Woyzeck - Abullah Kenan Karaca gräbt am Münchner Volkstheater nach dem großen Gefühl in Büchners Dramenfragment
Von der Lust, die wehe tat
von Tim Slagman
München, 23. Oktober 2014. Die Liebe plätschert, das Verderben brummt. Keine Frage, Abdullah Kenan Karacas Inszenierung am Theater hat Sound: Der junge, in Oberammergau aufgewachsene Regisseur und sein Dramaturg David Heiligers holen aus dem Büchner'schen Dramensteinbruch die Brocken hervor, mit denen der Dichter zum Empfindsamen, ja vielleicht gar zum Romantiker machen zu wäre. Ihr Woyzeck am Münchner Volkstheater geht in den Bauch, bestenfalls ins Herz.
Wasserfall-Romantik
So idyllisch laut fließt der kleine Wasserfall über den winzigen Ausschnitt einer Klippenlandschaft, die Davy van Gerven im Bühnenhintergrund hat aufragen lassen, dass Sohel Altan G. und Magdalena Wiedenhofer Mikroports tragen müssen, damit Woyzeck und Marie einander hörbar ihre Liebe versichern können. Finger fahren da so langsam und sehnsüchtig in die Hand des geliebten Menschen, als fürchteten sie Stromstöße. Es sind Momente von unglaublicher Zärtlichkeit, geborgt aus "Leonce und Lena": "Mein ganzes Sein ist in diesem Augenblick."
Doch bald beginnt ein Basston zu wummern, der sich leise durch die Szenen bohrt und droht und mahnt, und wenn das nächste Mal das Wasser fließt, dann wird es zu spät sein für Marie. Und Karl, der Idiot, der bei Büchner dem Kind der beiden, das bei Abdullah Kenan Karaca noch nicht geboren ist, vielleicht ein Gebäck kaufen sollte, erzählt aus dem "Lenz": "Es war eine Lust, die ihm wehe tat."
Geliehene Leidenschaft
Dieser Woyzeck bekommt also die Leidenschaft und das Adrenalin aus den benachbarten Werken verliehen, vom Hierarchiekritiker Büchner bleibt hingegen wenig mehr als ein pflichtschuldiges Gerippe, das hochintensive Miniaturen von Erniedrigung und Qual katalysiert. Sohel Altan G. veranstaltet für Doktor und Hauptmann Klimmzüge an Ringen, er hängt auf Befehl kopfüber, dass ihm das Blut in den Kopf schießt und steht sofort darauf wieder stramm. Er leckt den Wein vom Boden, auf den der Hauptmann noch einmal gespuckt hat. Und als Woyzeck Marie von hinten umschlingt und mit eifersüchtigen Fragen löchert, da entwindet die Schuldige sich ihm, und Magdalena Wiedenhofer quetscht sich und ihre Tränen qualvoll frei, sie will weg und doch bleiben, sie will schweigen und muss doch sprechen: ein gezwungener Körper, eine geschundene Seele in einem schauspielerischen Glanzmoment.
Von diesen physischen Präsenzen lebt Karacas Inszenierung, die sich ansonsten auffällig bildschwach präsentiert. Van Gerwen hat die Schauspieler in sachte historisierendes Kostüm gesteckt, doch wozu der Aufwand, wenn Karaca weder von heute noch von damals erzählen will, sondern – anders als etwa jüngst Sebastian Hartmann am Deutschen Theater Berlin – ganz auf klassische, wenn man so will: überzeitliche, Identifikationsformeln von Mitgefühl und Mitleid setzt?
Paranoia und Perspektive
In einigen Augenblicken, die mehrere Szenen ineinander montieren, zeigt sich allerdings zumindest die Ahnung eines kräftigeren inszenatorischen Zugriffs: Während Woyzeck den Hauptmann rasiert und dabei von ihm gedemütigt wird, zwingt der Tambourmajor Marie den Geschlechtsverkehr auf und zieht sich danach demonstrativ vor dem längst Böses ahnenden Soldaten den Hosenstall zu. Und während dieser Geck Marie an einem der beiden Tische im Bühnenvordergrund zuschwätzen will, knipst Woyzeck vom anderen mit einer Schreibtischlampe dessen Sermon aus und an. So ließe sich eine Geschichte von Paranoia und Perspektive aus dem Dramenfragment herausschälen, das Dilemma von einem, den die Erbsendiät irre gemacht hat und der nur noch sieht, was er sehen will.
Woyzeck
von Georg Büchner
Regie: Abdullah Kenan Karaca, Bühne und Kostüme: Davy van Gerven, Musik: Sohel Altan G., Licht: Günther E. Weiss, Dramaturgie: David Heiligers.
Mit: Sohel Altan G., Magdalena Wiedenhofer, Mehmet Sözer, Jakob Gessner, Silas Breiding, Pascal Fligg, Lenja Schultze, Okan Cömert.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause
www.muenchner-volkstheater.de
Kritikenrundschau
"Es sind starke Bilder, die Abdullah Kenan Karaca gleich zu Beginn seiner 'Woyzeck'-Inszenierung am Volkstheater findet", urteilt Michael Schleicher im Münchner Merkur (online am 25.10.2014). Der junge, 1989 in Garmisch-Partenkirchen geborene Regisseur habe für das Fragment "ein kluges Raumkonzept"entwickelt. Allerdings versteht der Rezensent einiges in der Ausbuchstabierung nicht ganz, befindet am Ende aber insgesamt wohlwollend über die spielerische Ebene: Möge Titeldarsteller Sohel Altan G. auch in manchen Szenen zu gesund erscheinen ("ohne dass die Regie mit seiner Virilität viel anzufangen wüsste"), beeindrucke er doch durch facettenreiches Spiel – "gerade in stummen Szenen, ohne große Interaktion". Um seinen Hauptdarsteller habe Karaca ein "bis in die kleinen Rollen spannendes Ensemble" gruppiert.
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Aber dann ist es mal ein Zögling von Christian Stückl, und plötzlich rennen alle Kritiker hinein und es gibt Vorabbericht und der Deutschlandfunk ist da und Nachtkritik und wer weiß was.
Würde gerne mal verstehen, warum das einem völlig Unbekannten am Münchner Volkstheater mit einem Woyzeck gelingt und vielen anderen nicht. Den Kritikern zufolge kann es ja an der künstlerischen Qualität nicht liegen. Um nicht missverstanden zu werden: ich gönne es A K K, und ich freue mich über eine möglichst breite Theater-Berichterstattung in Medien. Aber gerecht ist es nicht.