Presseschau vom 6. Dezember 2016 – die Welt berichtet über einen Abend mit Chris Dercon in der Berliner belgischen Botschaft
Diagnose Identitätssucht
Diagnose Identitätssucht
6. Dezember 2016. "Ich weiß nicht, ob ich Berlin noch helfen kann. Willkommenskultur jedenfalls ist etwas anderes", hat der designierte Intendant der Volksbühne Berlin Chris Dercon bei einem Abend in der belgischen Botschaft in Berlin gesagt, berichtet Swantje Karich in der Welt.
Auch sonst habe Dercon verunsichert gewirkt, als er "ohne Not, ohne Gegner" Zeugnis seiner bisherigen Arbeit ablegte und versuchte nach vorne zu blicken, Karich zufolge mit "neuer Nachdenklichkeit", gepaart mit "einem angriffslustigen Humor, der die Fassungslosigkeit in den Hintergrund drängen soll, sie aber umso stärker betont".
"Think global and fuck local"
Die deutsche Theaterszene sei "regressiv", die Kunst "nicht innovativ", von seinem "erweiterten Kulturbegriff" aus gesehen, so Dercon dem Zeitungsbericht nach. Provokation finde er konservativ, altbacken. Es gehe darum, etwas Neues zu erfinden.
Allerdings scheine das in Berlin schwierig: "Es gibt viele Geheimagenten, Verleumdungen, Feindschaften, Fehden." Berlin habe noch viel Arbeit, sich selbst wiederzuentdecken. Er müsse sich jeden Tag wieder davon überzeugen, "dass es sich wirklich lohnt, hierzubleiben und zu kämpfen".
Es gebe gewisse Theaterkritiker und Theatermacher, "die in Deutschland nur deutsches Theater machen wollen für deutsche Städte und deutsche Kultur". Für ihn aber sei ganz wichtig: "Think global and fuck local". Belgien, seine Heimat, habe den Surrealismus entwickelt, "weil wir in einem völlig schizophrenen, vielsprachigen Land leben müssen". Ihm habe diese Schizophrenie gutgetan. "Ich bin nicht identitätssüchtig, wie so viele Theatermacher in Deutschland."
(sd)
Mehr lesen:
Christian Rakow zum "Berliner Kulturkampf" (Dercon oder doch nicht Dercon?) – Kommentar vom 25. November 2016
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#1 Hat er nur "geschossen" oder auch was vom Programm konkret gucken lassen?
Chris Dercon sieht es ganz richtig, mir und einer Reihe Anderer tut „Schizophrenie“ nicht gut, vielleicht, weil es bei uns deutsche Schizophrenie wäre und nicht belgische. Wir als Nachkriegsgeneration sind froh, dass wir - insbesondere seit 1990 – wieder so etwas wie eine optimistische deutsche Identität entwickelt haben. Für mich ist der Kern der „guten“ deutschen Identität ihre Kultur, sei es in der Musik oder in der Sprache. Und eben so, wie sie Frank Castorf - als Vermächtnisverwalter von Autoren und Regisseuren wie Heiner Müller - in Szene setzt, wo die schizophrenogene, die „zerrissene Lebenspraxis“, wo der Wahnsinn der deutschen Vergangenheit stets untergründig mitwirkt. Ja, und ich setze mich dafür ein, dass die VOLKSBÜHNE ein deutsches Theater bleibt, wo vor allem deutsch gesprochen wird, ein „Bayreuth des Sprechtheaters“. Deutsche Kultur - aber für jeden, der sie mag!
Patrice Chereau hat vor 40 Jahren den Jahrhundertring in Bayreuth inszeniert, in deutscher Sprache und als Auseinandersetzung mit deutscher Identität. Für mich passt diese Inszenierung nicht in Kategorien wie „regressiv“ oder „innovativ“, für mich ist sie zeitlos. Dennoch, wenn man auf YouTube in den trübe ausgeleuchteten Jahrhundertring und die wie angestaubt wirkenden Kulissen schaut, weiß man, dass man so was heute anders machen muss.
