Odysseus! - Kerstin Specht versammelt in Nürnberg geballte Antiken-Prominenz für eine zweite Odyssee als Flucht aus der Midlife-Crisis
Gestrandet wie ungebratene Fischstäbchen
von Dieter Stoll
Nürnberg, 20. Dezember 2013. Die Helden sind müde, der Lack ist ab: Wenn Allzeit-Größe Odysseus nach zwanzig Jahren Ehrenrunde in mythologischen Zeitschleifen endlich zu seiner grünen Witwe Penelope in Ithaka heimkehrt, lauert dort statt der zweiten Chance die Drohung von Vorruhestand. Das verflixt treue Weib in ritualisierter Wartestellung ("Stör mich nicht / in meiner Erinnerung") beharrt auf dem abgespeicherten Jugendbild, da ihr die an Alter und Kilo-Kalorien deutlich erweiterte Erscheinung der Gegenwart mindestens so wenig gefällt wie der eigene Trend zum Doppelkinn. Na gut: Er ist wieder da! Und jetzt?
"Wir liegen in gekochtem Schweigen", beklagt sie am Morgen danach die missglückte Comeback-Nacht mit der verlebten Legende, die vom tourenden Titanen zur "Laus im Pelz" dieser fremdelnden Familie schrumpft. Die Macht im Haus ist verteilt, die Beschwörung der "beschissenen Abenteuer", die er drei bis vier Schauplätze später selber resignierend zu "literarischer Propaganda" erklären wird, taugt da nicht mal mehr fürs Vorabendprogramm.
Autorin Kerstin Specht metzelt Mythos, Regisseur Maik Priebe mag das keineswegs unterstützen. Er hat für seine vor Ehrgeiz schwitzende Uraufführung im variablen Raum der BlueBox von Ausstatterin Susanne Maier-Staufen eine mächtige Tisch-Landschaft bauen lassen, die an den Rändern zum Rundum-Laufsteg und im Inneren zur Szenen-Kultstätte wird. Die Zuschauer sitzen zunächst mit den fünf mikroportbewaffneten Darstellern direkt bei Tisch, bekommen zur Fixierung der Künstlichkeit allesamt Kopfhörer, werden so auf Hörbuch mit Bildbeschaffung eingestimmt. Wenn der Stil etabliert ist, kann das Schicksal weitermachen.
Beleibt und unknackig gen Südpol
Er ist wieder weg! Odysseus fühlte sich und seinen Stolz "zerpflückt wie eine Artischocke" und will mit dem Aufbruch nach Sparta per Odyssee Nr. 2 im Schoße der allzeit schönen, bei Menelaos vor allem chronisch unbefriedigten Helena zurück in die Zukunft finden. Noch so eine Wiederbelebungs-Illusion, nicht die letzte. Das Standard-Traumpaar landet auf der Flucht versehentlich unter Verbannten, strandet an Kretas Sandküste "wie ungebratene Fischstäbchen", wühlt bei der Männerfreundschafts-Beschwörung mit Idomeneus beiläufig unvergängliches Kriegs-Grauen hoch.
Der Ex-Held taumelt zum verkümmernden Genie Dädalus, der für Segelflüge aber nur noch den Trockenkurs mit "Glücks-Pilzen" empfiehlt. Am Ende, nach 21 Szenen Rundlauf durch die Abo-Antike, sind die vom Schicksal gegerbten Herren "Unterwegs zum Südpol", wo zum Finale der einst Göttergleiche auf einer schmelzenden Eisscholle festfriert, der Knackigkeits-Frage endlich entkommen.
Die Autorin, eine Lust-Lakonikerin
Dichterin Kerstin Specht, die seit dem Senkrecht-Start um 1990 (erst "Das glühend Männla" an den Münchner Kammerspielen, dann "Lila" am Nürnberger Schauspiel) ein Dutzend etwas weniger spektakulärer Stücke mit Vorliebe für die literarische Biegsamkeit von Märchenfiguren in Umlauf gebracht hat, geht diese durchaus anmaßende Antiken-"Fortschreibung" in einer charakteristisch unverschnörkelten Sprache an, die in steiler Fallhöhe den Sturz vom erhabenen Ton zur Brachial-Banalität samt genügend Aufschwung-Energie zum Rückweg wagt.
Man kann ihren (gemeinsam mit Co-Autor Manolis Manussakis geschaffenen) Text, wie er Witz im Elend schürft, die hehre Kunst auf graue Alltags-Realität stößt und den heutigen Blick wie flackerndes Neonlicht anknipst, als melancholisch erheitertes 78-Seiten-Gedicht über Sehnsucht auf Stelzen lesen. Wobei Sarkasmus das Netz der nachgewebten Spätlese-Klassik allerliebst perforiert. Vergangenheitsverklärung und Zukunftshoffnung umschlingen sich – und bis zum Ende weiß man nicht, ob es Umarmung oder Würgegriff ist. Lust-Lakonikerin Specht ist so klug, sich immer wieder stimmungsaufhellend über die eigene Poeten-Ambition lustig zu machen. Ihr Pech, dass der Regisseur diese Relativierung gar nicht mag und in jeder kleinen Anmerkung "großes" Theater aufspürt.
