Gleichmut des Fressens

von Ralph Gambihler

Dresden, 14. Juni 2008. Wenn das Theater auf Prosa zurückgreift, was es derzeit ausgiebig zu tun pflegt, ist dies keineswegs nur eine Ausflucht aus der Ratlosigkeit der zeitgenössischen Dramatik. Man kann darin ebenso gut eine kalkulierte Rolle rückwärts in bekannte Erzählwelten sehen. In Stoffe, die sich bewährt haben, warum auch immer.

Die Bühne scheint damit auf paradoxe Weise das im Zeitgeist allmählich wieder abflauende Bedürfnis nach Ausbruch und Exotik, nach Spagetti mit Keksbruch, nach Heiraten unter Wasser etc. zu bedienen, indem sie Romane adaptiert. Am Staatsschauspiel Dresden laufen seit Februar die "Buddenbrooks" in der Bearbeitung John von Düffels. Und nun, vier Monate später, gibt es auch den Krimi des Jahres 2007, der seit seiner TV-Belobigung durch Elke Heidenreich – "Ein unglaubliches Buch!" – in den Bestsellerlisten rangiert.

Bodenständigkeit und klaustrophobe Bedrückung

Die Uraufführung einer ersten "Tannöd"-Dramatisierung besorgte vor drei Monaten das Tiroler Landestheater in Innsbruck. In Dresden hat man nun die Deutsche Erstaufführung in Szene gesetzt. Weitere Stadttheater wollen folgen, Fürth, Regensburg, Hamburg. Und das Kino drängt auch schon heran, mit einer prominent besetzten Mystery-Version, die sich auf den Titel "Kaifeck Murder" verlegt und Anfang nächsten Jahres über die Leinwand flimmern soll.

So viel Wind bringt den Stoff womöglich zum Flattern. Die Geschichte um den Mordhof verlangt indessen eher nach Bodenständigkeit und klaustrophober Bedrückung. Insofern hat die Bühne ihre Logik. Durch perspektivische Täuschung deutet sie einen tiefen Raum an, der aber lediglich mit einem Holztisch und drei Stühlen möbliert ist. Videoeinspielungen machen den Ort wechselweise als Stall oder Stube kenntlich und verbreiten dabei eine unheimliche Stimmung.

In Endlosschleifen verschlingen Kühe Heu, dann nagt ein Hund seelenruhig einen Knochen ab, wieder und immer wieder. So überlebensgroß hat man die Gleichmut des Fressens noch nicht wahrgenommen. Andrea Maria Schenkels Dorfmenschen wirken in dieser Kulisse wie Verlorene auf der Suche nach Halt: der Lehrer Hermann Müllner, der Postbote Ludwig Eibl, die Kellnerin Anna Hierl und all die anderen, die schon immer wussten, dass es so kommen musste auf dem Einödhof der Familie Danner.

Diesen mürrischen, eigenbrötlerischen, geizigen Menschen, die obendrein in inzestuöser Schande lebten. Marianne und Josef, die zwei Kinder der Tochter, sollen auf das Konto des alten Danner gehen. Eine Strafe Gottes wird es gewesen sein, dass jetzt alle tot sind, erschlagen wie räudige Hunde.

Durch die Augen des Mörders 

Die literarische Vorlage basiert auf einem wirklichen Mordfall, der sich 1922 im oberbayrischen Kaifeck ereignete und nie aufgeklärt wurde. Durch den Fall von Amstetten bekam sie eine nachträgliche Aktualität. Ihr spezieller Reiz hat damit aber nichts zu tun. Er liegt in einer radikalen Subjektivität und der sozialen Fundierung des Verbrechens. "Tannöd" funktioniert so ähnlich wie Klatsch und Tratsch, nur gespensterhafter. Alle reden plötzlich, rücken mit ihrer Version heraus. Dokumentarische Zeugenaussagen werden mit erzählerischen Schilderungen und Fürbitten verschränkt. Zwischendurch sieht der Leser durch die Augen des Mörders, ohne aber zu wissen, wer dieser Mörder ist.

