Die Maßnahme/ Mauser - Castorf inszeniert Brecht/ Eisler/ Müller, Meg Stuart choreographiert dazu
Du bist nichts, die Idee ist alles
von Esther Slevogt
Berlin, 19. März 2008. Nein, mit dem Ausbeuter mag der junge Genossse nicht essen! Nicht mit diesem Ausbeuter, der dazu noch seine Arbeiter schlecht ernährt. Da hilft auch nicht, dass es eigentlich sein revolutionärer Auftrag war, den Ausbeuter zu bewegen, seine Arbeiter gegen fremde Besatzer zu bewaffnen. Er will einfach nicht.
Und dann kommen sie, die berüchtigten Chorpassagen von Bertolt Brechts und Hanns Eislers Lehrstück "Die Maßnahme", die danach fragen, ob nicht der Zweck jedes Mittel heiligt. Ob man sich den Luxus privater Moral leisten darf, wenn es um dringend fällige Weltveränderung geht, ob Mitgefühl nicht Sand im Getriebe der Revolution ist. Erst leise, beinahe sehnsuchtsvoll, flehend. Dann in immer drängenderem, vorwurfsvollem und am Ende fordernden Crescendo: Dass man zwecks Weltverbesserung gefälligst sogar den Schlächter höchstpersönlich zu umarmen habe.
Welche Revolution, welche Mittel, welcher Zweck?
In der Volksbühne am Rosa-Luxemburg Platz hat nun Frank Castorf pünktlich zu Ostern dieses umstrittene stalinistische Passionsspiel von 1929 über einen jungen Genossen, der am Ende seiner eigenen Hinrichtung zustimmen muss, wieder ausgegraben und zusammen mit Heiner Müllers 1970 entstandener Variation des Stoffes, "Mauser", zu einem Abend verschweißt, an dem choreografierend auch Meg Stuart mitgewirkt hat. Während bei Brecht der Genosse seine finale revolutionäre Lektion willig lernt und seinem Tod zustimmt, in den ihn die Genossen dann fast zärtlich begleiten, klammert er sich bei Müller in unrevolutionärem Hedonismus ans eigene jämmerliche Leben und wird einfach abgeknallt.
Derlei revolutionäre Disziplin hat, wir wissen es heute, der Welt wenig gebracht. Obwohl die Logik der Parteidisziplin immer noch zwingend ist: Du bist nichts, die Idee ist alles. Zumal diese Form der Parteidisziplin den neoliberalen Spielarten des Kapitalismus ähnlicher ist, als ihren Vordenkern wohl je bewusst gewesen sein dürfte. Jedes moderne Assessment-Center fordert im Mitarbeitertraining kompromisslose Unterwerfung unter das Firmenziel. Längst gibt es diese Form der Entindividualisierung auch als Showformat – mit Casting-Jury statt Parteikontrollkommission. Es gäbe also Anhaltspunkte genug, den Stoff einer Revision zu unterziehen.
Ewige Baustelle
In der Volksbühne hat der junge brasilianische Künstler Thiago Bortolozzo ein riesiges Holzgerüst quer über die Bühne gebaut, das hinten links ins Nichts ansteigt: Baustelle der Weltrevolution mit Ausgang ins Nirwana. Vorn fällt bedrohlich tief der Orchestergraben ab, in dem veritable Musiker sitzen. Der Dirigent wird per Video auf den Bühnenhorizont projiziert, so dass er überlebensgroß den gemischten Chor sozusagen ferngesteuert leiten kann. Dieser erhebt sich alsbald aus den hinteren Parkettreihen des Zuschauerraums und trägt in alter Frische die mitreißenden Eisler-Melodien vor, dieses agitatorisch-suggestive Gemisch aus barockem Oratorium und Agit-Prop.
Gewandet sind die Damen und Herren höchst unvolksbühnenhaft in spießige Chor-Abendgardrobe aus Samt und Jackett, was wohl als volksbühnenspezifischer V-Effekt gewertet werden muss: Seht, auch diese berüchtigten Lieder sind inzwischen im Kulturkanon angekommen. Oder im Liedgut des Bürgertums. Ansonsten turnt ein lässiges Revolutionärsquintett (Hermann Beyer, Sebastian König, Christoph Letkowski, Trystan Pütter und Jeanette Spassova) uns in dreieinhalb pausenlosen Stunden auf dem Gerüst noch mal das gute alte Lehrstück "Die Maßnahme" vor, und zwar wider Erwarten beinahe gänzlich unzertrümmert vom Blatt gespielt. Die alten Meister sind der Volksbühne eben doch noch was wert!
Chorgarderobe, Glitzerkleidchen, Militärjacken
Äußerlich sind die Spieler eher an der revolutionären Ästhetik der 60er Jahre orientiert: Militärjacken und Stiefel, Che Guevara oder die RAF lassen grüßen. Bloß Jeanette Spassova wechselt ihre Glitzerkleidchen immer schneller, je weiter der Abend voranschreitet. Aber diese Fußnote zum Glamourfaktor der Revolution sagt ja nichts wirklich Neues. Wie auch sonst der Abend leider kaum mit sachdienlichen Hinweisen zu Stoff und Thematik aufwartet. Der Chor, der weniger mit agitatorischer Schärfe als mit Inbrunst operiert, weshalb seine mitreißende Kraft leider recht bald aufgebraucht ist, beginnt irgendwann zu wandern – vom Zuschauerraum auf die Bühne – hier lassen dann Ulrich Rasches Chorprojekte grüßen, dessen Chorleiter Marcus Crome diesmal den "Volksbühnenchor" geleitet hat.
