Per Anhalter durchs Schnulzodrom

5. Mai 2024. Als das Stück entstand war der Kalte Krieg gerade am Gefrierpunkt, die Ideologien betoniert, und die Wissenschaft leistete Beihilfe zum Atomkrieg. Nun sind die Verhältnisse komplexer, aber nicht minder verwirrend. Also haben Tom Kühnel und Jürgen Kuttner aus dem Dürrenmatt-Klassiker eine kleine Querdenker-Groteske voller Wahnwitz gemacht.

Von Reinhard Kriechbaum

"Die Physiker" von Friedrich Dürrenmatt am Landestheater Linz © Petra Moser

5. Mai 2024. Nicht die Katze beißt sich in den eigenen Schwanz, sondern die Schlange. Eine überdimensional falsche Schlange. Sie wird als einziges Ausstattungsstück übrigbleiben von jenem Dschungel-Gewirr, mit dem Ausstatterin Johanna Pfau die Bühne des Linzer Landestheaters vollgepfropft hat.

Grotesk, aber nicht absurd

Was der Kriminalinspektor von der Psychiatrie und ihren Methoden hält, hat er uns schon anfangs wissen lassen, als er vor dem Vorhang einschlägige Witze mit alten Bärten erzählt hat. Wenn Dürrenmatt anfängt, sind wir also schon eingestimmt drauf, dass hier jeder jedem wenig glaubwürdige Dinge vorspielt. Echt ist nur das Lampenkabel, mit dem Einstein die ihn exklusiv betreuende Krankenschwester erdrosselt hat. So wie Newton Monate zuvor bereits die Seine. Und auch Möbius wird die ihm allzu nahe kommende gute Fee ins Jenseits befördern. Da sind wir dann live dabei. Das Wort "Mord" passt natürlich nicht, weil die Protagonisten ja als unzurechnungsfähig gelten. "Unglücksfall", mahnt die Klinikchefin, Fräulein Doktor Mathilde von Zahnd, wieder und wieder ein.

"Eine solche Geschichte ist zwar grotesk, aber nicht absurd (sinnwidrig)" hat Dürrenmatt als Statement Nummer zehn der 21 Punkte zu den Physikern seinem aus der Zeit des Kalten Kriegs (Uraufführung 1962) stammenden Stück in der Druckausgabe nachgeschickt. Das setzen Tom Kühnel und Jürgen Kuttner um, indem sie die Groteske ausreizen. Gemeinsam mit Joachim Werner am Keyboard entwerfen sie eine überdrehte Musikrevue, längs und quer und kreisum durchs Pop-Schnulzodrom. Was man nicht aussprechen will, soll oder darf, das kann wenigstens gesungen werden oder ironisch im Playback tönen.

Wissenschaftsskepsis als Agenda

Ins Agententreiben der drei hinterlistigen Schmierenkomödianten und dem sie überlistenden "Fräulein" kommt so manches Text-Apercu hinzu. Aber Dürrenmatts Text bleibt eins zu eins stehen (nur ein paar Randfiguren sind gestrichen). Er darf also seine Aktualität beweisen. In einer Zeit, da künstliche Intelligenz wie ein Damoklesschwert über uns hängt und Wissenschafts-Skepsis zur volksverführenden politischen Agenda geworden ist, taugen" Die Physiker" allemal als Stück der Stunde. "Der Inhalt der Physik geht die Physiker an, die Auswirkung alle Menschen" (Punkt 16) – wie lapidar, und wie wahr.

Physiker1 1200 Petra Moser uIm Dschungel fallen die Masken: Klaus Müller-Beck, Alexander Hetterle © Petra Moser

Dahin ist schließlich alle Dschungel-Vegetation, tot sind die Krankenschwestern, ersetzt durch "männliche Pfleger" (bei Dürrenmatt), hier: durch einen kleinen Big Brother, einen Pflege-Roboter, der rot und grün blinkt. Da lassen die drei Insaßen der Irrenanstalt ihre Masken fallen. Aus Vorsicht flüsternd verständigen sie sich. Die bizarre Tragikomik wird überhöht, weil es ihnen immer noch schwer fällt, die auf Jahre gut eingeübten Verstellungs-Gewohnheiten abzulegen. Und dann kommt ja noch der Showdown des "Fräulein Doktor"...

