Asche, Schweiß, gefrorenes Blut

von Janis El-Bira

Berlin, 13. August 2021. Wahrscheinlich ließe sich anhand der Berliner Produktionen der "Dreigroschenoper" immer auch etwas über den aktuellen Gemütszustand der großen Stadt ablesen. Schließlich attestierte schon Elias Canetti der Uraufführung 1928 am Schiffbauerdamm, Bertolt Brecht und Kurt Weill hätten mit ihr den "genauesten Ausdruck dieses Berlin" gefunden.

Traumhochzeit 2021

Achtzig Jahre später – um nur die greifbarere Vergangenheit anzurufen – da zeugten die Inszenierungen von Klaus Maria Brandauer (mit Tote Hosen-Campino im Admiralspalast) und Robert Wilson (sehr Wilson-haft am Berliner Ensemble) von Markenbildung und Widersinn einer selbsterklärten Weltmetropole. Immer ging es dabei um die Frage: Wen lässt man los auf dieses Stück, das im Ruf steht, nicht so wahnsinnig gut gealtert zu sein? Wen betrauen mit dieser notorischen Disparität von Text und Musik, mit jener Ironie, der es so bitterernst um die Sache ist? 

Dreigroschenoper 4 cJR BerlinerEnsemble uFamilie Peachum: Polly (Cyntia Micas), Frau Peachum (Constanze Becker) und ihr Mann, der Bettlerkönig und Elendsunternehmer (Tilo Nest) © JR / Berliner Ensemble

Am Ort der Uraufführung wurde so gesehen jetzt zur Traumhochzeit geladen. Wer anders nämlich als Barrie Kosky, Intendant und Neuerfinder der Berliner Komischen Oper, Operettenexperte und leidenschaftlicher Schatzheber aus dem musikalischen Fundus der 1920er- und 1930er-Jahre, wer anders könnte besser für diese Neuinszenierung qualifiziert sein? Aber dann gehört zum Berliner Selbstverständnis des Jahres 2021 ja auch, dass man nichts Cooleres machen kann, als alle Erwartungen mit großer Geste zu unterlaufen. Und Kosky ist natürlich extrem cool.

Als gelte es, den passenden Ton erst einmal zu ertasten, lässt er Josefin Platt das Gesicht durch den Glitzervorhang stecken und sich wie ein angezählter Boxer in die ersten Takte der Moritat von Mackie Messer schleppen. Auch die Bühne von Rebecca Ringst, ein Klettergerüst als V-effektvolle Andeutung des städtischen Straßen- und Raumgeflechts, und die zunächst ganz in Schwarzweißgrau gehaltenen Kostüme von Dinah Ehm – all das will vor allem eines: kein Spektakel machen.

Aus Wohlfühlsphären stürzen

Wer Zwanzigerjahre-Glitzer sucht, wird ihn an diesem Abend nicht finden. Kein Babylon ist Koskys Bühnen-London, sondern ein zu Beginn kühles, später immer stärker belastetes Netzwerk, das seine Protagonisten in Glück und Elend aufeinander verweist. Der erste echte Schaueffekt der Inszenierung lässt dann auch prompt das Blut in den Adern gefrieren: Gerade noch hatte die Band unter Leitung von Adam Benzwi ihren vollumfänglich spelunkentauglichen, nur um wenige Fettpölsterchen aufromantisierten Weill-Sound ausgestellt, da entreißt Nico Holonics' Mackie dem Dirigenten die Partitur – und zündet sie an. Fünf Jahre nach der Uraufführung der "Dreigroschenoper" verbrannten die Nazis auch die Werke Brechts. Das lässt sofort aus allen Wohlfühlsphären stürzen, fällt aber klugerweise selbst nicht aus der Handlung.

Dreigroschenoper 6 cJoergBrueggemann uDieser Mackie hat ein Messer: Nico Holonics © Jörg Brüggemann

Mit ihrem zündelnden Mackie haben Kosky und Holonics überhaupt eine Interpretation dieser Figur vorgelegt, wie sie kaum Vorgänger haben dürfte. Ein Nachtschattengewächs mit schwarzumrandeten Augen und dicken Ringen an den Fingern, offenkundig dauerdruff in dürftiger Zeit. Holonics spielt ihn als Alphatier, zerstörerisch und charmierend, irre und witzig, speichelnd und schwitzend. Wäre er ein Artist, würde dieser Mackie sich vor dem Drahtseilakt noch die Füße mit Speck einreiben, so fürchterlich und schön ist er. Man wird Nico Holonics künftig mit dieser Rolle in Verbindung bringen, wie er sich verausgabt, ob physisch auf dem "Kanonenboot" mit Tiger-Brown (Kathrin Wehlisch) oder sich in höchster Erklärungsnot windend gegenüber "seinen" Frauen. Das funktioniert, weil Kosky diesen Mackie als Zentrum in ein Ensemble setzt, das den psychologisch einfühlenden Zugang mitträgt.

