Presseschau vom 16. März 2015 – In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erhebt Hans Ulrich Gumbrecht den Sport zur zentralen Form des Schauspiels in unserer Gegenwart

Wir sind ein Körper!

16. März 2015. In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 15. März 2015 demontiert der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht "die gängige Unterstellung, dass 'Theater' eine überzeitliche Form ästhetischer Erfahrung sei".

Der Ursprung unseres Theaters als kultureller Form liege im frühen siebzehnten Jahrhundert, und es sei deshalb kein Zufall, dass einigen Autoren aus jener Zeit, "Shakespeare vor allem, aber auch Lope de Vega oder Corneille", bis heute ein herausgehobener Klassikerstatus zukomme. "Die grundsätzliche Erneuerung, für die sie stehen, war die Verbindung der Schauspielerkörper als Zeichen mit den Charakteren als komplexen Begriffen, wie sie seither die als entscheidend angesehene 'Tiefe' der Theatererfahrung ausmachen sollen."

In den Charakterbegriffen habe eine damals neue Modalität des menschlichen Selbstverständnisses "als rein geistiger Außenbeobachter der Dingwelt" ihre Gestalt gefunden. Seit dem Ende der Aufklärung habe sich dieses menschliche Selbstbild mit einer heraufkommenden Form der Zeit verbunden, "in der wir annehmen, beständig Vergangenheit hinter uns zu lassen und uns zugleich auf eine Zukunft als offenen Horizont von Möglichkeiten zuzubewegen".

Jene historische Zeit und das zu ihr gehörende Selbstbild der Menschen seien nicht mehr der dominante Rahmen unseres Alltags heute. Vergangenheit überschwemme ("nicht zuletzt aufgrund elektronischer Erinnerungsmöglichkeiten") unsere Gegenwart, statt hinter ihr zurückzubleiben. "Zwischen jener Zukunft und dieser Vergangenheit verbreitert sich die Gegenwart zu einer Zone der in Gleichzeitigkeit bewahrten Möglichkeiten, wo die körperliche Komponente unserer Existenz wieder an Intensität gewinnt."

Das große westliche Theater überlebe diese Schwelle der Gegenwart "in den immer neuen (und vielleicht sogar tatsächlich immer interessanteren) Neuinszenierungen der Klassiker, die weiterhin vom Bewusstsein der historischen Zeit geprägt sind". Möglich sei das, weil zur Logik jener anderen, neuen Zeitlichkeit der "breiten Gegenwart" die Unmöglichkeit gehöre, irgendeinen Teil der Vergangenheit hinter uns zu lassen und zu eliminieren, "schon gar nicht die historische Zeit als dominanten Zeitrahmen der Vergangenheit".

Als die heute zentrale Form des Schauspiels (im wörtlichen Sinn) aber (…) müsse der Sport gelten. Im Gegensatz zum klassischen Theaterpublikum sähen Sportzuschauer die Körper der Athleten "gewiss nicht unter der Perspektive einer sich entwickelnden Bedeutung. Ebenso wenig erlebten sie sich selbst als interpretierende Individuen, sondern, in ihrer Mehrheit zumindest, als einen kollektiven Körper, der die Körper der Sportler (unter einer anderen Funktion und Rolle) einschließt", so Gumbrecht: "Teil eines kollektiven Körpers im konkreten Sinn zu werden, eines Körpers, den erst die Dramatik des Wettkampfs zu eigenem Leben erweckt, macht die Attraktivität des Stadions und deutlicher noch des Public Viewings aus."

Nicht wenige Intendanten, Regisseure und Schauspieler hätten "solche Modalitäten neuer Zuschauerpartizipation" als Herausforderung aufgenommen. "Schon die seit einem halben Jahrhundert anhaltenden Versuche, Inszenierungen des Regietheaters in Räume außerhalb der Theatergebäude zu verlegen (…)", seien "Symptome dieser Tendenz. Sie konvergieren mit vielfältigen Versuchen, historische Formen körperbetonten Schauspielens – von der 'Commedia dell’arte' des sechzehnten Jahrhunderts bis zu surrealistischen Gesten aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert – neu zu aktivieren." Doch bisher seien solche Experimente "wohl meist zu hochkulturell geblieben, zu sehr beherrscht von den guten Absichten der Provokation und Aktualität".

(sd)

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