Der jetzigen VOLKSBÜHNE Deutschtümelei und Kokettieren mit den Identitären vorzuwerfen ist grotesk. Sie hat – gerade in der Auseinandersetzung mit unserer deutschen „Schizophrenie“ - eine gut konturierte, eine „gute“ Identität entwickelt, die Kontinuität verdient, keinen „kulturellen Missbrauch“.
Berlin ist groß, wenn Chris Dercon etwas ganz Neues machen will, gibt es genug Freiräume, zum Beispiel bald das Schillertheater. Ich bin auch gerne bereit hinzugehen, um zu sehen, ob uns das wirklich weiter bringt, was er zeigen will.
Diese Entscheidung sorgt für großen Unmut bei griechischen Theatermachern... Prodromos Tsinikoris, künstlerischer Leiter der Experimentierbühne des Nationaltheaters Athen, kritisiert, dass es nicht angehen kann, in einem Land, dessen ökonomische Basis so zerstört ist, Theatergruppen vor Ort auszuschließen, die sonst keinerlei Chance auf Zuschüsse hätten. Und auf Deutschlandradio kritisiert ein griechischer Schauspieler: "Natürlich ist es für uns beunruhigend, wenn Fabre kommt und in diesem in der Krise steckenden Griechenland das Thema Belgien macht. Warum?" (nk, 1.4.2016)
Ich kann ja verstehen, daß so ein Start frustrierend ist, aber m.E. geht in Berlin (im übrigen wie in London) nur Vollgas, nach vorne blicken. 'Fuck local'? Ja dann aber mal los!
Ich freue mich ja auf neue Impulse (und nach wie vor über einen Wechsel an der VB...), aber aus der Aussensicht ein so vernichtendes Urteil über die gesamte Kulturszene der Stadt abzugeben, ohne selber hier schon irgendwas gerisssen zu haben... unfassbar. Und unfassbar larmoyant.
Das gesamte deutsche Theaterszene ist regressiv, nicht innovativ? Das ist doch ein Riesenquark! Und selbst wenn es so wäre: wo ist denn das große Programm dagegen, und wo sind die cojones sich jetzt mal hinzustellen und zu sagen: yes, I can? Nö... "Ich bin Belgier, und wo ist die Willkommenskultur?" Oh Mann.
Ist meine Rede seit leipzig/einundleipzig. Er hat die Worte gar nicht.
Wofür er Worte hat, fürs Berlin-Bashing. Und da wird alles in den Staub getreten. Hat er denn diesen Pressesprecher noch, der ihm vielleicht mal erklären könnte, wieso er so schlechte Presse bekommt?
3.BITTE, lieber FPS, sagen Sie uns, warum! Sie dürfen das, Sie sind nicht Brecht, der uns immer zum Selberdenken zwingen wollte unter ALLEN Umständen -
(Die hämisch anmutenden Punkte 1 und 2 wurden gelöscht. Der Kommentar zum Wunschzettel aus selbigem Grund. Mit freundlichen Grüßen, Christian Rakow / Redaktion)
Ich hab die Welt am Sonntag übrigens schon länger nicht gelesen,weiß auch nicht genau warum sie das so interessiert.
Dercon selbst ist doch auch nicht offen. Er will ein Theater kapern. Er hält Berlin für provinziell und die deutschen Theater für regressiv. Bei expressivem Geschreie (in der Volksbühne wird viel geschrien) muss er nach eigenem Bekunden zum Dermatologen.
Werter Herr Dercon, das sehe ich ganz genauso. Leider beruht ihre Berufung genau auf dieser NICHTOFFENHEIT des Visiers. Oder wie erklären Sie sich, dass Sie zusammen mit Tim Renner am 30.12.2014 an der 100-Jahr-Feier des Hauses händeschüttelnd teilnehmen und wenige Wochen später im Handstreich Tim Renner Sie zum designierten Intendanten ernennt? Ist das ein offenes Visier?
Mein lieber Herr Gesangsverein, aber an dem Dilemma tragen Sie doch Mitverantwortung, neben Herrn Renner. Das wäre doch einmal anzuerkennen: Der Handstreich und das Beharren, das Nichthineinhören, das Rücksichtslose dieses "radikalen Neuanfangs" (O-Ton Tim Renner) SIND doch die Wurzel dieser Misere. Nicht die Reaktion darauf. Können Sie das nicht anerkennen? Was wäre falsch daran, zu sagen: Das ist nicht gut gelaufen, das müssen wir anders hinbekommen? Die Zeichen waren und sind doch unübersehbar.