Und als dann die "Maßnahme" mit den Volksbühnen-üblichen Videoprojektionen kleinerer Szenen in gebotenem Respekt gespielt, der Genosse wie vorgesehen seinem Ende zugestimmt und der Chor diese Entscheidung gebilligt hat, kommt Heiner Müller dran. Mit einem kurzen Ausflug in dessen "Mauser" hatte der Abend bereits begonnen und durch ein paar flapsig-genial montierte Dialoge den abtrünnigen, irrenden und todgeweihten Genossen mit der Figur Heiner Müller selbst überblendet. "Oftmals tat er das richtige/Zuletzt das Falsche" heißt es zum Beispiel, und ein Schelm, wer dabei an Müllers Stasi-Mitarbeit denken musste.
Am Ende Rückzug mit Akkordeon an den Gartentisch
Aber das war nur ein kleines assoziatives Highlight am Anfang, das nicht hielt, was es an Auseinandersetzung mit dem Material versprach. Stattdessen baute Meg Stuart dann verdruckste Revolutionsromantik als Choreografieeinlagen ein: zur rockig-depressiven Bassläufen (Paul Lemp) zuckten autistische Revolutionäre ohne rechten inhaltlichen oder gar ästhetischen Kontext. Überhaupt traten die verschiedenen künstlerischen Mittel des Abends selten wirklich miteinander in Beziehung. Einig waren sie sich höchstens in einer nicht weiter reflektierten Sehnsucht nach jenen Zeiten, als revolutionäres Pathos so ungebrochen noch möglich war. Ein Pathos, dem der Abend am Ende auch seinen frenetischen Beifall verdankte. Die alten Lieder funktionieren eben immer noch.
Doch vorher wird der Genosse erschossen. Hermann Beyer bleibt einen Moment stehen. Dann sackt er zusammen. Die restlichen Revolutionäre ziehen sich an den Gartentisch aus Plastik zurück, wo sie vorher schon immer mal wieder saßen. Einer klimpert sentimental auf dem Akkordeon, und man singt leise einen alten Rolling-Stones-Hit vor sich hin: "You can’t always get what you want". Bloß, was wollte man eigentlich?
Die Maßnahme/Mauser
von Brecht/Eisler/Müller
Regie: Frank Castorf, Choreografie "Mauser": Meg Stuart, Bühne: Thiago Bortolozzo, Kostüme: Arianne Vitale, Musikalische Leitung: Marcus Crome, Musik Mauser: Paul Lemp. Mit: Hermann Beyer, Sebastian König, Christoph Letkowski, Trystan Püttner, Jeanette Spassova, Andreas Barth, Frank Bauszus, Winnie Böwe, Anna Kratky und dem Volksbühnen-Chor.
www.volksbuehne-berlin.de
Kritikenrundschau
"Der Lehrwert tendiert gegen Null", fasst Dirk Pilz noch einmal in der Frankfurter Rundschau (26.3.2008) zusammen. Am Anfang gibt es "Verfremdung auf Castorfisch, das ist durchaus sinnvoll." Dann aber würde eine Spielweise folgen, "die mit psychologischen Beglaubigungsverfahren flirtet", folgen Szenen, "die nichts als harmlose Illustration und billiges Bebildern wollen." Brecht-Müller werd im "Einfühlungssumpf" versenkt. "Kaum zu glauben. Man kann es aber vor allem hören." Die vielfachen Verweise in Eislers Musik auf Bachs "Matthäuspassion", die Trauereinschübe und Protestzwischentöne, "es ist alles zu wabernder Gefühligkeit vermanscht." Dem Gesamtkonzept der Inszenierung werde damit der Boden entrissen. "Müller kommentiert Brecht, Brecht selbst seinen 'Jasager', Eisler die Alte Musik. Ein Geflecht, das mit den Tanz-Szenen noch vielschichtiger zu werden versprach. Die Bühnenwirklichkeit ist allerdings Beziehungslosigkeit."
Die Frage, was uns eine "Maßnahme" und ein "Mauser" anno 2008 in der Volksbühne noch sagen sollen, habe Frank Castorf mit seiner Inszenierung nicht beantworten können, befindet Christine Wahl im Berliner Tagesspiegel (22.3.2008). Dabei könne man Castorf im vorliegenden Fall noch nicht mal vorwerfen, "lediglich schal seine alten Mittel zu reanimieren". Vielmehr lasse er die beiden Texte "dekonstruktions- und einwurfsunwillig vom Blatt spielen, nacheinander; bei unzynischer Grundhaltung". Trotzdem verweist jede Aktion dieses Abends aus Sicht der Kritikerin immer nur auf die Auftaktinformation, in der Heiner Müllers Diktum zitiert worden sei: "Mir fällt zum Lehrstück nichts mehr ein". Dies sei als Haltung zwar nachvollziehbar, aber keinesfalls abendfüllend. Auch Meg Stuarts "choreografische Todesarteneinlagen" wirken auf Wahl so beliebig, dass ihr "gleich zwanzig Stoffe einfallen, für die sie umgehend recycelbar wären".
