Die Gefahr von Nebenan

8. Mai 2024. Innere Zustände von Menschen in berauschende Theaterbilder und Alptraumlandschafen zu übersetzen ist ein Markenzeichen der östereichisch-französischen Theatermacherin Gisèle Vienne. "Extra Life" kam vergangenes Jahr bei der Ruhrtriennale heraus und lief jetzt beim Theatertreffen.

Von Georg Kasch

"Extra Life" von Gisèlle Vienne © Katrin Ribbe/Ruhrtriennale

8. Mai 2024. Die Menge gestern im Hans-Otto-Theater unterschied sich deutlich vom Potsdamer Stammpublikum: Berliner Theater- und Tanzleute sowie Hardcore-Theatertreffen-Fans. So richtig aber konnte Gisèle Viennes "Extra Life" hier nicht landen: reservierter bis freundlicher Applaus, ein paar Juchzer, ein Buh.

Was war geschehen? Vienne zeigt auf karger, aber atmosphärischer Bühne – Auto, Campingstuhl, Kühlbox, auf dem Boden dramatisch ausgeleuchtete Steinchen, drüber Nebel – zwei Geschwister, die sexuelle Gewalt durch ihren Großvater erlebt haben. Offenbar kommen Klara und Felix von einer Party und beginnen sich nun zu öffnen.

Wort- und bewegungslose Zwischenräume

Im Autoradio geht’s um die Bedrohung durch Außerirdische (aber natürlich lauert die Gefahr nebenan, in der Familie), in den Gesprächen neben Banalitäten um seelische Wunden. Plötzlich taucht eine weitere junge Frau auf, entpuppt sich in Kostüm und Frisur als Klaras Doppelgängerin oder Abspaltung. Sie alle bewegen sich tastend, oft wie in Zeitlupe.

ExtraLife 2 KatrinRibbe Ruhrtriennale2023 uDie Geschwister Klara und Felix: Theo Livesey und Adèle Haenel © Katrin Ribbe | Ruhrtriennale

Dazu wechselt die Musik zwischen Synthie-Pop, Minimal Music und Suspense, orgelt das Licht immer neue Räume herbei. Toll sieht das aus, wie eine Installation von Olafur Eliasson oder eine dieser Berliner Partys, an die man sich hinterher nur noch undeutlich erinnert. Allerdings ziehen sich die wort-, oft auch bewegungslosen Zwischenräume schon sehr.

Dunkelheit als Raum

So lässt einen das kaum Sag- oder Zeigbare über weite Strecken kalt, trotz starker Effekte wie das sich allmählich verzerrende Gesicht von Felix‘ Puppe, Abbild der zerstörten Kindheit. Viele im Publikum wollen nicht mal die Preisverleihung abwarten, nur wenige bleiben zum Nachgespräch. Dort spricht Psychoanalytikerin Mai Wegener in ihrem Impuls von der "Dunkelheit als Raum, in dem die Berührung beginnt" und sagt auch sonst Erhellendes. Vienne fragt: "Wie kann man durch Kunst andere Arten von Sprachen lernen, die uns anders erlauben zu sprechen?" Auch von Komposition ist die Rede, von Film, technischen Aspekten. Von (Be-)Rührung spricht sie nicht.

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Kommentare  
Shortie Extra Life, TT 2024: Peripherie
Die performative Stückentwicklung bleibt bewusst rätselhaft, als das Duo aussteigt und die Kino-Starschauspielerin Adèle Haenel hinzukommt, bewegen sie sich demonstrativ nur in Zeitlupe. Im Hochparkett macht sich Unruhe breit, im Parkett gähnten viele Lücken, obwohl die Vorstellung offiziell ausverkauft war.

Die 10er Auswahl des Theatertreffens wagt sich hier in Grenzbereiche vor: ästhetisch lassen die entschleunigte Spielweise und die langen gleichförmig vor sich hinplätschernden Textpassagen viele im Publikum kalt, auch räumlich ist der Abend in der Peripherie des Festivals. Das Hans Otto Theater liegt so weit am Rand der brandenburgischen Landeshauptstadt, in der das Leben an diesem Feiertags-Vorabend sowieso nicht brodelt, dass sich das Publikum schon um 21.30 Uhr mit überfüllt vor sich hinschaukelnden Nachtbussen nach Wannsee durchschlagen muss. Dort fährt aber auch nur im 20 Minuten-Takt die nächste S-Bahn ins Berliner Zentrum. Ein Festival-Shuttle wäre deshalb eine sehr gute Idee gewesen!