Demut wäre: Sagen, dass es falsch gelaufen ist und das Verfahren neu geordnet aufgerollt werden muss. (Vorschläge dazu gibt es genug: siehe dazu meine älteren Beiträge, beispielsweise vom Juli 2016.)
Dankeschön. Sie haben vollkommen Recht.
http://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=13053:presseschau-vom-2-oktober-2016-luk-perceval-kehrt-deutschem-stadttheater-enttaeuscht-den-ruecken&catid=242:presseschau&Itemid=62
Herr Dercon kann sich gerne z.B. mit einem Menschen anderer Hautfarbe über die Entwicklungsmöglichkeiten in der flämischen Kultur unterhalten. Berlin z.B. vergibt aktiv Fördermittel an ausländische Künstler, in Flandern ist das theoretisch zwar möglich, in der Praxis aber gegen Null.
Eine kurze Nebenfrage: welche Gemeinschaft stellt denn seit Jahrzehnten den belgischen Botschafter?
Über den Absatz mit dem "Geheimagenten, Fehden" etc musste ich wirklich lachen: Filz gibt es hüben wie drüben. Zu kritischem Denken gehört doch, daß man nicht nur wahrnimmt was anwesend ist, sondern auch das, was fehlt.
Im Grund handelt es sich um demselben Vorgang wie bei Renner mit seiner öffentlich gewordenen Rundmail nach der Wahl, mit der er sich selbst endgültig ins Aus befördert hat.
Jetzt fehlt nur noch der obligatorische Pro-Dercon-Aufschrei von Schaper im "Tagesspiegel". Warum hält er sich denn diesmal so vornehm zurück? Ist doch sonst nicht seine Art.
Dercon ist kein Untermensch. Die Volksbühne ist kein Ort für Volksbühnen-Identitäre.
Das gilt auch für die Herren Pollesch, Fritsch, Castorf, Hegemann, und wer sonst noch sich gerade so kleinkariert bis peinlich aufführt.
Falls euer Theater so toll ist, wird es sich auch woanders behaupten.
Mit euren Vorverurteilungen macht ihr euch nur selber klein.
Und mitverantwortlich, falls es anfangs in der neuen Volksbühne nicht rundläuft. Aber das scheint euch ja das wichtigste derzeit.
Macht einfach Theater. Auf der Bühne. Punkt.
Und mit seiner Wehleidigkeit kommt er auch kein Stück weiter.
Egal.
Nicht reden, machen ist jetzt das Thema. Klaus Lederer hat jetzt die Fäden in der Hand. Und wenn Unterschriften etwas bringen, dann bitte hier:
https://www.change.org/p/gegen-die-abwicklung-der-strukturen-und-kapazitäten-der-volksbühne-am-rosa-luxemburg-platz?recruiter=563398943&utm_source=share_petition&utm_medium=email&utm_campaign=share_email_responsive
Und weiter geben. Danke.
Was immer auch ein deutsches Theater ist, an dem nur deutsch gesprochen wird, Herr Günther, die Volksbühne ist es nicht. Oder ist Maurice Maeterlinck, dessen Stück „Pelléas et Mélisande“ ich vor einiger Zeit dort auf der großen Bühne sah, doch kein Belgier? Hat er uns etwa seine deutsche Mutter verheimlicht?! Und trug der Abend nicht opernhafte Züge mit Anklängen an das Tanztheater? Ist Dostojewski etwa doch kein bedeutender russischer Autor? Sondern in Wahrheit Deutscher?! Und mag Hebbel auch deutsches Urgestein sein, der „Heliogabal“, mit dem Castorf seine „Judith“ Inszenierung verschnitt, ist von Antonin Artaud, der bekanntlich Franzose und ein Anhänger des Theaters der Grausamkeit war. Wo sehen sie da ein „deutsches Theater“ in dem nur deutsch gesprochen wird? Gut, es wurden deutsche Übersetzungen gespielt, weil man dem hiesigen Publikum keine Stücke im Original mit deutschen Untertiteln zumuten möchten. Aber warum eigentlich nicht? Können wir Europa nur übersetzt und synchronisiert genießen? Was ist so falsch an der französischen Sprache? An der belgischen Vielsprachigkeit? War und ist das nicht eigentlich die europäische Idee?! Vielsprachigkeit? Der Verbund vieler „Nationen“ unter einem europäischen Dach. Warum sollte das in einer Metropole wie Berlin nicht auch an einem Theater stattfinden?