Frank Castorf habe das Martyrium des jungen Genossen "wie ein gehorsamer Messdiener" inszeniert, schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (22.3.2008) Die Schauspieler widmeten sich wohlgelaunt und kontrolliert Wort, Schrei und Tat. Der großartige Volksbühnen-Chor sowie das 13-köpfige Orchester unter der Leitung von Marcus Crome "feiern die lecker-sündige Musik von Eisler". So kann das Passionsspiel für Seidler zunächst seine unheilvolle Wirkung entfalten. Doch weil es Castorf nicht wage, Brechts Stück in seiner "tragischen Ambivalenz ohne kritischen Kommentar stehen zu lassen", nutze er Müllers Mauser, es zu dekonstruieren. Und Heiner Müller, der Lehrstück und Revolution "frech lästerte", werde, vom einstigen Müller-Protagonisten Hermann Beyer gespielt, "selbst vor das Tribunal der zuletzt kichernden, bürgerlichen Nachwelt gezerrt." Dies helfe dem Abend diskursiv aber ebensowenig weiter, wie Meg Stuarts dekorative "Terrorismus-Choreografien", die den Abend für Seidler vollends zur Geduldsprobe machen.
Frank Castorf habe Brechts "Maßnahme" als erstaunlich ironiefreies Singspiel, inszeniert, konstatiert Eva Behrendt in der taz (22.3.2008) "Aus dem Orchestergraben schallert das Eisler-Orchester", auf dem Holzgerüst auf der Bühne turnten die Schauspieler als trashiges Propagandatrüppchen herum. Der Einzige, der diese zwei Stunden währende Erbauungsübung kommentieren dürfe, sei Heiner Müller. "Die christliche Endzeit der MASSNAHME ist abgelaufen", zitiert Hermann Beyer aus einem Müller-Brief von 1977, "der Molotowcocktail ist das letzte bürgerliche Bildungserlebnis. Was bleibt: einsame Texte, die auf Geschichte warten." So wartet später auch Heiner mit seinen Jüngern auf weißen Plastegartenmöbeln, und immer wenn er doch eine Kriegsgeschichte aus "Mauser" erzählt, zischen die Jungen genervt: "Mensch, Heiner!" Doch dann platze in diese ratlose Langeweile plötzlich Meg Stuart und zeigt mit ein paar Handgriffen, wie man "Mauser" doch noch inszenieren kann. Aus Sprache sieht Behrendt Bewegung, aus Gewalt Tanz werden. Für fünfzehn Minuten ist die Geschichte einer schrecklichen Ambivalenz für sie tatsächlich spürbar. Dann verliere sich auch Stuart ins Illustrative.
"Dieser Abend ist ein Selbstmordattentat", kanzelt in der Süddeutschen Zeitung (22.3.2008) Peter Laudenbach den Abend in einer Vierzig-Zeilen-Glosse ab. Frank Castorf habe mit Brechts "Die Maßnahme" und Müllers "Mauser" "zwei linksradikal-nostalgische Stücke" inszeniert, "Passionsspiele, die den revolutionären Terror" feiern würden. "Die Hinrichtung nicht linientreuer Genossen wird als religiöse Opferszene überhöht, das Blutbad als erlösende Reinigung verkitscht." Castorf führe ausgiebig vor, dass ihm zum ideologischen Giftmüll dieser menschenverachtenden Texte nichts einfalle. Die "eher gezappelten als geformten Tanzszenen", die die Choreografin Meg Stuart zu dem Desaster beigesteuert habe, machen es für ihn auch nicht besser. "Heiner Müllers Theater des Todes schrumpft zu einem Theater der tödlichen Langeweile, von Brechts Lehrstück bleibt nur Leerlauf übrig."
Dank Eislers "farbig glorifizierender, mal fugierender, mal süffig à la Kurt Weill auftrumpfender Komposition, die das tief in den Graben versenkte Orchester unter Marcus Crome mit Pep, Pfiff und Pauken bewältigt" und der Leistung des Chores, bekommt "Die Maßnahme" für Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeine Zeitung (22.3.2008) "zumindest halbwegs Form und Konsequenz". Ansonsten bescheinigt sie dem Abend, der aus ihrer Sicht harmlos dahin tröpfelt und auf jede kritische Rück- oder Vorschau, auf jede Haltung zum Geschehen oder erkennbare Interpretation völlig verzichtet, "diskursive Monotonie" und Belanglosigkeit. Lediglich die "emotionale Körperlichkeit" von Meg Stuarts Choreografien wirkt auf sie "wie Wasser in der Regie-Wüste". Wobei die Schauspieler Irene Bazinger insgesamt "weder in dem, was sie tun, noch in dem, was sie sagen", überzeugen können, sondern eher den Eindruck machen, "als hätte sich ihnen Handlung und Text nicht komplett erschlossen".
Frank Castorf schüttele die verschiedensten Elemente der beiden Stücke durcheinander, "ohne zu fragen, ob das Gros der Zuschauer die Thematik der Stücke und ihre Relativierung durch die Regie überhaupt verstehen und nachvollziehen kann", kritisiert Peter Hans Göpfert in der Berliner Morgenpost (22.3.2008) die Inszenierung. "Die Frage nach dem aktuellen Wozu und Warum bleibt ohnehin unbeantwortet."
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Im übrigen schliesse ich mich Herrn Bayer an.
Einfach unglaubliche 3 Stunden Zeitverschwendung.
Ich bin sehr enttäuscht.
Wen hat Castorf eigentlich zum Schluss beim Applaus so scheußlich nieder gedrückt beim Verbeugen!!!!????
Leider letztendlich nur ärgerlich - Ein Tiefpunkt der Volksbühne!
