Archäologie der Gefühle

9. Mai 2024. Ein Abend, dessen Inhalt schwer zu greifen ist, der stattdessen Räume für Reflexion und Trauer öffnet. Nach der Theatertreffen-Premiere in der Schaubühne gab es dann auch nicht das traditionelle Publikumsgespräch, sondern stattdessen eine Art Laudatio von Carolin Emcke.

Von Esther Slevogt

"Bucket List" © David Baltzer

9. Mai 2024. Es war das dritte Mal, dass ich "Bucket List" jetzt in der Berliner Schaubühne sah. Diese "Festvorstellung", wie Theatertreffenleiterin Nora Hertlein-Hull es bei der Ehrung ausgedrückt hat, unterschied sich kaum von den normalen Repertoire-Vorstellungen, außer dass statt Moritz Gottwald jetzt Christopher Nell auf der Bühne stand. Gottwald ist in Elternzeit, und Nell übernahm seinen Part, aber Gottwald kam auch zur Ehrung mit auf die Bühne.

Sanfte Bilder, süffige Musik

Dieser Abend, der vergangenen Herbst unmittelbar unter dem Eindruck des Massakers an israelischen Zivilist*innen entstand, der Entführung von über zweihundert Menschen, darunter Alte, Kranke und Säuglinge, und der anschließenden Eskalation im Gaza-Krieg, dem explodierenden Antisemitismus überall, produziert eine Art Archäologie der eigenen Gefühle beim Zuschauen. Die jetzt eben schon ganz andere sind als damals im Dezember (als der Abend heraus kam) und im März (als ich ihn zum zweiten Mal sah). Weniger roh vielleicht, abgeklärter schon, aber auch hoffnungsloser.

Mit ihren sanften Bildern und der süffigen Musik, aus der immer wieder dissonante Störgeräusche dringen, schafft "Bucket List" auf sehr wundersame Weise Räume für Trauer und Reflexion. Vier Menschen (Ruth Rosenfeld, Damian Rebgetz, Carolin Haupt und jetzt eben statt Moritz Gottwald Christopher Nell) besingen hier rund um die Geschichte eines Mannes namens Robert, der seine Erinnerung verlor, mit melancholischem Frohsinn und ungeheurer Präzision die Disruption der Gegenwart, Krieg und Gewalt. Sie singen von blutenden Horizonten und dem schweigenden Stahl des Stacheldrahts. Und von den Handschuhen, die alle längst ausgezogen haben, weshalb nun ihre blutigen Hände sichtbar werden. Doch gegen die Beschreibung des Abends und die Dingfestmachung seiner Bilder und Räume regt sich jetzt hier beim Aufschreiben direkt starker Widerstand. Hat sich doch seit dem 7. Oktober gezeigt, dass die, die immer so nach Kontext schreien, nicht die sind, auf die ich setzen mag. 

Laudatio von Carolin Emcke

In diesem Sinn war es auch eine weise Entscheidung der Festivalleitung, ausnahmsweise kein Publikumsgespräch anzusetzen im Anschluss an die Vorstellung, sondern stattdessen Carolin Emcke um eine Art Laudatio zu bitten, die ihrerseits dann die eigene Archäologie der Gefühle beschrieb. Wie dieser Abend ihr nach dem 7. Oktober überhaupt erst wieder ermöglicht hätte, aus der Agonie wieder ins Fühlen zu kommen. Wie dieses Fühlen aber jetzt, nach sechs Monaten, wieder überlagert sei. Sie zitierte ein kurzes Gedicht des tschechischen Dichters Jan Skácel über die Stille: "die menschen nehmen einander wegen der stille / man hört sie nur zu zweit - anders nicht". Genau das brauche es für die Würde jedes Menschen: einen anderen, der sie achtet und nicht verletzt.

Am Ende sang und spielte das gesamte Ensemble unter der Leitung von Shlomi Shaban dann noch den Titelsong "Bucket List", der es nicht in den Abend geschafft hatte. Vielleicht, weil er zu laut, zu beredt war und nicht genug Platz für die Stille ließ.

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