jemand mit ihnen beschäftigt – die Rechnung ging auf, das Stück ist eine Erfolgsgeschichte, das Problem der Unsichtbarkeit in der sogenannten Provinz clever und charmant gelöst.
Wie Pina Bergemann und Leon Pfannenmüller in quälenden Wiederholungen aus Theater-Kritiken die für sie verletzendsten Sätze vorlesen, ist von herzzerreißender Komik und ich musste an eine meiner Lieblingsgeschichten über das Theater denken: Ein australischer Mythos erzählt von einem berghohen Frosch, der das Meer und alle Wasser der Welt verschluckt hatte. Die Fische und alle anderen Wassertiere zappelten auf dem Trockenen. Da fing ein Aal an, auf seiner Schwanzspitze zu balancieren und mit einer recht verzweifelten Würde vor dem Frosch auf und ab zu spazieren, bis dieser lachend zusammenbrach und das ganze Wasser wieder ausspuckte. Die Spieler*innen des Theaterhauses Jena sind die Kolleg*innen dieses Aales.
Es muss immer um etwas gehen, immer! Ganz gleich, ob es mit Leichtigkeit, mit Humor, mit großem Ernst, in Düsternis erzählt wird. Es muss etwas auf dem Spiel stehen.
Sein Spiel ist pure Gegenwart
Und jetzt zur Hauptsache. Auszeichnen möchte ich einen jungen Schauspieler, der mir in seiner präzisen Natürlichkeit auffiel, dessen Spiel etwas bestechend Selbstverständliches hat. Es ist Nikita Buldyrski aus "Die Hundekot-Attacke". Lange Zeit schauen wir ihm beim Zuhören zu. Und er kann zuhören. Er will nicht nur sich selbst Gehör verschaffen und lässt so kein Wort der anderen zu Boden fallen. Über weite Strecken liest er ab, aber nichts daran ist statisch, sein Blick ist klar und offen, man vergisst das Blatt in seiner Hand; in einer entspannten Konzentration und Präsenz bewahrt er sich eine innere Beweglichkeit in dieser deutlichen formalen Setzung.
Er sitzt da in einer kraftvollen Ruhe, aus der sich immer wieder starke emotionale Eruptionen ereignen. Spricht er, ist jeder Satz ein Treffer, Nikita braucht keinen Anlauf, kein Hineinfummeln in die Situation, er betritt sie mit großer Leichtigkeit, Direktheit und Entschlossenheit, er ist sofort zu 100 Prozent da, wie ein Licht, das man einschaltet. Ich hatte gleich Lust, auf die Bühne zu springen und mit ihm zu spielen. Sein Spiel ist pure Gegenwart. Es gibt keine Zeit mehr, nur Augenblick für Augenblick Buldyrski. In seinem Rap gegen Ende des Abends zeigt er sich ganz und gar, klagt an, teilt aus und ist dabei verletzbar und selbstbewusst zugleich. Nikita lässt uns in seine Wut schauen und agiert mit dieser verzweifelten Würde, bei der klar ist, dass es hier um etwas geht und nicht um nichts.
Ursina Lardi ist Ensemble-Mitglied an der Schaubühne, arbeitet regelmäßig mit Regisseur und Autor Thorsten Lensing und ist in Film und Fernsehen zu sehen.
Um an die große Tradition des Berliner Theaterlebens zuzuknüpfen und um Impulse für die zukünftige Entwicklung zu geben, stifteten Judith Kerr und Sir Michael Kerr 1991 im Andenken an ihren Vater Alfred Kerr, den großen Theaterkritiker, den Alfred-Kerr-Darstellerpreis, gemeinsam mit der Pressestiftung Tagesspiegel und den Berliner Festspielen.
alfred-kerr.de
meldungen >
- 04. Oktober 2024 Interimsintendanz für Volksbühne Berlin gefunden
- 04. Oktober 2024 Internationale Auszeichnung für die Komische Oper Berlin
- 04. Oktober 2024 Kulturschaffende fordern Erhalt von 3sat
- 04. Oktober 2024 Deutscher Filmregisseur in russischer Haft
- 01. Oktober 2024 Bundesverdienstorden für Lutz Seiler
- 01. Oktober 2024 Neuer Schauspieldirektor ab 2025/26 für Neustrelitz
- 30. September 2024 Erste Tanztriennale: Künstlerische Leitung steht fest
- 29. September 2024 Oberhausener Theaterpreis 2024