Durch die Tatsache, dass einige Zuschauer - darunter auch ich - auf der Hinterbühne sitzen, eröffnet sich eine interessante Perspektive. Im Grunde entspricht das dem von Brecht geforderten Lehrstück-Theater ohne Publikum bzw. hier zwar immer noch mit Publikum, aber ohne klar abgegrenzte räumliche Trennung und unter Offenlegung der Produktionsmittel des Theaters. So beobachtet man die gegenwärtige Verfertigung des Theaters - durch die rollenwechselnden bzw. -erprobenden SchauspielerInnen, durch die Bühnenarbeiter und -techniker, durch die Souffleuse sowie durch eine Assistentin, welche den Chor mit Handzeichen auf die und von der Hinterbühne geleitet usw. - in Bezugnahme auf einen historischen Stoff, für welchen die Zeit längst nicht mehr reif oder möglicherweise wieder reif ist. Das steht hier auf dem Spiel.
Zunächst, während des prozesshaften Durchspielens der "Maßnahme", überwiegt die positive Zustimmung, was vor allem durch das Orchester inklusive des Chors der werktätigen Volksbühne zustande kommt. Die Forderung der "Maßnahme" nach der (kommunistischen) Veränderung der Welt, denn sie braucht es, erscheint einem, aus dem Munde der vier jungen Schauspieler (Sebastian König, Trystan Pütter, Christoph Letkowski und Jeanette Spassova) gesprochen, ein wenig sperrig und fremd. Zumal die jungen Leute auf der Straße, wohin sich die Inszenierung kurzzeitig verlagert, auch nichts anderes tun als Party zu machen. Doch über die Musik und den (Sprech-)Gesang des Chors entsteht eine ungeheure gefühlsmäßige Kraft, welche die vergangene kommunistische Utopie zumindest in der Vorstellung wieder auferstehen lässt, vermischt mit einem Grundgefühl der Melancholie bezüglich der Tatsache, dass diese revolutionbäre Kraft so momentan wohl nur im Theaterraum existiert - oder hochaktuell im arabischen Raum, weniger bzw. nicht (mehr) jedenfalls in der westlichen Welt.
Mit dem zweiten Teil, mit Heiner Müllers "Mauser", beginnt der negative Abfall, denn hier fehlt jedes revolutionäre Pathos bzw. jede Bewegung. Vorher wollten die Jungen noch die Wände bzw. die Rampe hoch, jetzt sitzen sie alle um den Küchentisch bzw. hängen wie faule Affen im Gestänge der Bühnenaufbauten aus Holz rum. Meg Stuart ist gleich ganz weggeblieben. Und Hermann Beyer als Heiner Müller (oder Castorfs Alter-Ego?) sitzt in der Runde seiner anarchistisch gestimmten Söhne bzw. Genossen und weigert sich zu töten und die Konsequenz dieser Weigerung zu tragen, seinen eigenen Tod anzunehmen. Sein Leben gehört ihm. Er will nicht sterben, er will die konkrete (erotische) Sinnlichkeit, nicht mehr den abstrakten Sinn der Ideologie. Interessant sind die dazu eingespielten Videobilder eines alten, propagandistischen russischen Revolutionsfilms o.ä. Darin begegnet uns der Held der Revolution, welcher ohne die (wassertragenden) Frauen, welche im übrigen auch die Drecksarbeit des Tötens der Dissidenten übernehmen, nichts wäre und welcher am Ende einsam und allein am Strand entlangwandert, während ihm ein kleiner Junge entgegenläuft. Die alte (stalinistische) Revolutionsgarde hat ausgedient, sie ist müde und milde geworden. Jetzt sind die Jungen bzw. jungen Testosteronaffen dran, welche die (sexuelle) Potenz besitzen, die Verhältnisse umzustürzen. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Alles offen. "You can't always get what you want / And if you try sometime you find / You get what you need".
Was Sie, auf Ihrem weißen Plastikstühlchen sitzend, für einen russischen Propagandafilm gehalten haben, ist die Verfilmung von Scholochows Roman „Der Stille Don“ aus den 50er Jahren. Passt eigentlich gut zur Maßnahme. Ich habe diesmal die bequemere Variante der Perspektive von vorn gewählt, die Rückseite kannte ich schon. Aber auch diesmal stellt sich schnell eine gewisse Müdigkeit ein, wie auch bei den aufopferungsvoll kämpfenden Protagonisten. Das Beste ist tatsächlich noch der Chor. Die Ironisierung der Maßnahme gelingt Castorf nur bedingt. Mauser wird zum SDS-Seminar mit anschließendem Finalen Schuss. Bevor Sie ihre Hausarbeit abgeben, sehen Sie sich noch im Doppelpack den Jasager/Neinsager und das Lehrstück von Castorf an. Hier wird der Widerspruch in Brechts Lehrstücktexten deutlicher. Und auf jeden Fall für die Cracks zu empfehlen im 3. Stock „Die Mutter“ von Silvia Rieger, eine zu unrecht hier als langweilig abgetane Brechtinterpretation.
Auch ich habe die Inszenierung vor rund drei Jahren von der Hinterbühne verfolgt. Jetzt müsste ich also abermals hingehen und die Vorderseite wählen, um mit Ihnen auf einem Level zu bleiben. Damit könnte ich das Spektrum meiner Wahrnehmungen erweitern und das Erlebe in einem Maße vertiefen, dass ein unauslöschlicher Eindruck haften bleibt.
Als Erinnerung bleibt mir vor allem der Chor, der tatsächlich beeindruckend war und damals in mir nachklang. Sie sehen, Stefan, wenn wir uns manchmal auch nicht einigen können – manchmal gibt es wenigstens einen Chor, der als Schnittmenge des ästhetischen Behagens fungieren kann.
