Doppelwhopper mit Inhalt

30. August 2012. In der Zeit machen sich René Pollesch und Harald Schmidt recht authentisch wirkende Liebeserklärungen – zusammengebracht hat sie Zeit-Redakteur Peter Kümmel. "Ich habe durch ihn eine völlig neue Betrachtungsweise von eigentlich fast allem 
erfahren", sagt Schmidt über Pollesch. "Natürlich ist er eine der wichtigsten 
Begegnungen, die ich hatte", Pollesch über Schmidt, und: "Es gibt für mich
 fünf Superperformer, und da gehört er dazu." Schmidt sei ein autonomer Schauspieler. "Er ist
schnell, und er ist ein Intellektueller. Er weiß, was
 er auf einer Bühne zu tun hat, um da oben zu 
überleben. Er hat seine Skills, und die sind genial."


Ziemlich schnell kommt die Männerrrunde dann auf die Begriffe des Authentischen und des Repräsentativen. Sowohl Pollesch als auch Schmidt finden schöne Worte der Abneigung. Pollesch: "Die, die hässliche Dinge auf die
 Bühne stellen, haben immer die Hoffnung, dass sie 
transzendieren und sich in reine Bedeutung auflösen." 
Er fände einen Stuhl, der nicht auf einen
Sinn oder eine andere Welt verweisen muss, damit
er ihn ansehen könne, einfach besser.
 Schmidt: "Technisch sehr gut in der Ausführung 
kann man Authentizität beim Bundespräsidenten 
Gauck beobachten, der ja sogar die echte Träne 
vorführt." Er habe gesehen, wie Gauck aus seiner Autobiografie
 vorgelesen habe, "und er musste darüber
 weinen. Das waren schon zwei Etagen der Kunstfertigkeit,
 eine Autobiografie zu schreiben, öffentlich 
daraus vorzulesen und dann noch darüber zu
 weinen – da hat das deutsche Stadttheater Schwierigkeiten 
mitzuhalten."
 Pollesch ist nach eigenem Bekunden aufgefallen, "inklusive
 bei mir, dass alle immer 
gerührt sind von ihrem Erfolg." Das finde er das Schlimmste, dass das so in einem drin sei. Dass
 man mit diesen Erfolgsgeschichten lebe. "Das hätte 
ich gern raus aus mir. Ich bin auch eine authentische
 Kuh, aber ich versuche, dagegen zu arbeiten."


Zwischenfrage Kümmel: "Wenn 'authentisch' das
 schlimmste Wort ist, welches ist
 dann das unverbrauchte Wort,
zu dem man sich retten könnte?"
 Pollesch entscheidet sich für "konkret". Schmidt: "Oder als Bezeichnung
für einen Schauspieler: Er ist ein Inhaltsbomber." 
Daraufhin wird auch Sophie Rois, die ganz klar ein solcher Bomber sei, mit einer Pollesch-Schmidtschen Wallung bedacht. Aber Pollesch wendet sich gleich wieder Schmidt zu: "Wenn du redest, habe
ich nicht das Gefühl, ich müsste auch noch auf was
 anderes hören als auf das, was du sagst. Dir geht es 
nicht dauernd um dich; dir geht es um Inhalte."


