Über Leben - Klaus Kusenberg verlässt sich in seinem Nürnberger Marathon ganz auf seine Schauspieler und die Poesie Judith Herzbergs
Stammbaumnabelschau
von Dieter Stoll
Nürnberg, 8. März 2014.Diese jüdische Familie mit Anhang hat es in sich: Verdrängte Erinnerungen ans KZ, gutbürgerlich ausgerichtete Gegenwelt durch mehrere Nachkriegs-Generationen, kreuz und quer verlaufende Beziehungslinien samt erotischer Kapriolen der drastischen Art. Und natürlich kein Fest ohne Streit.
Die Vollversammlung der krisenfreudigen Damen und Herren repräsentiert in aller Mehrdeutigkeit den zusammenfassenden Titel "Über Leben", der die drei einander ergänzenden, zwischen 1982 und 2002 geschriebenen Stücke "Leas Hochzeit" / "Heftgarn" / "Simon" zum 26 Jahre überblickenden Epos mit Zieleinlauf 1998 bündelt. Es geht ja wirklich um eine abtastende Erzählung übers Leben, in der auch der Wille zum Überleben eher staunend betrachtet als schlüssig erläutert wird. Die Amsterdamer Autorin Judith Herzberg bleibt da bei allem Drang zum Bühnen-Marathon ganz versonnene Lyrikerin, wenn sie in gut 125 Szenen-Miniaturen das große Thema so umschlingt, dass man sich eines Mosaiks hinter allem Gewimmel nie sicher sein kann.
Schiebewand-Spiel-Schachtel
Vor drei Jahren hat das Deutsche Theater Berlin unter Aufbietung seines Star-Ensembles den verhalten theatralischen, erst spät am Abend als Drama zündenden Text zum Achtungserfolg geführt. Am Nürnberger Staatstheater wagte jetzt Spartenchef Klaus Kusenberg den zweiten Versuch und stützt sich dabei ebenfalls ganz entschieden auf die Qualität der Schauspieler. Das kann er, denn bei immerhin 17 auftretenden Personen im Nabelschau-Modus gibt es keinen einzigen Ausfall. Ein eigener Interpretationsansatz, der die kleinteiligen Dialoge in Stellung gegen größere Ziele bringen könnte, entsteht daraus allerdings nicht.
Die Inszenierung liefert sich der mit Komik unterfütterten, auf Doppelbödigkeit federnden Poesie vorbehaltlos aus. Ausstatter Günter Hellweg baute eine nüchterne, ganzheitlich mit Laminat austapezierte Bühne. Im ersten Teil ist das ein enger Irrgarten, der dann mit hohen Schiebewänden zur großen Spiel-Schachtel erweitert wird und im dritten Teil wie ein riesiger Wartesaal wirkt. Während anfangs mit den ineinander gleitenden Szenchen stets alles in Bewegung bleibt, als sei es ein immerwährender Osterspaziergang, suchen die Figuren danach die Rampe als Abschussposition ihrer Tiraden oder belagern in stummer Partnerschaft die Sitzgelegenheiten. Das bringt den Zuschauer bald dazu, den forschenden Blick in die Gesichter mindestens so hoch einzuschätzen wie den Klang der Stimmen und die Hintergründigkeit der Worte.
Die Mühe mit der Leichtigkeit
Natürlich ist der ruckartige Alterungsprozess der Personen auch ein Besuch im Komödianten-Kabinett. Als Ur-Eltern Simon und Ada sind Jochen Kuhl und Renan Demirkan die Leitfiguren: Er spannt sein Familienoberhaupt sehr souverän zwischen Seitensprungkraft und Demenz nach Loriots Tatter-Maß auf; ihr irrlichterndes Gespenst der zermürbenden Nachsicht ist ein schönes Comeback, 30 Jahre nach ihrem Engagement als erstes türkischstämmiges Ensemble-Mitglied in Nürnberg. Noch stärker bringen Frank Damerius und Adeline Schebesch, als "Nicht-Jude" und seine "Stief-Frau" genannte Partnerin, den Humor und die Bitterkeit der Vorlage in die Idealbalance. Elke Wollmann ist als "Kriegsmutter" des jüdischen Mädchens eine verwitternde Heldin in Lauerstellung, würde sie doch gern Ersatz-Ehefrau sein und jederzeit hebräische Lieder singen, die sie nicht versteht. Allen zusammen ist dann doch öfter mal anzumerken, wieviel Mühe sie sich mit der Leichtigkeit geben, die der Autorin so wichtig ist.