Ansonsten spielte noch Frau Spassova mit dicht pulsierender Intensität, trotz permanenter Textwiederholungen, ähnlich wie die Figuren bei „Kokain“. Eigentlich wollte ich ja dieses Doppelt-Sehen von Inszenierungen abstellen.
http://www.zeit.de/2003/10/groys
Ach so, Scholochow ist demnach also ein Produkt russischer Werbestrategien im Stile von Coca Cola für den Kommunismus. Das würde ja gut in die Plagiatsgeschichte um den Stillen Don und Scholochows gesamtes Werk passen. Ein von Stalin kreierter Schriftsteller bekommt den Literaturnobelpreis. Mann, das ist ja total peinlich. Der Film von Sergei Gerassimow ist übrigens erst nach dem Tod von Stalin entstanden und mit Sicherheit kein Werbefilm für den Kommunismus. Sie haben vielleicht auch die Exekutionsszene im Filmausschnitt falsch gedeutet, dort wird ein gefangener Rotgardisten von einer Kosakenfrau erschossen, deren Familie vorher im Bürgerkrieg umgekommen ist. Lesen Sie bitte erst mal den Stillen Don, bevor Sie mit der Stalin-Keule kommen. Und dann vergleichen Sie den Roman mit einem tatsächlichem Werk des Sozialistischen Realismus, nämlich Ostrowskis „Wie der Stahl gehärtet wurde“. Da wird Ihnen wahrscheinlich ein kleiner Unterschied zwischen dem Kosaken Grigori Melechow und dem immer in „Reih und Glied“ stehenden Pawel Kortschagin auffallen. Also, Walk the Line, Johnny.
Was mich an diesem Film irritierte, war der Held auf dem Pferd und neben ihm diese Frau, welche schwere Wasserlasten trug. Der Held der Traumfabrik Kommunismus lässt arbeiten und macht sich selbst die Hände nicht schmutzig? Nietzsche fiel übrigens einmal einem Pferd (einer geschundenen Stute/Frau?) schluchzend um den Hals, soviel zur assoziativen Information.
Und wenn meine Erinnerung stimmt, war diese wassertragende Frau dieselbe, welche dann diesen jungen Mann erschießt. Unabhängig vom Inhalt und ob man den Film nun kennt oder nicht, meines Erachtens zeigt er, wie am eigenen Leib erfahrene Machtverhältnisse weitergegeben und damit perpetuiert werden. Was folgende Frage aufwirft: Wird das Erschießen eine "bessere" Tat, wenn man einen Menschen aus dem Affekt der Rache (am Mann) heraus erschießt? Und steht dieses "hündische Verhalten" bzw. dieses mechanische Töten ohne Ich-Bewusstsein nicht im Gegensatz zu beispielsweise folgenden Text-Passagen aus Müllers "Mauser"?:
"Ich wußte, wenn man in einen Menschen hineinschießt / Fließt Blut aus ihm wie aus allen Tieren / Wenig unterscheidet die Toten und / Nicht lang das wenige. Aber der Mensch ist kein Tier" oder:
"Und ich hörte meine Stimme sagen / An diesem Morgen / TOD DEN FEINDEN DER REVOLUTION und ich sah / Ihn der ich war töten ein Etwas aus Fleisch Blut / Und andrer Materie nicht fragend nach Schuld oder Unschuld / Nach dem Namen nicht und ob es ein Feind war / Oder kein Feind, und es bewegte sich nicht mehr / Aber er der ich war hörte nicht auf es zu töten."
Anders gesagt bzw. wie ich es verstanden habe: Im Film wird der Tod als Tragödie verklärt. Über das Sprechen des Müller-Textes dagegen wird der Tod als Funktion des Lebens, welches als Produktion gesehen wird, kritisch hinterfragt. Was für einen Sinn hat das Töten? Hat es einen Sinn? Geht das Töten nicht auch nach der Revolution immer weiter? Zitat Müller:
"Wird das Töten aufhören, wenn die Revolution / gesiegt hat. / Wird die Revolution siegen. Wie lange noch."
Der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel hat gestern übrigens in einem Interview mit der Berliner Zeitung zur Lage in Ägypten gesagt, dass das Volk bei der Demokratisierung eines Landes eine eher untergeordnete Rolle spielt und Demokratien vor allen Dingen von Eliten begründet werden. Auf diese Demokratie kann man sich in Ägypten schon freuen, siehe Irak, siehe Afghanistan.
Wesentlich ist hier dann wohl auch und vor allem die Frage, auf wessen Kosten Revolutionen verlaufen - meistens wohl auf Kosten der einfachen Bevölkerung bzw. der Bauern, Frauen, Kinder, Alten und Schwachen usw. Die männlichen (Gegen-)Revolutionäre im besten Alter und auf hohem Posten/Pferd (egal ob nun weiss oder rot oder blau - kleiner Scherz) nehmen die umfassende Befreiung des Volkes offenbar nicht mehr ganz so genau, sobald sie erst einmal an der Macht sind. Oder: Das Volk kann ja warten. Der Terror der Revolution - und das ist der Ausgangspunkt sowohl von Brechts "Maßnahme" als auch von Müllers "Mauser" - geht also oftmals auf Kosten derer, welche man ursprünglich befreien wollte. Diesen Zweifel findet man allerdings nur bei Müller:
"Wozu das töten und wozu das Sterben / Wenn der Preis der Revolution die Revolution ist / Die zu Befreienden der Preis der Freiheit."