Ihm selber gehe es darum, sich nicht an irgendeiner Regulierung zu beteiligen:
 "Es könnte sein, dass Geschichten, von
 denen man sagt, dass sie von uns erzählen, eher
 dazu taugen, dass die Zuschauer und die auf der 
Bühne sich gegenseitig auf Lesbarkeit trimmen."
 Also eine heterosexuelle Liebesgeschichte zum Beispie 
werde als die universelle Liebesgeschichte ausgegeben.
 Oder die Geschichte über einen Mann
 als die Geschichte über den Menschen. 
Es werde vom Theater verlangt, gerade jetzt in der Finanzkrise, dass es lauter Stücke über
 die Gier machen soll. "Aber ich kenne keine gierigen
 Leute. Ich kenne eher Leute, auf die der Satz
von Dietmar Dath zutrifft, der gesagt hat, das Abgeschmackteste 
am Kapitalismus ist, dass alle nur
 noch Liebe wollen, und keiner will mehr Geld." Da 
stecke das Problem. 
Er kriege immer wieder den Vorwurf 
zu hören, dass die Form seiner Stücke sich
 nicht ändere und die Inhalte auch nicht. "Ich dagegen 
sehe, dass jeder Theaterabend, an dem ich 
beteiligt bin, ein anderer ist, allein schon deshalb,
 weil ich das Theater ja nicht allein mache." Und er
 sehe, "dass Inhalte, mit denen wir uns über drei,
vier Stücke lang beschäftigen, dann auch wenigstens 
über zwei, drei Jahre auf ein paar Bühnen
 anwesend bleiben."

Desweiteren plaudert Schmidt über Ruhm, sein Selbstbild als Steuerzahler, seinen Rauswurf bei SAT 1 und seinen Neustart bei Sky – und Pollesch versichert ihm, treu: "Ich hab mir jetzt zu meinem
 kleinen Fernseher im Kühlschrank noch einen
 Fernseher gekauft, der Sky empfängt, ich bin also 
schon gewappnet."

Kommentare  
Presseschau Pollesch & Schmidt: Gegenbild zu authentischer Kuh
Bemerkenswert, wie ehrgeizig Pollesch seine angelesenen Einsichten seit Jahren in Interviews inzwischen sogar im selben Wortlaut wiederholt, ohne eine Veränderung in der Welt noch zu bemerken. Wenn das Gegenbild zur authentischen Kuh (warum nicht Sier?) der selbstgefällige Sprücheklopfer ist, dann bin ich auf der Seite der Tiere.
Presseschau Pollesch & Schmidt: authentisch?
Sind die authentisch?:
http://www.youtube.com/watch?v=BhZRclRzFVc
Presseschau Pollesch & Schmidt: Frage
Altherrenschweiss mit Sinnbeilage?
Presseschau Pollesch & Schmidt: immer noch besser
@ 123: Sprücheklopfen (ich erinnere an den "Sozialismus jenseits seiner sentimentalen Sorte" in Bezug auf den "Nachtclub mit Kontakten zur Mafia") ist immer noch besser, als das real zu durchleben bzw. mit Kriegsmaschinen Bomben abzuwerfen.

Es geht um die Frage, was wir wollen: Zurück zur Natur bzw. zur Tierwelt, welche allerdings keineswegs immer nur friedfertig und gut ist, im (spielerischen) Zweikampf aber möglicherweise doch fairer als Menschen. Oder nur weiter hinein in das (interpassive) Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, worüber die Massen vielleicht zu ihrem Ausdruck, aber beileibe noch nicht zu ihrem Recht kommen, und zwar sowohl IM als auch VOR dem Kunstwerk.
Presseschau Pollesch & Schmidt: genau
@ Bille: super...:-) das trifft's auch für mich genau.
Presseschau Pollesch & Schmidt: Emotiophobiker
Für mich treffen sich da zwei Emotiophobiker, die sich aufgrund ihrer privaten Neurosen gar nicht vorstellen können, dass man einfach fühlen kann (und darf), ohne Netz und doppelten Boden, und das ruhig auch in der Öffentlichkeit machen darf, ohne dass einem gleich Kalkül unterstellt wird. Interessant ist doch, dass Leute, die in ihrer Kindheit emotional vernachlässigt wurden, ähnliche Muster zeigen. Da macht man später wohl alternatives Theater. Ich habe nichts gegen neurotische Kunst, aber man soll doch bitte nicht behaupten, man würde damit jenseits des subjektiven Kosmos unheimlich viel Allgemeingültiges aussagen.
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