Und wenn man so, wie die Autorin dieses Artikels in der „Welt“, nur sehen will, was man schon vorher wusste, dann erscheint einem Dercon vielleicht als ein verunsicherter Mann, kurz vor dem Absprung, voller schon gescheiterter Visionen. Mir erschien er letzte Woche persönlich als ein äußerst sympathischer Mensch mit dem Mut zu Neuem. Und wo bitte in ganz Berlin, seit der Berufung von Castorf vor fünfundzwanzig Jahren, wagt jemand einen Schritt in ein neues Land, und betritt den unbekannten Teppich eines neuen Jahrtausends, wenn nicht im nächsten Sommer an der Volksbühne Chris Dercon?
Natürlich ist der Ansatz von Oliver Reese mit Talheimer und Rinke ans BE nach Berlin zurückzukehren regressiv, und diese Regression bestätigt sich noch einmal darin Castorf hinzuzukaufen. Da bleibt alles was die Personalien betrifft fest in deutscher Hand.
Und wieso redet hier eigentlich niemand über die Künstler mit denen Dercon kommt, und denen hier ebenfalls der Start an einem neuen Theater verhagelt und vergällt werden soll. Was war so falsch am „Fegefeuer in Ingolstadt“ von Susanne Kennedy? Was so schrecklich am „Totmacher“ von Romuald Karmarkar, dass man nicht über diese KünsterInnen reden mag?!
(...) Aber so ein Mann mit Weltruf, wie Dercon, den jagt man monatelang durch den Spießrutenlauf und ärgert sich, dass er immer noch nicht tot oder wenigstens verunsichert und kaputt ist. Und jetzt wünscht man ihm auch die Schikanen, die von einem neuen Kultursenator Lederer ausgehen könnten, an den Hals. Sein Untergang ist doch längst beschlossene Sache. Der Stuhl auf dem man ihn platzierte war als Schleudersitz gedacht.
Wieso fliegt der Mann nicht endlich?!
Bleiben sie uns erhalten, lieber Chris Dercon. Berlin braucht sie dringender als es zuzugeben in der Lage ist. Bon Chance.
(...)
Bitte bitte sagen Sie mir doch einmal, wo Sie denn das Neue an Dercon erkennen können, außer daß er der erste Belgier an der Spitze der Volksbühne ist. Karmarkar, Kennedy oder Charmatz, das sind doch wirklich allerälteste Hüte. Auch die junge Regisseurin Kennedy ist schon vollkommen in ihrem Stil erstarrt, nach den wenigen Inszenierungen, daß das eher ins Kitschprogramm des Bodemuseums als an den Rosa-Luxemburg-Platz paßt. Herr Dercon mag ja sympatisch sein, niemand bestreitet das. Aber wem, außer Ihnen hilft denn das? Herr Dercon hätte den Spießrutenlauf mit einem Schlag beenden können, wenn er nur eine Spur Medienkompetenz oder Dialogbereitschaft mit der Stadt besäße, für die er angeblich Theater machen will.
Von wem? Wer ist "man"? Platziert wurde Dercon bekanntermaßen durch T.Renner.
(Liebe*r Irmela Kammelt, wir haben weiter oben (#9) schon einmal darauf hingewiesen, dass Kommentare, die das Klima aufheizen und so eine Diskussion unterbinden – zum Beispiel indem sie nur etwas wiederholen, was schon ein- oder mehrmals gesagt worden ist – nicht veröffentlicht werden. In diesem Thread ist die Stimmung besonders giftig; auch die anderen Kommentator*innen bitten wir, auf ihre Wortwahl zu achten und von diskriminierenden oder beleidigenden Wortspielen Abstand zu nehmen, wenn Sie hier weiter diskutieren wollen. Mit freundlichem Gruß aus der Redaktion, sd)
Ich bitte um etwas mehr Augenmaß! Einen Beleidigungsvorwurf habe ich nicht verdient.