Die Figuren in den Songs ausmalen

Das geht zwar mit einiger Lust gegen Brecht und kommt gerade in der zweiten Hälfte an seine klamaukigen Grenzen, wenn die intrinsischen Motivationen der Figuren gegenüber deren lehrstückhaften Funktionen im Stück zunehmend weniger plausibel erscheinen. Dafür aber menschelt es hier so gewaltig, dass Brechts Figuren plötzlich wie aller ironischen Distanz entkleidet dastehen.

Dreigroschenoper 1 cJoergBrueggemann uSiehst Du den Mond über Soho? Cynthia Micas (Polly) und Nico Holonics (Macheath) © Jörg Brüggemann / Ostkreuz

Man erlebt eine moralisch hochflexible Polly Peachum (Cynthia Micas), die ins Zaudern kommt, bevor sie in ihrer Ballade die todbringenden Piratenschiffe losschickt, und in Lucy (Laura Balzer) eine ebenbürtige Feind-Freundin findet. Entdeckt in Mackie und Jenny (Bettina Hoppe mit anrührender Zartheit) ein Ex-Liebespaar, das sich biegt vor Traurigkeit in der gemeinsamen Erinnerung an das kleine Glück. Und man leidet mit den Peachums, die Tilo Nest und Constanze Becker als erotisch blockierte Spießer-Gangster anlegen, bei denen vor wie hinter der Haustür in erster Linie die Peitsche regiert. Kosky lässt sein Ensemble die Figuren in den Songs ausmalen, die gestaltet und erzählt, fast nie von der Rampe weggesungen werden. Er liebt Weills Musik sicherlich mehr als Brechts Texte, trotz aller Lebendigkeit, die er in jenen findet

So tickt die Uhr der Inszenierung nicht nach dem Schlag der Zwanzigerjahre, weder dieser noch der letzten, sondern will eindeutig in Richtung Zeitlosigkeit. Das Politische steckt in dieser "Dreigroschenoper" fest in den Köpfen, Knochen und zwischen den Schenkeln. Doch Schweiß, Lachen und Tränen allein bilden eben keine politische Idee aus. Hier und heute mag das manchen zu heiß gefühlt und zu wenig kühl gedacht erscheinen. Ein paar Buhs für den Regisseur im überwiegend großen Jubel deuteten das an. Aber das Berliner Ensemble hat wieder eine "Dreigroschenoper", in der von denen im Dunkeln, ihrem Sein und Bewusstsein, eine ganze Menge zu sehen ist.

Die Dreigroschenoper
von Bertolt Brecht mit Musik von Kurt Weill
Regie: Barrie Kosky, Musikalische Leitung: Adam Benzwi, Bühne: Rebecca Ringst, Kostüme: Dinah Ehm, Licht: Ulrich Eh, Tongestaltung: Holger Schwank, Dramaturgie: Sibylle Baschung.
Mit: Tilo Nest, Constanze Becker, Cynthia Micas, Nico Holonics, Kathrin Wehlisch, Laura Balzer, Bettina Hoppe, Josefin Platt, Heidrun Schug, Julia Berger, Nico Went, Julie Wolff, Nicky Wuchinger / Tobias Bieri, Dennis Jankowiak, Denis Riffel, Teresa Scherhar. Orchester: Adam Benzwi / Levi Hammer, James Scannell, Doris Decker, Vít Polák, Otwin Zipp, Stephan Genze, Ralf Templin.
Premiere am 13. August 2021
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.berliner-ensemble.de

 

Kritikenrundschau

"Nicht ohne weiteres beantworten" lasse sich nach dieser hocherwarteten Premiere "die nicht unwesentliche Frage, was jetzt diese im sozialen Milieu von Verbrechen und Prostitution spielende und dabei für das Publikum so herrlich anschlussfähige, kleinbürgerliche Drama mit der Gegenwart zu tun haben könnte", schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (online am 14.8.2021). Mit dem nackten Bühnenbild von Rebecca Ringst trage die Inszenierung ihren Willen zu zeitloser Modernität vor sich her. "Das Hauptinteresse scheint bei dem Opernregisseur weniger im Schauspielerischen als im Musikalischen gelegen zu haben." Das siebenköpfige Orchester im Graben verbreitete viel gute Laune und scheine sich zwischenzeitlich mindestens zu verdoppeln. "Aber vielleicht liegt es an den Mikroports, dass gesanglich wenig Vielfalt, dafür aber eine durchgehende Verhaltenheit zu vernehmen ist."