Die aktuelle politische Lage im arabischen Raum lässt sich hier tatsächlich sehr gut anschließen, zum Beispiel im Hinblick auf die folgenden Äußerungen von Tunesiens Premier Mohamed Ghanouchi: "Die Zeit arbeitet gegen die Revolution" (Quelle: SZ). Gleichwohl, es besteht die Hoffnung, dass ein Wandel in Richtung Demokratie erfolget, inklusive der Achtung der Menschenrechte, der Rechte der Frauen, der Religionsfreiheit usw.
Ach, übrigens, ganz anderer Kontext, ganz andere Frage. Lässt sich die Thematik der "Maßnahme" nicht vielleicht an den Volksentscheid über die Offenlegung der Teilprivatisierungsvorgänge bei den Berliner Wasserbetrieben anschließen? Oder: Wir sagen JA zur Revolutionierung der Welt, denn sie braucht es. Mit freundlichen Grüßen an die SPD.
Das mit dem Zweifel ist richtig, den finden Sie an diesem Abend nur bei Müller, deswegen habe ich ja auch auf die anderen Lehrstückinszenierungen an der Volksbühne verwiesen.
Übrigens ist für mich nicht mehr die Frage, ob eine Revolution noch möglich ist und wofür oder für wen man sie machen sollte, sondern eher die Frage, warum es in Deutschland nie eine wirkliche Revolution gegeben hat. Lesen Sie mal Oskar Negt: „Warum die Deutschen keine ‚Marseillaise’ haben“, Thema Restauration, ein sehr aktuelles gerade wieder. Nicht umsonst läßt Castorf die Protagonisten in Jacken der 60er und 70er Jahre mit Revolutionssymbolen auftreten. die 68er haben ihr revolutionäres Potential in endlosen Debatten zerredet und der Staat hat den daraus entstandenen Terror der RAF mit Gegenterror beantwortet. Das Ergebnis war eine Restauration der Verhältnisse und der Gang der Grünen in die Parlamente. 1989 ist ein weiteres Beispiel für eine nicht stattgefundene Revolution von unten.
Ihr Thema ist zum Schluss die Basisdemokratie, z.B. Offenlegung der Verträge mit den Wasserbetrieben durch den Senat. Da müssen wir wieder hinkommen, dass ein Nachdenken über eine revolutionäre Situation in Deutschland wieder möglich ist.
Klar, irgendwann wanderten große Teile der 68er-Bewegung in die Parlamente, aber was ist jetzt eigentlich so schlimm daran? Mit Anarchie allein können Sie ein Land nicht regieren. Auch die direkte Demokratie ist nicht immer das Gelbe vom Ei, denn hier fehlt wohl allzu oft die umfassende Aufklärung bzw. Information jeden Bürgers mit Blick auf das Ganze. Das repräsentative System ist meines Erachtens immer noch das Beste, um den allzu oft nur diffusen und richtungslosen Protest der sogenannten "Wutbürger" (ob nun von unten oder oben) in demokratische Bahnen zu lenken. Um zu verdeutlichen, was ich meine, schließe ich mit einem Zitat von Slavoj Zizek zu Rosa Luxemburg:
"Wenn Rosa Luxemburg schreibt, daß Diktatur in der ART DER VERWENDUNG der Demokratie bestehe und nicht in ihrer ABSCHAFFUNG, geht es ihr nicht darum, daß Demokratie eine leere Hülse ist, die von verschiedenen politischen Akteuren benutzt werden kann (auch Hitler kam durch - mehr oder weniger - freie, demokratische Wahlen an die Macht), sondern darum, daß in diesen leeren (verfahrensmäßigen) Rahmen ein 'Klassenvorurteil' eingeschrieben ist."
Was Sie richtig aufführen, waren revolutionäre Versuche und Oskar Negt leugnet das auch gar nicht. Er spricht aber eher von der restaurativen Rolle des Bürgertums in der deutschen Geschichte. Er geht dabei sogar bis zu Luther und den Bauernkriegen zurück oder zu den Stürmern und Drängern Goethe und Schiller. 1968 ist noch mal ein anderes Thema, da dort die Proteste nicht vom Proletariat ausgingen, sondern aus der Studentenbewegung kamen. Diese Versuche das gesellschaftliche System zu ändern sind nicht zuletzt an der Unentschiedenheit des intellektuellen Bürgertums und vor allem der Rolle der Sozialdemokratie gescheitert. Sie zitieren ganz richtig Slavoj Zizek zu Rosa Luxemburg und der repräsentativen Demokratie in deren „Rahmen ein 'Klassenvorurteil' eingeschrieben ist." Sie sind ebenso in diesem Widerspruch verfangen, in dem Sie einerseits proletarische Revolutionsversuche beschreiben, andererseits aber die wie Negt sagt „bürgerlich-repräsentative Demokratie“ bevorzugen und somit wichtige bürgerliche Rechte in die Hand staatlicher Gewalt (starker Saat) delegieren und indirekt somit auch deren mögliche Beschneidung akzeptieren. Es geht nicht um Anarchie und Wutbürger, sondern die Angst des Bürgertums in der Geschichte Deutschlands vor revolutionären Umwälzungen, die zugegebener Maßnahmen auch immer ihre Existent bedroht haben. Müller und Castorf stehen da also ganz in der bürgerlichen Tradition.
