Woyzeck - Schauspiel Leipzig
Wanderers Horrorfilm
28. April 2024. Licht- und Schattenspiele, Nebel, Auftritt eines Horror-Clowns - mit düsteren Bildern inszeniert Enrico Lübbe am Schauspiel Leipzig Georg Büchners "Woyzeck". Und lässt ihn in diesem illustrierenden Ambiente wie gehabt das Messer zücken.
Von Tobias Prüwer
28. April 2024. "Ping, ping, ping, ping, ping": Leise und doch die Stille durchschneidend klingt das Schlagzeugbecken. Anschläge auf tief tönende Klaviersaiten verstärken das Gefühl einer tickenden Uhr. Die Töne bauen permanenten Druck auf, erschaffen eine anhaltende Spannung, die sich in großen Bildern entlädt. Visuelle Wucht und Verdichtung, Rhythmus und Tempo sind die Mittel, mit denen Enrico Lübbe das "Woyzeck"-Fragment in Leipzig zu einem ganzen, ja: ganz hervorragenden Abend ins Bild setzt.
Inhaltlich geschieht viel, dafür, dass gut zwei Dutzend Szenen des unvollendeten Dramas aus Georg Büchners Hand erhalten sind. Im Grunde wiederholt sich darin stets höchst Ähnliches. Hauptmann, Arzt et al. demütigen den Soldaten und das Diät-Versuchskaninchen Franz Woyzeck. Äußere Umstände machen ihn zu einem Getriebenen, der doch nur für seine geliebte Marie und das ungeborene, uneheliche Kind sorgen will. Dann kommt mit dem Nebenbuhler ein weiterer Störfaktor ins Spiel. Woyzeck greift zum Messer. Ein Blutstrom platscht auf den Bühnenboden.
Immer zu, immer zu
"Die Natur kommt! Die Natur!", erklärt der Arzt. "Woyzeck, der Mensch ist frei, im Menschen verklärt sich die Individualität zur Freiheit. Er ist ein interessanter Kasus. Subjekt Woyzeck". Das Sein bestimmt hier das Bewusstsein und das Schicksal. "Immer zu, immer zu", intonieren betrunkene Soldaten den Lebenstakt des Getriebenen namens Mensch. Daher streicht Team Lübbe den Text auf wenige Szenen zusammen, die Woyzecks Objekt-Status verdeutlichen.
"Immer zu" prangt als Motto über der Kulisse, die eine Wand mit vielen Türen ist. (Bühne: Etienne Pluss) Die lässt sich in mal zu Zimmern oder Gängen zusammenschieben. Oft bleibt sie einfach Wand, deren Türen sich in einfacher Symbolik öffnen und vor allem schließen lassen. Kreiselt die Wand auf der Drehbühne, treten imposante Lichteffekte aufgrund der Öffnungen auf. Das Spiel des Lebens entpuppt sich als karussellförmig. Schnell wechselnde Filmprojektionen unterstreichen den Charakter der inhaltlichen Verdichtung, aber auch den Eindruck des fatalen Kreisens auf einen finalen Fluchtpunkt hin. Als Übergang zwischen den Szenen dient lautes Schlagzeug-Getrommel, das seinerseits die Spannung hält.
Sequentiell erzählt
Die Farben von Bühne und Kostümen sind vor allem verwaschen-pastellartig gehalten. Alles wirkt düster und vage. Marie hingegen wird in ihrem roten Kleid als Objekt der Begierde – nicht nur Woyzecks – ausgewiesen. Plakativ ist auch das Spiel, soll es sein.
Die Dialoge werden langsam aufgesagt, auch hier auf Spannung abzielend. Differenzierungen kommen nicht vor, sollen es nicht. Als Hauptmann ist Tilo Krügel ein herrlich herrisches Abziehbild, Bettina Schmidt bleibt nicht viel, als sich ansehen zu lassen, wie gut ihr die rote Garderobe steht. Christoph Müllers Woyzeck ist anzusehen wie ein großer Junge, ein Tropf, der die Welt nicht verstehen kann. Auch die anderen fügen sich gut in die schablonierte Erzählweise ein. Denn diese funktioniert ähnlich einem Comic – manche sagen auch: Graphic Novel – und seiner sequentiellen Erzählkunst. Die Wortanteile sind oft recht lapidar, dafür transportiert die Bildebene die Emotionen.