(Liebe Irmela Kammelt, ich möchte hier in keine Metadiskussion einsteigen – ich habe Ihren Kommentar von vorhin angeguckt und werde die Anfangsfrage sogleich noch nachträglich veröffentlichen. Allerdings ist der Rest meines Erachtens hier in diesem Kontext, pardon, Stimmungsmache. Es ist übrigens gar nicht so einfach, hier das Augenmaß zu behalten. Wir tun unser Bestes. Bitte respektieren Sie nun auch unsere Entscheidungen. Noch einmal mit freundlichem Gruß, sd/Redaktion)
Etwas Zeit vergeht , der Erste meint mürrisch "Soso, Schiller könnense lesen, aber "Heil Hitler" könnense nich sagen?"
"Warum denn auch? Schiller gehört doch allen Menschen, nicht nur den Deutschen . Für Frankreich schrieb er "Die Jungfrau von Orléans", für Spanien "Don Carlos",die Schweizer haben "Wilhelm Tell" verewigt bekommen und die Engländer "Maria Stuart".
"Und was hat er für die Deutschen geschrieben?"
"Die Räuber."
1) Frank Castorf soll nach 25 (!) Jahren seine Wohlfühl-Oase Volksbühne verlassen und wird hinaus gejagt in die böse kalte Welt? Vielleicht ist das ja das Beste, was ihm passieren konnte? Vielleicht wird es ja seine ohne Zweifel große Kunst nochmal neu befruchten, neu beflügeln? Vielleicht ist das der beste Abgang (der ja genauso wichtig ist, wie der Auftritt!) den er bekommen konnte? Castorfs Volksbühne wurde Theatergeschichte und wird es immer bleiben. Aber er ist 65 Jahre alt und irgendwann endet jede Ära. Und das ist jetzt kein schlechter Zeitpunkt, nachdem er sein Haus - auch nach mittelmäßigen Jahren - nochmal an die Spitze führen konnte. Danke Castorf, es war eine große Zeit! Ob ich das in 5-10 Jahren noch sagen könnte?
2) Als neuer Intendant wurde Chris Dercon berufen, der etwas anderes, neues (?) machen will an diesem Haus. Noch weiß keiner, was es sein wird und ich meine, das wissen wir erst, wenn der Lappen hoch geht. Und alles Geplapper davor, hilft auch nicht weiter. Denn die schönsten Konzepte taugen nichts, wenn die Premiere floppt! Aber hier wird behauptet, Dercon sei gescheitert, weil er auf irgend welchen Pressekonferenzen etwas gesagt oder nicht gesagt hat!? Das ist alles Firlefanz! Wer das Theater ehrlich liebt, wartet auf die ersten Premieren und urteilt dann.
3) Lieber Herr Baucks, ich bin wahrlich nicht immer einer Meinung mit Ihnen - aber was Sie zu diesem Thema schreiben unterschreibe ich voll und ganz!
Bill
Staunen Sie auch über die Tatsache, dass ein fachfremder, vollkommen theaterunferfahrener Kulturstaatssekretär (Tim Renner) so fundamentale Entscheidungen trifft, ohne vorher die Lage ausführlich zu sondieren und Expertise aus der Kunstlandschaft und der Zivilgesellschaft einzuholen, die vieles von dem nun zu Lesenden aufgefangen hätte?
Staunen Sie auch über die Tatsache, dass ein Chris Dercon bei diesem Spiel seine Rolle übernommen hat und allen Widerspruch als "reaktionär" abtut anstatt mit Souveränität in der Kunst, im Auftritt den Wind aus den Segeln zu nehmen?
Staunen Sie, dass von den bisherigen Granden des Hauses offenkundig niemand bei diesem Gangsterstück (vgl. Brecht) mitspielen möchte?
Denn ich staune über Ihre beiden Punkte 1 und 2.
Dass sie diese Punkte hier wiederaufbringen ist entweder uninformiert (über die vergangene Diskussion) oder vorsätzlich verzerrend (nach dem Motto: es wird wahrer, wenn es öfter wiederholt wird). Ich möchte weder das eine noch das andere annehmen, sondern auf Ihre Vorlage antworten.
