Abschluss-Gig mit Anschlusspotenzial

9. Mai 2024. Ab ins Getümmel! Die Zürcher Koproduktion lädt das Publikum ins begehbare Bühnenbild zu einer Tour de Force durch "Herr der Ringe". Spektakulär vergnügungsorientiert, kam's auch im hedonistischen Berlin gut an.

Von Elena Philipp

"Riesenhaft in Mittelerde" © Philip Frowein

9. Mai 2024. Selbstvorstellung rules. Nicht Der Eine Ring. Sam (Maximilian Reichert), Gefährte der Gefährten, gibt einen Gruß raus an alle Care-Arbeiter. Boromir (Felix Loycke), der Kampfkoloss, ist männlich bis in die Zahnwurzeln. Und Legolas spielt Vincent Basse, wohlgemerkt, weil der das tollste Haar von allen hat. 

Prozession von Spieler:innen und Publikum

Lässig etabliert das Ensemble von "Riesenhaft in Mittelerde™"– Spieler:innen von Theater Hora, Das Helmi und Schauspielhaus Zürich – die Situation. Tolkiens "Herr der Ringe", Epos der Epen. 1200 Seiten Fantasy in zwei Stunden. Auf geht's, in die Schlacht. Oder: ins Gedränge der begehbaren Inszenierung.

Von Station zu Station folgt den Held:innen das bald treue Berliner Publikum – Auserwählte, die an eine der begehrten Karten fürs Event gelangten und also Teil der Ring-Gemeinschaft werden. Mein Schatz! Von Bruchtal, wo der bürokratisch gesinnte Elbenherrscher Elrond (Lukas Vögler) zur Sitzung bittet, zieht die Prozession der Spieler:innen und der ihnen voraus- und hinterher eilenden Stage Hands und Techniker:innen ins Orktal. Dort laden die Spieler:innen in den schräg geschnitzten Schaumstoffmasken von Das Helmi zum Stammtisch der "Orkanisation", um über den Linguisten Tolkien zu flachsimpeln.

Bühnenfest statt Denkmaschine

Gandalf der Graue stürzt nach dem Kampf gegen Noha Badirs zähnefletschendes Balrog in eine Felsspalte der Minen von Moria – oder vielmehr geht Nikolai Gralak im selbstironisch-flapsigen Gestus der "Mittelerde"-Mannschaft von der raummittigen Tribüne ab. Boromir dagegen stirbt einen filmreifen Heldentod; von der Windmaschine flattert welkes Laub über die Abschiedsszene. Und in Mordor wirft der bereits vom Bösen korrumpierte Frodo (Stephan Stock) den Ring nicht in die auf den Leinwänden blubbernde Lava. Trotz der ermunternden Zurufe seiner Gefährten kann er einfach nicht loslassen. Bis Fabienne Villigers Gollum, statt texttreu ins Feuer zu stolpern, den Ring aka Gebäckkringel herzhaft zerbeißt und ebenso herzhaft lacht, während sich der Erzschurke Sauron (der Allround-Schurke Noha Badir) mit dem lustig auf einem Haarreif wippenden Auge des Bösen in einen Sessel aka die Vernichtung stürzt. 

Unendlicher Spaß ist das, für Fantasyfans wie Mythenmuffel. "Riesenhaft in Mittelerde", nur echt mit dem hochgestellten Trademark-Zeichen, ist ein Bühnenfest. Theater nicht als diskursfeste Denkmaschine, sondern als Verbundenheit stiftendes Vergnügen. "Gut mitgefeiert" habe das Publikum, lobt ein Hora-Mitglied bei der ellenlangen Abschiedszeremonie. Und dann kommt noch ein Werbeblock: Wie wär's mit einer Welttournee, liebe Veranstalter:innen?, fragt Nicolas Stemann höchstpersönlich. Falls wir es mitbekommen hätten: In Zürich ist in fünf Wochen Schluss mit der Intendanz – "letztendlich sind irgendwelche Leute, die nicht genug Ahnung hatten, eingeknickt vor ein paar rechtspopulistischen Krakeelern", erklärt der Gerade-Noch-Intendant. Ein Anschluss-Gig muss her für den nahbaren Impresario, der als behände improvisierender Musik-Elb mit Flechtfrisur an Klavier und Gitarre live für Rhythmus wie Stimmung sorgte. In Berlin gäbe es da ein Haus, das gute Erfahrungen gemacht hat mit kultig-hippen Anarcho-Truppen... oder? Dafür hat sich einer mit "Riesenhaft in Mittelerde" schon mal selbst vorgestellt. 

Mehr zum Thema:

Kommentare  
Riesenhaft in Mittelerde, TT 2024: Niedrigschwelligkeit
Bemerkenswert an diesem Fantasy-Spektakel waren seine Niedrigschwelligkeit und Inklusivität: Gab es beim Theatertreffen schon jemals ein so bunt gemischtes Publikum und einen Abend für die ganze Familie vom Opa bis zum Kleinkind?