Uraufführung mit Bedeutungs-Bibbern
Charme und Plattfüße schreibt die Autorin ihrem Odysseus mit dem höhnenden Ausrufezeichen zu (Frank Damerius raunt gekonnt Heldenleben im Restposten), seine Lebens-Partnerinnen Penelope und Helena sind "im Grunde die gleiche Person" (Adeline Schebesch erst als Klageweib im Diva-Format, dann umfrisiert auf Helena-Frivolität). Bei der Altherren-Staffel bleibt Menelaos (Martin Ontrop) im Abseits und der Rest zieht dreifaltig zum Südpol in die auch nicht mehr zuverlässig ewige Kälte. Idomeneus (Pius Maria Cüppers) und Dädalus (Rainer Matschuck) finden dabei auch im Chor der Erzähler am besten den spöttischen Unterton für die aussichtslose Selbstwert-Beschwörung.
Maik Priebes Inszenierung hingegen will ihn offenbar nicht finden. Die Regie lädt die Szenen mit Bedeutungs-Bibbern auf, macht die Tafelrunde zum Klassik-Sockel und schiebt die querschlagenden Pointen in tiefem Ernst beiseite. Dass Blondine Helena um 700 v.Chr. beiläufig als Jagdopfer der Yellow-Press endet wie etwas später, rund 2690 Jahre danach, die britische Prinzessin Diana, damit rüttelt Kerstin Specht an einer Geschmacksgrenze. Maik Priebe erledigt die Szene mit diskret nachgereichtem Dramen-Passierschein als wäre das gar nichts. Es ist zu viel zu gut gemeint in dieser Uraufführung. Statt des boshaften Blinzelns ins abgehalfterte Heldentum, das man beim Lesen zu erkennen glaubt, eben doch der von Odysseus so gefürchtete "Marathonlauf in Bleistiefeln". Der Beifall für alle Beteiligten klang respektvoll. Spechts "Odysseus!" ist eine alternative Entdeckung wert.
Odysseus! (UA)
von Kerstin Specht (zusammen mit Manolis Manussakis)
Regie: Maik Priebe, Ausstattung: Susanne Maier-Staufen.
Mit: Frank Damerius, Adeline Schebesch, Martin Ontrop, Pius Maria Cüppers, Rainer Matschuck.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause
www.staatstheater-nuernberg.de
Ein "minimalistisches Stück" über die "Unzufriedenheit des modernen Mannes" habe Kerstin Specht geschrieben, sagt Barbara Bogen im Bayerischen Rundfunk BR 2 (20.12.2013). "Der Spagat, den Mythos mit der Gegenwart in Einklang zu bringen, gelingt dennoch nicht wirklich. Zu sehr bleibt der Plot im Mythos gefangen." Die Kritikerin erwähnt auch Pluspunkte: Maik Priebes Arbeit mit Kopfhörern, durch die Theater und Hörspiel ineinander griffen, sei "kein uninteressanter Versuch, weil es die Situation konzentriert, den Zuschauer auch zum gebannten Zuhörer macht, ihn dichter an das Geschehen heranholt." Fazit: Der Autorin und der Regie gelingen poetische Bilder (...). Theater von heute ist das trotzdem nicht."
Das "kleine, aber ziemlich feine Stück" habe Regisseur Maik Priebe wahrscheinlich "zu schwer genommen", schreibt Herbert Heinzelmann in der Nürnberger Zeitung (23.12.2013). Man müsse sich anstrengen, die "Handlungsstränge richtig zu sortieren", und man bekomme in Priebes Inszenierung "keine Chance, seine Verwirrung ironisch leicht zu nehmen". Spechts Sprache klinge "schön", ihre Sätze "schwingen im Rhythmus", allerdings habe man zur Hälfte der Aufführung "kapiert", dass "Heldentum überschätzt wird und die Welt damals wie heute voller Gefolterter und Geflüchteter war und ist". Da sehne man sich nach "Beschleunigung", die Priebe versage, wobei er auch "stimmungsvolle Momente erzeugt".
Specht habe ihre "Tragikomödie in unverschnörkelter, knapper Sprache verfasst, deren Lakonie und Sprachwitz sich beim Lesen wohl entfaltet", schreibt Birgit Nüchterlein in den Nürnberger Nachrichten (23.12.2013). Ironische Brechungen steckten in ihrem Text. "Doch Regisseur Maik Priebe scheint der Vorlage nicht zu vertrauen. Statt den Witz, der bei ihm mitunter matt aufscheint, mehr zu zelebrieren, setzt er auf Bedeutungsschwere und walzt das Stück damit ermüdend in die Länge."
"Man kennt die Figuren, man kennt die Orte, man weiß auch, wie so eine Heimkehr ausschauen könnte – aber man lauscht jedem Satz", so Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (27.12.2013). "Ja, es ist spannend. Und man kann das Bayerische Staatsschauspiel nur schelten für die Trottelei, das Stück nicht wie geplant herausgebracht zu haben, vor Jahren, als das Dorn-Theater mit hehrer Klassik seinem Ende entgegentrudelte." Frank Damerius spielt den Osysseus "ganz schwer und müde (...), den Helden, der dieser Odysseus einst gewesen sein sollte, den glaubt man ihm nicht. Den ganzen schweren Überdruss schon."
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Ich war jedenfalls heute Abend restlos überzeugt! Ein innovativer kluger schmerzhafter humorvoller Abend ist da in Nürnberg zu sehen! Beeindruckend!