[[Interessanterweise mache ich auf nk die Erfahrung, dass, nachdem ich meine Argumente ausgebreitet habe, die entsprechenden Gesprächsfäden enden. Wundert mich. Weil ich doch gehofft hätte, dass die Verfechter eines "alles neu" und "warten wir mal ab" doch mehr zu bieten hätten als Geschmacksargumente ("aber ich langweile mich bei 6 Stunden Geschreie", "wiederholt sich alles", …), die beim ersten Abklopfen wie ein diskursives Soufflé in sich zusammenfallen.]]
Es tut mir insofern leid, wenn ich viele meiner früheren Äußerungen wiederholen muss, aber die von Ihnen genannten Punkte sind in der Vergangenheit immer wieder aufgebracht worden und nach wie vor des Widerspruches würdig.
ad 1)
- Darf ich bitten? Fragen Sie sich bitte, ob es bei Kunst um Amtszeiten gehen kann. Würden Sie einen Karajan, einen Barenboim, einen Peter Brook, einen Brecht, eine Helene Weigel als Leiter/in einer Kulturinstitution wegschicken, wenn sie "zu lange" dort waren? In der Kunst gilt's der Kunst. Danach ist zu urteilen, nicht nach der Anzahl von Jahren. Letzteres ist oberflächlich und tendenziös, ja geradezu ignorant. Ich kann mir nicht helfen, aber jemand, der über Amtszeit redet, redet nicht über Kunst.
- Es geht nicht um Castorf als Regisseur. Es geht um Castorf als Intendanten. Es geht um das Haus. Ergo: seine Ursprünge, seine Geschichte, seine Mitarbeiter, seine Künstler, seine Streitbarkeit, sein Publikum, seine (singuläre) Stellung innerhalb der Berliner Theaterlandschaft, auch um die Stellung des Hauses in einer sich staatskulturell homogenisierenden Stadt (Glamour, glatt, westlich, tiefgrundlos). Es geht also nicht darum, ob sich ein F. Castorf irgendwo neu erfindet oder ob er befruchtet würde. Es geht darum, dass hier ein Haus zerschlagen wird (Renner "radikaler Neuanfang", Kuttner "Reißleine mitten im Flug", …). Sprechen Sie mal mit den Künstlern, lesen Sie den Brief der Mitarbeiter. Angesichts dieser Evidenz sollte offenkundig sein, dass die Abberufung von F. C. hier eine großere Zerstörung bedeutet als das Entlassen eines Mitarbeiters aus der Leitung. An dieser Leitung hängt nämlich all das oben unter "Ergo" Genannte.
- Sie meinen ernsthaft, dass Künstler/Intendanten ab 65 abgemurkst gehören? Seriously? Wieder: Die Kunst zählt. Nicht irgendwelche oberflächlichen Diskriminierungen (hier: Alter). Und, wenn das für Sie der Maßstab ist: Warum sollte ein 58-jähriger Chris Dercon hier Abhilfe schaffen? Sind das die berühmten kreativen Jahren zwisch 59 und 64?? Ich hoffe, Sie können das Bizarre Ihres Argumentes erkennen.
- "Irgendwann endet jede Ära". Klar. Das ist aber nicht die Frage. Die Frage ist nicht, OB sie endet, sondern wann und vor allem WIE. Hier ist das "Wie" massiv verbockt. Dercon insistiert fatalerweise. Die Fallhöhe wächst.
- "mittelmäßige Jahre". Auch hier stimme ich Ihnen zu, grosso modo, nicht allgemein. Das ist Teil der Kunst. (Berechenbare Erfolge finden Sie am Friedrichstadtpalast oder im Aktiendepot bei der Deutschen Bank.) Genau deswegen braucht es einen langen, weisen kulturpolitischen Atem. Nicht ein (...) Suchen nach dem nächsten, größeren Kick.Eben kein: Wir sind wieder wer.