Das Bürgertum hat sich in Deutschland nie als eigene Klasse richtig entfalten können, hing immer zwischen Proletariat und preußischer Blut und Eisen Politik fest. Die Weimarer Republik ist auch mit dadurch gescheitert. Es wurde immer auf eine Revolution von oben gesetzt, um einer Umwälzung von unten entgegen zu wirken siehe 1918, oder das vermeintlich kleinere Übel gewählt, siehe 1933. Andere Völker wie die Franzosen und Italiener sind da viel entspannter im Umgang mit den Themen Bürger-Protest (Empört Euch!), Revolution oder auch mit dem Reizthema Kommunismus. Das ist etwas, was den Deutschen völlig ab geht, leider. Ruhe und Ordnung ist und bleibt erste Bürgerpflicht.
Negt zitiert in seinem Aufsatz dann noch mal Karl Marx: „Ja, die deutsche Geschichte schmeichelt sich einer Bewegung, welche ihr kein Volk am historischen Himmel weder vorgemacht hat noch nachmachen wird. Wir haben nämlich die Restaurationen der modernen Völker geteilt, ohne ihre Revolutionen zu teilen. Wir wurden restauriert, erstens, weil andere Völker eine Revolution wagten, und zweitens, weil andere Völker eine Konterrevolution litten, das eine Mal, weil unsere Herren Furcht hatten, und das andere Mal, weil unsere Herren keine Furcht hatten.“
Den ganzen Text können Sie hier lesen: http://media.de.indymedia.org/media/2007/08//192489.pdf)
"Eine neue emanzipatorische Politik wird nicht mehr an einen einzelnen sozialen Akteur geknüpft sein, sondern muß von einer möglichst unkalkulierbaren Mischung verschiedener Akteure getragen werden. Uns vereint, daß wir im Gegensatz zu den Proletariern von einst, die 'nichts zu verlieren haben als ihre Ketten', Gefahr laufen, ALLES zu verlieren. Die Gefahr ist, daß wir auf abstrakte, leere cartesianische Subjekte ohne jeden Substanzgehalt reduziert werden, daß wir unserer symbolischen Substanz beraubt werden, daß unsere genetische Basis manipuliert wird und wir in einer lebensabweisenden Umwelt dahinvegetieren müssen. Diese dreifache Bedrohung unseres gesamten Seins macht uns gewissermaßen alle zu Proletariern, die auf eine 'substanzlose Subjektivität' reduziert sind, wie Marx in den GRUNDRISSEN schreibt. Die Figur des 'Anteils der Anteillosen' konfrontiert uns mit der Wahrheit unserer eigenen Position, und die ethisch-politische Herausfordrung besteht darin, uns selbst in dieser Figur zu erkennen - wir sind sozusagen alle ausgeschlossen, von der Natur ebenso wie von unserer symbolischen Substanz."
der geht doch ständig weiter, nur anders als früher, denn die allgemeine Unzufriedenheit ist groß und wird nicht weniger, und kann sehr gut zur Gitarre art(i)-kuliert werden.
Gemeinsam? -
ja, man braucht doch sein Publikum!
"Brauchen wir nicht tatsächlich wieder zwar totalitäre, dafür doch aber auch sinnstiftende Strukturen? Die sogenannte westliche, liberale Lebensform, das wissen wir doch alle, ist ein Paradoxon, das Resultat einer kontroversen Entwicklung. Neuzeit, Aufklärung und Revolution, im Sinne von Individualismus, Freiheit und Menschenrechten gibt es nicht, wird es nicht geben, kann es auch gar nicht geben."
Echt? Nee nee nee, immer diese Verherrlichung der Vergangenheit! Ich plädiere für eine realistische und heutige Sicht auf die Dinge. Also vielleicht rote, nicht aber schwarze Fahnen. Die KPdSU ist passé. Und vor allem, nicht rumbrüllen, sondern das Singen nicht vergessen (wie in der "Maßnahme")! Es geht um das Zusammenklingen der Stimmen/Seelen in der Gemeinschaft des Kollektivs, nicht im Gegeneinander innerhalb des Kollektivs (wie im Falle der Perversion der stalinistischen Säuberungen).
Na, war Ihnen die Figur des Countrybarden zu langweilig?
Schwerter zu Pflugscharen soll das also gewesen sein? Ich glaube da muss ich Sie wieder enttäuschen. Es handelt sich, wenn ich das richtig in Erinnerung habe, um die bekannte Skulptur des Arbeiters und der Kolchosbäuerin mit Hammer und Sichel. Sie steht in Moskau und ist von der Bildhauerin Wera Ignatjewna Muchina, einer Vertreterin des sozialistischen Realismus Stalinscher Prägung. Sie ist auch das Symbol von Mosfilm, womit wir wieder bei der Maßnahme und dem Film „Der Stille Don“ wären. Castorf scheint diese Art Symbolik zu beeindrucken, als Ossi ist man ja mit so etwas groß geworden. Es würde auch besser zu Castorfs Inszenierung der Drei Schwestern passen. Einen Kontext zu Schwertern zu Pflugscharen sehe ich da nicht. Aber ich kann mich auch irren.