Lustvoll überdreht

Wo anfangen, die hoch perfektionierte und vom Ensemble des Linzer Landestheaters lustvoll ausgespielte Komödiantik zu beschreiben? Bei besagtem Fräulein Doktor vielleicht, der Gunda Schanderer mal eine Anmutung des Charmes von Mireille Mathieu, mal die Strenge der Loriot-Begleiterin Evelyn Hamann gibt. Eva-Maria Aichner hat als gestrenge Oberschwester und als Frau Missonar Lina Rose (Möbius' geschiedene Gattin) lustvoll überdrehte Auftritte. Ein mechanisch-puppenhaftes Wesen gibt Nataya Sam als Krankenschwester Monika. Christian Taubenheim (Newton), Sebastian Hufschmidt (Einstein) und Klaus Müller-Beck (Möbius) sind ein Trio infernal zum Totlachen und Mitweinen. Ein jeder spielt seine Macken aus, und doch sind diese verkappten Wissenschafter als gleichgestimmte, aber ausweglos gefangene Gruppe bloß Grandes guignoles. Ausgegrenzt und sich selbst ausgrenzend.

Physiker5 1200 Petra Moser uNoch walzt Möbius mit Krankenschwester Monika: Nataya Sam, Klaus Müller-Beck © Petra Moser

Sie werden sich Affenmasken überstülpen. Nichts sehen, hören, sprechen? Vor sieben Jahrzehnten war für Dürrenmatt die Sache klar, die ideologische und atomare Welt zweigeteilt in Ost und West. Jetzt ist sie diffuser, aber die Folgen sind dieselben: "Jeder preist mir eine andere Theorie an, doch die Realität, die man mir bietet, ist dieselbe: ein Gefängnis", befindet Möbius. "Da ziehe ich mein Irrenhaus vor. Es gibt mir wenigstens die Sicherheit, von Politikern nicht ausgenützt zu werden."

Wunderbar un-belehrend

Gilt nach wie vor, so wie Dürrenmatts Thesen 20 und 21: "Wer dem Paradoxen gegenübersteht, setzt sich der Wirklichkeit aus." Und: "Die Dramatik kann den Zuschauer überlisten, sich der Wirklichkeit auszusetzen, aber nicht zwingen, ihr standzuhalten oder sie gar zu bewältigen." Das Theater von Tom Kühnel und Jürgen Kuttner ist – wohl ganz in diesem Sinne – wunderbar un-belehrend. Hinterhältig und fintenreich lustvoll.

Die Physiker
Komödie von Friedrich Dürrenmatt
Regie: Tom Kühnel, Jürgen Kuttner, Bühne und Kostüme: Johanna Pfau, Musik: Joachim Werner, Dramaturgie: Martin Mader.
Mit: Gunda Schanderer, Eva-Maria Aichner, Nataya Sam, Christian Taubenheim, Sebastian Hufschmidt, Klaus Müller-Beck, Eva-Maria Aichner, Alexander Hetterle.
Premiere am 4. Mai 2024
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.landestheater-linz.at

Kritikenrundschau

"Ulk und Komödie als Nährboden für eine möglichst ausgedehnte Fallhöhe in menschliche Abgründe. Großartig!", schreibt Helmut Atteneder in den Oberöstereichischen Nachrichten (6.5.2024). Das Setting, skurrile Texte, Ticks machten diese Physiker zum Gesamtkunstwerk.

Das Regie-Duo Tom Kühnel und Jürgen Kuttner mache aus der Schullektüre "eine musikalische Groteske", so Elisabeth Rathenböck in der Kronen Zeitung (6.5.2024). Vieles bleibe doppelbödig, fintenreich. Das Sanatorium wirke wie ein Dschungelcamp. Kriminalinspektor Voß führe "durch das schrille Wechselbad aus wahnwitzigen Singnummern und beinharten Wortduellen über die Freiheit der Physik versus Missbrauch durch politische Mächte". Fazit: "Eine grandiose Inszenierung von hoher Brisanz!"

Dürrenmatts Komik, Zynismus und Pathos gingen verloren im hübschen Dschungel, findet Eva Hammer im Oberösterreichischen Volksblatt (6.5.2024). "Umso brisanter steht die Fragwürdigkeit von Wissenschaft, Macht und Wahrheit im Raum. Ein optischer und akustischer Genuss!"

Kommentar schreiben