Der Abend verharrt so sehr in einem hermetischen Abwehrmodus und ähnelt stilistisch schwächeren Freie Szene-Arbeiten, so dass er vom Theatertreffen-Publikum nur verhalten aufgenommen wurde. Auch der tänzerische Abschluss des Trios überzeugt nicht.

Bemerkenswert ist eine Lichtdesign-Sequenz, die Yves Godin etwa im Mittelteil des Abends gestaltet. „Extra Life“ löst sich hier von seinem eigenwilligen Zwitterzustand aus unterspannter, textlastiger Performance mit Nebelmaschine und Anklängen an Tanz und wandelt sich zu einer eindrucksvollen Installation bildender Kunst, unterlegt vom Sounddesign von Adrien Michel. Diese kurze Passage lohnt den Besuch tatsächlich.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2024/05/09/extra-life-performance-kritik/
Extra Life, Theatertreffen 2024: Musik gesucht
Kann mir jemand sagen, welcher Song/Track ca. Mitte des Stücks plötzlich laut eingespielt wurde, nachdem es hieß
- ich liebe den Song-?

So ein Techno/Elektro-Track.

Merci!
Extra Life, Theatertreffen 2024: Inklusion?
@2: Daran bin ich ebenso interessiert!!

By the way: Diese überragende, wahrlich kühne Arbeit war gleichwohl leider mit einer mittlerweile um sich greifenden Unsitte versehen; dass nämlich einige englischsprachige Sprechpassagen *nicht* deutsch übertitelt wurden, während das ansonsten der Fall war. Nun könnte man einwenden, dass das Passagen sind, die in einem multilingualen Framework auch an anderen Spielorten und/oder aus künstlerischen Gründen unübertitelt blieben. Aber mir fällt auf, dass das häufiger geschieht, in der Annahme, dass jede/r Bühnenenglisch hörverstehen könne; während gleichwohl das geflissentliche Englischübertiteln mehr und mehr zum Standard wird; und oft genug sind dafür künstlerische Gründe nicht ersichtlich, sondern schlichtweg Schluderei oder Blindheit. (Freilich gibt es Ausnahmen mit französischer, türkischer, polnischer, russischer, etc. Übertitelung.) Mein einziger Wunsch: Wennschondennschon. #inklusion
Extra Life, Theatertreffen 2024: Übertitelung
Die wirklich nicht gelungene, oft verkürzende Übertitelung (auch der französischen Passagen) ist mir bereits beim Wiener Gastspiel der Produktion aufgefallen... hat den Abend leider noch verrätselter und zerdehnter wirken lassen, als er eh schon im Großen und Ganzen ist.
Extra Life, Theatertreffen 2024: Teil-Improvisation
Ich ging davon aus, dass die verkürzten Übertitel mit einer Teil-Improvisation der Texte zu tun haben bzw. mit Variablen in der Reihenfolge, möglichen Auslassungen etc. die von Abend zu Abend unterschiedlich sein können.
Extra Life, Theatertreffen 2024: Mehr Interesse bitte
Gisèle Vienne ist seit vielen Jahren eine wesentliche Künstlerin zwischen Theater, Tanz und Performance. Sie hatte eine große, gefeierte Werkschau beim Festival d'automne in Paris. Leider wurde sie nicht vor wenigen Jahren mit ihrem überragenden Abend "L'etang" eingeladen, sondern mit Extra Life. Das ist ein guter, nicht ihr stärkster Abend. Aber ich finde schon erstaunlich, mit welchem Selbstbewusstsein Viele, auch Rezensent*innen, das Theatertreffen als Nabel der Theaterwelt begreifen und dann lässt sich aus ihren Zeilen schließen, dass sie echt noch nichts von Gisèle Vienne gesehen haben über die Jahre. Es interessiert offenbar auch nicht, wer das ist, was für eine Theaterarbeit das ist, dass da eine Schauspielerin mitwirkt, die ein Star in Frankreich ist. Ich finde da so wenig Neugier, so wenig über den Tellerrand blicken, das wird als irgendwie etwas fremde Ästhetik wahrgenommen, kennen wir nicht, langweilig, wenden wir uns wieder den Leuten zu, wo wir uns auskennen - keine Haltung, in der man Theater begegnen sollte. Niemand muss dieses Theater mögen, aber erst Interesse, dann beurteilen, fände ich das Mindeste.
Extra Life, Theatertreffen 2024: PS
Leider gibt es hier keine Presseschau dazu: ich meinte die mehrheitliche Resonanz in der Presse und Kommentaren zu Extra Life beim Theatertreffen, nicht nur das, was hier auf nk steht
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