Knapp zwei Stunden lang boten die Kooperationspartner Schauspielhaus Zürich/TheaterHora/Das Helmi eine sehr anarchische, oft auch alberne Show, die sich im Stil von Stemanns Weihnachtsmärchen diesmal durch die Motive der „Herr der Ringe“ von J.R.R. Tolkien pflügt. Drei Livekamera-Leute folgen den Spieler*innen auf Schritt und Tritt, die sich Gassen durch den Publikumspulk bahnen. Die Zuschauer*innen haben die Wahl, sich ins Gewusel zeu werfen oder das Geschehen aus sicherer Entfernung von den Stühlen der Seitenbühne aus zu verfolgen.

Songs und Spielszenen wechseln sich ab, garniert mit kleinen Seitenhieben gegen die Blockbuster-Verfilmungen der Tolkien-Saga und die erbitterte Kritik an Stemanns Intendanz, die zum vorzeitigen Aus führte. Dieses Ende seiner Amtszeit thematisierte Stemann auch in einer kleinen Zugabe: er betonte, dass das Theatertreffen-Gastspiel bereits die Dernière von „Riesenhaft in Mittelerde“ war, falls sich nicht Mäzene oder Festivals finden, die eine Fortsetzung jenseits des Schauspielhaus-Repertoires finanzieren. Diese müssten sich aber vermutlich schnell melden, da sich der Interims-Intendant Uli Khuon für die nächste Spielzeit ein so ambitioniertes Programm vorgenommen hat wie man es aus seiner Ära am DT Berlin. Gefühlt fast jede Woche will er eine Premiere stemmen. Da dürfte der Platz für abgespielte Bühnenbilder der Vorgänger schnell eng werden.

Vor dieser Zugabe gab es noch ein Mitmach-Event: die Hora-Spieler forderten alle Zuschauer auf, auch von der Seitenbühne ins Zentrum zu kommen und sich an einer Gute Laune-Abschieds-Choreographie zu beteiligen. Das passte zu einem merk- und denkwürdigen Event, das inhaltlich dünn blieb, den Performer*innen aber sichtlich Spaß machte.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2024/05/09/riesenhaft-in-mittelerde-schiffbau-zuerich-kritik/
Riesenhaft in Mittelerde, TT 2024: Eingeschränkte Erlebnisfreiheit
Das macht den Reiz des Abends aus: diese Spiellust, die durchaus aufs Publikum übergreift, aber erst in einer finalem Gruppenyogaübung ausgelebt werden kann. Bis dahin bleibt ihm wenig anderes, als sich an der Spiellust der Darstellenden zu erfreuen. Das Helmi hat allerlei grobe Masken und Puppengetier erschaffen, die dazu beitragen, dass hier nie tierischer Ernst herrscht, auch wenn es ums Ganze geht wie in Boromirs dekonstruierter Todesszene mit anschließender Kitsch-Coda oder im letzten Kampf der Ents, jener uralten Baumwesen, bei denen die Puppenmacher*innen von Das Helmi zeigen dürfen, wozu sie gestalterisch in der Lage wäre. Berührend dagegen gerät die in einer Melodram-Miniatur ausgebreitete Abschiedsszene der Eowyn gegenüber dem sterbenden Vater, die hier zu einer Art Abschied von sich selbst wird, ein kurzer Moment der Stille innerhalb dieser gut zwei spaßerfüllten Stunden.

Nein, trotz der kritischen Seitenblicke geht es hier nicht in erster Linie um ein Gegen-den-Strich-Bürsten einer durchaus in Reaktionäre schlitternden Erzählung, um eine kritische Auseinandersetzung oder gar ein Gegennarrativ. Es geht um ein spielerisches Ausprobieren von Figuren, Haltungen, Szenen, Theater- und filmischen Mitteln, um das Spiel um des Spiels Willen, ums Spaß haben. Ein Spiel, bei dem die behauptete Immersion oft Behauptung bleibt. Die Nebenflächen werden kaum genutzt, die Gelegenheit zu gleichzeitigen Seitenstregen, zur Möglichkeit des Eintauchens in Nebenhandlungen und ähnliches wird liegengelassen. Wo immersive Theaterkonzepte von Sigma über Rimini Protokoll bis Susanne Kennedy auch von der Aufhebung der zeitlichen Abfolge des traditionellen frontalen Theatererlebnisses hin zu einer Gleichzeitigkeit unterschiedlichen Geschehens und Erlebens und einer Aufsplitterung der räumlichen Einheit leben, ist der begehbare, vermeintlich immersive Raum hier oft nur Beiwerk, bleibt das Spiel chronologisch, einheitlich und zentralisiert, erschöpft sich die Erlebnisfreiheit der Zuschauenden auf ihre Perspektive im Raum. Und trotzdem macht das über weite Strecken durchaus Spaß, in seiner Selbstgenügsamkeit, der Lust am Spiel und an der Erfindung um ihrer Selbst willen, die das Fantasy-Genre eben auch ausmacht. Der unerfüllte Wunsch, den inszenatorischen Ansatz wie den kritischen Gestus, mit dem der Abend begann, ein bisschen weiter verfolgt zu sehen, nagt aber zumindest an diesem Rezensenten noch ein wenig.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2024/05/10/the-orcs-are-alright/
Kommentar schreiben