Einfacher und unheimlicher lässt sich das Grauen kaum umkreisen. Die Dresdner Inszenierung im neubauLabor kommt mit sehr kleiner Besetzung aus. Vera Irrgang und Viktor Tremmel spielen alle Rollen im fliegenden Wechsel, setzen die Figuren durch Habitus, Stimmvariation und äußere Erkennungszeichen, einen Hut etwa oder eine Schürze, voneinander ab. Der Roman wurde auf rund 25 Textseiten eingedampft, wobei seine collagehafte Struktur erhalten geblieben ist, modifiziert lediglich durch Spielszenen, die Erzähltes dialogisch auffächern.

Geisterhafte Melange 

Es ist ein redlicher Abend geworden, ein Hinhören und Eintauchen in ein dörfliches Stimmengewirr, das seinen innersten Abgrund bis kurz vor Schluss verhehlt. Der rätselhafte Realismus der Vorlage, diese geisterhafte Melange aus Bekanntem und Fremdem, bestimmt auch die Atmosphäre des Bühnengeschehens. Nur bleibt der Wille, ihn ins Dramatische zu übersetzen und dämonisch zu überhöhen, stets spürbar.

Der baumlange, etwas jungenhaft wirkende Viktor Tremmel, der diese "Tannöd"-Erkundung auch als Textarrangeur, Regisseur, Bühnen- und Kostümbildner geprägt hat, lässt alle Figuren mit Maske spielen. Derart ins Unwirkliche entrückt, weg von den gängigen Stimmungen und Klischees eines ganz normalen "Tatort", bleiben seine Menschen doch seltsam unverbindlich. Zumal der Dämon, den Tremmel neu einführt, diesen weibisch herein tänzelnden Teufel, der eine Kinderpuppe streichelt, bevor er besinnungslos rast, letztlich nichts anderes verkörpert als des Rätsels Lösung.

Da steht der Mörder, da darf er's sein: nackt und dröge wie ein Erklärungsmuster. Gelungen ist die Inszenierung auf eher unfreiwillige Weise. Sie macht den Text überraschend durchsichtig und entlarvt auf diese Weise auch seine Schwächen. Sein exzessives Raunen zum Beispiel oder den Allgemeinplatz, auf den alles zuläuft. Dass der Mensch auch dämonische Seiten hat, dass er in der Lage ist, zu töten, was er liebt, das hat man vielleicht schon mal gehört. 


Tannöd
nach dem gleichnamigen Roman von Andrea Maria Schenkel
Fassung: Viktor Tremmel
Deutsche Erstaufführung
Regie, Bühne und Kostüme: Viktor Tremmel, Musik: Carl Thiemt. Mit: Vera Irrgang, Viktor Tremmel.

www.staatsschauspiel-dresden.de

 

Kritikenrundschau

In den Dresdner Neuesten Nachrichten (16.6.) schreibt Caren Pfeil, dass die Autorin Esther Rölz in ihrer Dresdner "Tannöd"-Fassung "stringent und mit sicherem Gespür für Wirkung Figuren und deren Monologe für die Bühne ausgewählt und verdichtet" habe, und "sensibel einige Dialogszenen hinzugefügt". Regisseur Viktor Tremmel erzähle die Geschichte "prägnant und stilsicher", die beiden Darsteller (einer davon ist Tremmel selbst) seien in der "auf ein Minimum reduzierten Spielweise äußerst präzise". Vera Irrgang fasziniere außerdem "durch winzigste Gesten, mit denen sie ein Figur eigenwillig prägt, ohne sie zu verurteilen".

Eine "dichte Bühnenfassung" habe Esther Rölz nach dem Krimi "Tannöd" geschrieben, meint auch Caren Pfeil in der Sächsischen Zeitung (16.6.), und Viktor Tremmel "setze das Geschehen sensibel und vielschichtig in Szene". Das Spiel lasse "reichlich Freiraum zum Mitdenken", "eindringlich" seien "die Szenen mit einem tanzenden Dämon, dem ein manipuliertes, beklagtes Kind als Puppe ausgeliefert ist".

 

 

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