Auf eine junge Truppe setze Regisseur Barrie Kosky bei dieser Inszenierung, schreibt Rüdiger Schaper im Tagesspiegel (14.8.2021). Auch findet der Rezensent, dass Kosky "Tempo mache", den Klassiker "ironisiere" und eine Inszenierung der starken Frauen zeige. Doch trotz Lob für eine kreative, körperlich herausfordernde Bühne und die Kostüme ("großstädtisch" sei ihre Wirkung) ist der Rezensent final nicht ganz zufrieden mit dieser Dreigroschenoper: "Man sehnt sich dann doch nach Klarheit und Schärfe", meint er schlusssendlich und sieht eine Arbeit, in der das parodistische Element der Textvorlage für bare Münze genommen werde.

"Kein Glotzen, keene Romantik. Dafür wird gegendert", fasst Manuel Brug in der WELT (14.8.2021) den Abend zusammen. Die "längst schale" Brechtsche Moral werde mitunter "an der Rampe" ausgestellt, findet der wenig begeisterte Rezensent, dessen Schlussurteil dann auch eher lakonisch ausfällt: "Von wenig prominenten Darstellern professionell und botschaftslos musicalisiert. Das wird laufen."

"Zwischen Operette und Musical bewegt sich denn auch der Abend am BE, die Schauspieler sprechen und singen abwechselnd - solo, im Duett, im Chor und nehmen dabei auch mal den manierierten Gesang der klassischen Oper augenzwinkernd auf die Schippe", berichtet Rezensentin Cora Knoblauch im rbb (14.8.2021) erfreut. Koskys Inszenierung sei "beinahe selbstironisch". Das Premierenpublikum habe für die Regie einige Buhrufe übrig, dies sei allerdings ganz anders bei Band und Schauspieler:innen-Ensemble. Ein Eindruck, den die Rezensentin teilt. Sie schließt mit einer Prognose: "Die Kosky'sche Neuauflage der Dreigroschenoper wird dem BE, genau wie damals Ende der 1920er-Jahre, einen neuen Kassenschlager bescheren."

Mehr Posie aus der Musik und den Texten herauszuholen, das sei Barrie Kosky "gelungen", sagt André Mumot im Deutschlandfunk Kultur (13.8.2021). Es sei "vor allen Dingen ein musikalischer Abend", aber das Stück "vermittelt seine Botschaften ziemlich deutlich – auch in dieser Inszenierung". Dennoch sei das ein Abend, der sich "ganz als Komödie" definiere, "unterhalten" wolle und die "große Show" anstrebe – was er auch erreiche. Zu sehen sei ein "unglaublich interessantes, starkes Ensemble", das den traditionellen Brecht-Ton bewusst unterlaufe, findet der Kritiker – und prognostiziert der Inszenierung, ein "ziemlicher Hit" zu werden.

Eine "bunte Revue", allerdings "etwas spröder als von Kosky gewohnt", schreibt Helmut Mauró in der Süddeutschen Zeitung (15.8.2021). Die Inszenierung lebe "von den hervorragenden Darstellern", dem "virtuosen" Nico Holonics, "dämmere" aber "streckenweise inmitten bunter Lichter und perfekter Kostüme vor sich hin". Es entstehe der Eindruck, Kosky wolle "anlässlich des Jubiläums der Uraufführung vor 100 Jahren [sic] das Werk noch einmal ganz ernst nehmen und das Schwere leicht machen". Der Regisseur suche "muntere Unterhaltung um beinahe jeden Preis". Es sei aber eine "kaum zu unterschätzende Gefahr", dass "auch umgekehrt das Leichte schwer werden kann".

"Wie im Höhenflug" vergehen diese drei Stunden, ist Simon Strauß in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (16.8.2021) begeistert. Kosky und das "phänomenale Schauspielensemble" schenkten "der Theaterhauptstadt einen neuen, rasanten Renner". Brechts Parabeln hätten an diesem Abend "nichts Verstaubtes, nichts Volkspädagogisches an sich, sondern gewinnen eine neue Verführungskraft, die sich ganz aus der Großzügigkeit ihrer Gestaltung ergibt". Zu sehen sei eine "ausgelassene Feier des Lebensspiels", eine "Rückeroberung des Bühnenraums", auf die "zu Recht so lange gewartet" werden musste.

"Das ist populäres Theater im allerbesten Sinn, drei Stunden lang Kurzweil und Wiedererkennen eines lieben Klassikers", schreibt Thomas E. Schmidt von der Zeit (18.08.2021). "Der Ausdruck ist einfach und sinnfällig, die Regie arte povera, wenn man so will." Viel werde an der Rampe gesprochen und gesungen, die ganz große Schauspielkunst finde also nicht statt. Den Hauptdarsteller hebt Schmidt dennoch hervor: "Nico Holonics ist ein Riesen-Unterhaltungstalent, ein natürlicher Performer, er ist ein energetischer, hasenzähniger Wirbelwird, komisch und dämonisch zugleich."

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