Nach den Verwicklungen mit Zweit-Frauen, Dritt-Hochzeiten und aggressiven Generations-Schüben samt E-Gitarre kann auch die verstorbene Ada als unternehmungslustiges Gespenst den hinterbliebenen Witwer nicht mehr verführen. Sie will sich gesellig auf den Mond schießen lassen. Er antwortet: "Weißt du, was das kostet?" Am Ende ist der Stammbaum (den in den Pausen so mancher Besucher hilfesuchend im Programmheft studierte) zu literarischem Kleinholz verarbeitet: "Ich bin die, die sich erinnert. Aber nicht die, der es geschah".
Die 79jährige Judith Herzberg war zur Nürnberger Premiere angereist und verbeugte sich offenbar mit Wohlgefallen an der Aufführung. Das gab dem respektvollen Applaus gegen einige Buh-Rufer noch etwas Aufschwung.
Über Leben (Leas Hochzeit – Heftgarn – Simon)
von Judith Herzberg
Regie: Klaus Kusenberg, Ausstattung: Günter Hellweg, Dramaturgie: Horst Busch, Musik: Bettina Ostermeier
Mit: Jochen Kuhl, Renan Demirkan, Nicola Lembach, Elke Wollmann, Frank Damerius, Adeline Schebesch, Daniel Scholz, Louisa von Spies, Marco Steeger, Michael Hochstrasser, Josephine Köhler, Thomas Klenk, Karen Dahmen, Henriette Schmidt, Julian Keck, Martin Bruchmann
Dauer: 4 Stunden 10 Minuten, 2 Pausen
www.staatstheater-nuernberg.de
Für eine "künstliche und ziemlich konfuse Konstruktion" hält Bernd Noack Judith Herzbergs "Über Leben", wie er in den Nürnberger Nachrichten (10.3.2014) schreibt. Kusenberg hefte sich "bedenken- und ideenlos an Herzbergs Plan". Auf der Bühne stehe und sitze man nurmehr herum: "Stichwort-Theater, bisweilen so öde und mühsam, als wäre alles eingefroren, fest verwurzelt wie der Stammbaum, unverrückbar". Das große Ensemble meistere das alles solide, "doch auch ohne wirklich erkennbare Absicht, aus dieser verordneten Bewegungslosigkeit auszubrechen".
Ganz anders Wolf Ebersberger in der Nürnberger Zeitung (10.3.2014): "Über Leben" sei großes Theater "und ein Verdienst von Klaus Kusenbergs Inszenierung ist es vielleicht gerade, diese Tatsache nicht zu hoch zu hängen". In seiner Inszenierung bleibe alles "lässig, alltäglich, quicklebendig". Der Schwachpunkt dieser Inszenierung sei die Bühne: "ein pastellener Nicht-Ort".
"Ein großer Theaterabend", findet auch Barbara Bogen auf BR 5 (10.3.2014). "Mit geradezu magischem Realismus und ohne moralische Schuldzuweisungen" habe Kusenberg Herzbergs Überlebens-Trilogie in Szene gesetzt. Mit einem Ensemble, "das man selten so konzentriert sah". Ihr Fazit: "ein Riesenerfolg".
Egbert Tholl von der Süddeutschen Zeitung (15.3.2014) würdigt Judith Herzbergs Poesie. Klaus Kusenberg inszeniere "Über Leben" in Nürnberg mit "Sorgfalt" in einem "analytisch klaren Raum", allerdings mit "zu viel Respekt". Der "spröde Psychorealismus, mit dem die Schauspieler die Geschichten ihrer Figuren, die Beziehungen dieser zueinander ausbreiten", wird bemängelt. "Das Problem an Kusenbergs Regie: In ihrer kühlen Klarheit offenbart sie schonungslos alles, was nicht plausibel, zu wenig motiviert, nur 'gespielt' erscheint."
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Einfach mal auch auf ruhige Momente einlassen. Wirken lassen! Größe braucht im Theater keine Macht.
Und: "Über Leben, NüRNberg: Flucht" würde mehr Sinn ergeben - wenn es meiner Meinung nach nicht lauten müsste: "Über Leben, Nürnberg: Staunen"
Gut, daß es 2 Pausen gab, damit man wenigstens in der 2. Pause gehen kann!!