- Zu Ihrem Blick in die Zukunft: Na, ich wäre jedenfalls gespannt gewesen. Die Zeit hätten wir alle gehabt. (Nur eben ein zeitweise berufener Staatssekretär vermutlich eben nicht. Demokratie!) Im Falle einer großen kommenden Langeweile wäre die Beschädigung für das Haus, für die Stadt, für die Beteiligten allerdings geringer gewesen. Mich jedenfalls elektrisiert dieses Haus. Auch in seinen mittelmäßigen Momenten. Und offenbar tausende andere auch. Lesen Sie die Unterschriftenliste. Lesen Sie den Offenen Brief der Mitarbeiter. Lesen Sie dieses Forum. Gehen Sie in die Vorstellungen. Gehen Sie in die Kantine.
ad 2)
Das Argument "Warten wir mal ab" ist schon interessanter, aber ebenso irreführend, denn
i) es positiviert die grundfalsche Entscheidung Tim Renners im Nachhinein, versucht die Diskussion darüber zu unterbinden (=anti-aufklärerisch)
ii) es positiviert den grundfalschen Prozess (worüber im Falle einer souveränen Sachentscheidung wohl kaum jemand debattiert hätte) Tim Renners (=anti-demokratisch)
iii) es ist parallel zu einem "warten wir mal ab" nach der Abberufung Castorfs und VOR der Berufung Dercons, einer Zeit als Tim Renner und Michael Müller die öffentliche Diskussion dazu wegwischten und am Ende dazu GEZWUNGEN waren, die Nominierungspressekonferenz eine Woche vorzuziehen (warum wohl??)
iv) es assistiert den Politikern, die aber IM DIENST der Bevölkerung zu agieren haben; bei dem in der Causa Volksbühne aufgetretenen breiten Widerstand ist die Frage, ob dieses Assistieren dann nicht eher einer formale Mächtigkeit huldigt anstatt sich mit den Sachfragen auseinanderzusetzen
v) ein "Noch weiß keiner, was es sein wird" ließe sich ebenso bei einem Präsidenten Trump ins Feld führen; dass frühzeitig Opposition stattfindet, hat damit zu tun, dass - sind erst einmal Tatsachen geschaffen - die Realität viel schwerer wieder zu verändern ist als es möglich gewesen wäre, hätte man frühzeitig eingegriffen.
vi) es jetzt noch vorhandene bessere Lösungsfenster schließt und damit einen falschen Status Quo festschreibt; stattdessen wäre eine sofortige Lösungssuche angebracht, damit der Schaden begrenzt bleibt bzw. behebbar ist
vii) es tut so als ob öffentliche Äußerungen unerheblich seien (gleiche Argumentationen hören wir ja auch aus dem Lager der Trump-Relativisten: "Das meint er nicht so. Warten wir ab, was er tut.") Chris Dercon hat seit seiner Berufung sich auf mehreren halb-öffentlichen Veranstaltungen (Kindl-Brauerei, Rotes Rathaus, Belgische Botschaft, Mitarbeiterversammlung der VB, …) und Interviews gezeigt. Keine der Veranstaltungen haben mir den Eindruck gegeben, dass seitdem ein Abwarten angemessener geworden wäre.
viii) es ist hochgradig unangemessen, bei einer so grundlegenden Umwälzung so zu verfahren, als ob es sich um einen gewöhnlichen Intendantenwechsel eines gewöhnlichen Stadttheaters handeln würde. Die Programmpressekonferenz nach Schema F anzusetzen, ignoriert die Bedeutung des Hauses (insbesondere auch für die Stadt und ihre - geteilte - Geschichte)! Hier müsste viel frühzeitiger agiert werden und auch gezeigt werden, dass vom hochgehenden Lappen mehr zu erwarten ist als an einem gewöhnlichen Stadttheater. Insofern ist ein "warten wir mal ab" auch ignorant der Gesamtlage und der Bedeutung des Hauses gegenüber. Paul Spies (Stadtmuseum) hat es vorgemacht, wie man souverän leistet/liefert. Um seine Person gibt es keine vergleichbare Debatte. Eben weil er nicht "abwartete".
Pardon, das war jetzt sehr viel. Aber es tut not. Ich hoffe, Lederer und Dercon finden einen klugen Ausweg. Kooperation wäre das beste. Rettet die Volksbühne.
Über Antworten auf die von mir vorgebrachten Argumente freue ich mich. Davon lerne ich.