In der Maßnahme geht es um die Erziehung, die Einsicht eigene Bedürfnisse und Ansichten hinter die einer Sache, hier die der Revolution, zu stellen. Es ist heute sicher schwer nachzuvollziehen, was damit gemeint ist. Aktuell ist das wieder in den Zeiten des Vietnamkrieges und der Radikalisierung der 68er geworden. Mao, Fidel Castro und Che Guevara sind damals die Leitfiguren gewesen. Ich habe heute den Film „Wer wenn nicht wir“ von Andres Veiel auf der Berlinale gesehen. Gudrun Ensslin ist so eine Figur, die aus Ablehnung gegen die Werte der Vätergeneration heraus, zu der Einsicht gelangt, das man etwas tun muss. Aus der Erkenntnis, dass die Bundesrepublik mit ihrer angeblich freiheitlichen demokratischen Grundordnung die Geschichte des Nationalsozialismus nicht wirklich aufarbeitet und das im Bewusstsein der Menschen nicht ankommt, stellt sie sich gegen ihre bürgerliche Familie und radikalisiert sich, um den Massen ein Beispiel zu geben. Man muss das in gewisser Weise auch psychologisch sehen. Der Druck für intellektuelle Leute wie Ensslin, Meinhoff und auch Vesper war so groß, das es nur zwei Möglichkeiten für sie gab, entweder zerbrechen wie Vesper oder der Weg in den Terror wie die RAF. Ein dazwischen gibt es für sie nicht, entweder dafür sein oder dagegen. Das ist auch der Widerspruch in der Maßnahme, der nicht gelöst werden kann. Radikale Forderungen lassen sich in einer Demokratie nicht so schnell umsetzten. Deshalb steigen die Protagonisten der RAF aus und bilden eine in ihren Strukturen klar hierarchisch und diktatorisch durchorganisierte Organisation. Sie sind damit aber wieder im System der Väter angekommen. Ich glaube, das will Veiel mit seinem Film ausdrücken, leider pathologisiert er damit auch die gesamte 68er-Bewegung. Bei Castorf ist das sicher ähnlich, der bildungsbürgerliche Humanismus mit seiner Aufklärung, lässt sich schwer mit den herrschenden Tatsachen in Einklang bringen. Aber die Geschichte hat keine passende Lösung parat, es bleibt ein ewiges Suchen nach der Wahrheit, wenn es Ihnen mit Singen besser geht, dann tun Sie es ruhig, es ist zumindest nicht verkehrt.
Auf was auch immer sich die freeze-Haltung der "Bauern"-Darsteller in den "Drei Schwestern" nun beziehen soll, augenscheinlich wird daran folgendes deutlich, auch im Hinblick auf die Inszenierung der "Maßnahme/Mauser": Castorf ist selbst in Widersprüche verwickelt. Ist er nun auf der Seite des sogenannten "Lumpenproletariats" bzw. solidarisiert er sich mit dem "Anteil der Anteillosen"? Oder verfährt er nach dem Motto: Und ist der Genosse und/oder die Geliebte der Partei nicht willig, dann gebrauch ich Gewalt? Ist er jetzt Anarchist oder Stalinist (bekanntlich hängt in seinem Intendantenzimmer ein Plakat von Stalin)? Oder ist er in seinen alten Tagen nichts (mehr) von beidem, sondern nur noch hedonistischer Nihilist à la Heiner Müller?
In Bezug auf Andres Veiels "Wer, wenn nicht wir", kann ich nur auf die Episode mit der Katze verweisen. Hier zeigt sich, dass der Terror der RAF-Mitglieder die Strukturen ihrer Nazi-Eltern im (psychoanalytischen) Wiederholungszwang wiederholt. Im Fall von Bernward Vesper wird das dadurch symbolisiert, dass sein Vater dessen Katze erschießt, weil Katzen "die Juden unter den Tieren" seien. Nach ebendiesem Muster verläuft die ideologische Kritik der RAF am "kapitalistischen Schweinesystem", und zwar indem diese Kritik mit der Ermordung von Stellvertretern dieses Systems verwechselt wird. Tragischerweise bleibt die RAF damit tatsächlich in den faschistoiden "Erziehungs"-Strukturen ihrer Eltern stecken, anstatt den verhängnisvollen Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt zu durchbrechen.
Aha, also doch alles nur pathologische Fälle. Machen Sie es sich da nicht etwas zu einfach? Man würde wahrscheinlich heute noch am Gehirn von Ulrike Meinhof herumexperimentieren, wenn dem Spuk nicht irgendwann ein Ende gemacht worden wäre. Ist ja auch bequemer alles neurologisch erklären zu können. Heutzutage braucht es keine Gehirnoperationen mehr, der Bürger ist auch so zur Genüge ruhig gestellt. Machen Sie sich mal ein paar mehr Gedanken und beten Sie nicht reflexartig nach, was so alles zur RAF geschrieben wurde. Ich glaube sie unterliegen da auch einem gewissen Wiederholungszwang.
Aber das offensichtliche oder verborgene Gegeneinander wird es in der Gemeinschaft von Menschen voraussichtlich noch sehr lange geben.
Warum?
Der Mensch ist gemeine Marmelade (Sartre).
Das hat er doch sehr einfach und richtig festgestellt.
Wir sind miteinander und gegeneinander immer auch zugleich.
Nach Heidegger ist der Mensch wesentlich "Ent-wurf".
Es muss ja nicht gleich der "ideale Mensch" sein den man entwirft -
aber wer von uns möchte nicht ein wenig über die "gemeine Marmelade" sich-hinaus-ent-werfen
Und da wären wir wieder einerseits bei der Frage der "Maßnahme": "Was ist eigentlich ein Mensch?" Oder andererseits bei der Setzung in "Mauser": "Ich bin ein Mensch. Der Mensch ist keine Maschine. / Töten und töten, der gleiche nach jedem Tod / Konnte ich nicht. Gebt mir den Schlaf der Maschine."