Sie schrieben:
Staunen Sie auch über die Tatsache, dass ein fachfremder, vollkommen theaterunferfahrener Kulturstaatssekretär (Tim Renner) so fundamentale Entscheidungen trifft, ohne vorher die Lage ausführlich zu sondieren und Expertise aus der Kunstlandschaft und der Zivilgesellschaft einzuholen, die vieles von dem nun zu Lesenden aufgefangen hätte?
Glauben Sie denn im Ernst, Tim Renner hätte sich nicht mit Leuten getroffen, die etwas vom Fach verstehen. Das hat er. Nur nicht mit den üblichen Verdächtigen des Bühnenvereins, die immer wieder nur dieselben Intendanten ins Karussell schieben, denen man Expertise zuordnet, nur weil sie einige Jahre lang unter chaotischsten Umständen an der Spitze eines Theaters standen - nur geleitet haben Sie es nie.
Wann begreifen Sie es endlich, dass diese Theaterlandschaft etwas anderes braucht, als Intendanten, die sich selbst verlängern.
Wir brauchen Intendanten, die Ihr Amt an den Nagel hängen und sagen, Sie machen es nur mit einem kompetenten Direktorium und Ensemblesprechern, die an allen wichtigen Entscheidungen mitwirken.
Dercon hat sein Direktorium bereits vorgestellt. Nennen Sie von den Leuten eine/n der keine Expertise hätte.
Jeden Monat lesen wir auf nachtkritik von einem Intendanten, der in seinem Theater heftigste Personalquerelen, Zuschauer- oder Finanzprobleme hat, Petras in Stuttgart - der dann auch noch für die Volksbühne gehandelt wird, Wiegand in Darmstadt, Märki in Bern, Rostock, Trier, Weimar, Erfurt, Gera-Altenburg, Schwerin, Greifswald/Stralsund, was meist an unbehauenen Strukturen liegt. Und das sind nur die Dinge die wir erfahren.
Wir sollten endlich schweigen und Dercon machen lassen. In der Provinz ist es Gang und Gäbe das Politiker, die nichts vom Theater verstehen, darüber entscheiden wer 5 oder mehr Jahre in eine Stadt kommt, verspricht mit dem Ensemble zu arbeiten, und dann erst einmal alle entlässt. Das ist nicht gut, ganz im Gegenteil. Aber das hat der Bühnenverein banalerweise im Zeichen einer künstlerischen Freiheit erstritten, die überall als Totschlagargument verwendet wird. Selbst bei jungen Müttern, Väger, alten Müttern und Väter, die einfach ohne Vorwarnung auf die Straße geschickt werden. setzt euch für diese Menschen ein!
Der dritte Akt neigt sich also allmählich seinem Ende zu. Warten wir auf den dramatischen Auftritt des Senators, der ja schon im Vorfeld äußerte, er wolle die Sache nicht hochjazzen. Das klingt nach Kühle und Kalkül. Schon bald werden wir seine Zielvorstellungen kennen, so weit sie nicht bei einem Unterzeichner des Volksbühnenbriefes längst transparent sind.
Dann geht es in den vierten Akt, der dem Hauptakteur Lederer nur wenig Spielraum lässt.
Da ist die Verzweiflung im fünften Akt vorprogrammiert.
Und danach kann es dann endlich losgehen mit dem echten Theater auf der Volksbühne.
Bis dahin noch viel Freude all den Kommentatoren, die Dercon weiterhin auf dem Schleudersitz gefesselt halten wollen.
(Lieber Martin Baucks,
sollten Sie mit Ihrer Formulierung, wir hätten "nun alles püntklich vorbereitet für den Auftritt" Lederers meinen, die Redaktion hätte Einfluss auf die Besetzung von Senatoren, täuschen Sie sich natürlich. (Bedenken Sie nur, wie sehr selbst ein mächtiger Verlag wie Springer gerade unter "nur" einem Bau-Staatssekretär leidet.)
Und bedenken Sie bitte auch, dass der Original-Artikel über diesem Kommentar-Thread nicht mal von uns geschrieben wurde. Wenn es einen Text gibt, in dem Klaus Lederer sagt, wie sehr er sich schon auf den Saisonauftakt in Dercons Volksbühne freut, werden Sie das hier auch lesen. Ehrenwort. (Bislang gab's halt keinen solchen.)
Viele Grüße
Redaktion/miwo)