Auftritt des Horror-Clowns
Das gelingt in Leipzig durch kontrastreiche Licht- und Schattenspiele, Nebel und die Bühnenwand-Segmente, durch die wechselnde Perspektiven für den Getriebenen entstehen. Projektionen verstärken den Taumel. Sie lassen kurz auch so etwas wie Woyzecks Kopfkino aufblitzen, bevor die Konzentration wieder aufs Außen, auf die Hülle gelenkt wird.
Die Klavier- und Drum-Klänge helfen auf einer weiteren Sinnebene dabei, knistern im Hintergrund, treiben teilweise laut das Tempo an. Gespenstische Züge bringt eine hinzugedachte Figur hinein, die aus Neil Gaimans Comic-Fantasien entsprungen sein könnte.
Der Wanderer sieht wie eine Art Vogelscheuche aus: schlacksige, überlange Glieder, gebeugter Rücken und langes, graues Haar. Mit seinem roten Luftballon trägt er allzeit die Insignie des Horror-Clowns bei sich, wenn er wie der Plumsack umgehend in schrille Gesänge ausbricht und den Tod verbreitet. (Spooky: Niklas Wetzel) Das Schreien bestimmt das Bewusstsein. Er stellt das düstere Geheimnis dieses Abends dar, der nicht psychologisiert, sondern einfach illustriert. Aber das in großen Bildern.
Woyzeck
von Georg Büchner
Regie: Enrico Lübbe, Bühne: Etienne Pluss, Kostüme: Bianca Deigner, Video: Robi Voigt
Musikalische Konzeption: Philip Frischkorn, Dramaturgie: Torsten Buß, Licht: Jörn Langkabel. Mit: Christoph Müller, Bettina Schmidt, Tilo Krügel, Michael Pempelforth, Wenzel Banneyer, Samuel Sandriesser, Paula Winteler, Niklas Wetzel als Wanderer, Bruno Akkan, Luca-Noél Bock, Aicha-Maria Bracht, Joshua Dahmen, Fritz Manhenke, Emmeline Puntsch.
Premiere am 27.4.2024
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.schauspiel-leipzig.de
Kritikenrundschau
Es gehe spektakulär zur Sache, so oder so erschließen sich viele Entscheidungen, doch es helfe auch, "wie leider oft bei Lübbe, den zugrunde liegenden Text genauer zu kennen als nur die Geschichte in ihren Konturen", schreibt Cornelius Pollmer in der Süddeutschen Zeitung (30.4.2024). Gleich zu Beginn stehen sie Christoph Müller als Woyzeck und Bettina Schmidt gegenüber, "als stünde das Ende kurz bevor". Immer stärker drehe sich die Bühne, "immer undurchsichtiger sind die Grenzen zwischen Realität und Einbildung und Wahn in den von Robi Voigt hervorragend eingehängten Videoprojektionen".
"Büchners Bruch- als Bravourstück" ist Andreas Platthaus' Kritik in der FAZ (29.4.2024) untertitelt. Christoph Müller als Woyzeck sei kein Dreißigjähriger wie in Büchners Vorlage, sondern ein lebens- und leiderfahrener Mittfünfziger, und auch Bettina Schmidt als Marie ist alles andere als eine junge Naive. "Lübbes Regie und Textarrangement arbeiten aufs Schönste eine fatalistische Weisheit dieser beiden Figuren heraus." Die Szenenfolge wechsle schneller, als man es je zuvor gesehen hat, und auch das werde Büchner gerecht. Was am Ende folge, sei bekannt, und es ist schade, dass Lübbe nicht den Mut gefunden habe, das auszusparen. Fazit: "Es ist diese irritierend immersive Intimität, die den Leipziger 'Woyzeck' sehenswert macht."
"Hier greift kein junger, ungestümer Woyzeck zum Messer, lässt sich die Tat nicht als Eifersuchtsdrama abtun", so Dimo Rieß in der Leipziger Volkszeitung (29.4.2024). "Dieser Woyzeck irrlichtert als sensibler Geist, kämpft mit den Umständen, den äußeren Erwartungen, den inneren Dämonen, verstrickt sich in diesem Kampf
und unterliegt." Musik, Bühne, Spiel greifen atmosphärisch ineinander. "Die Krux ist, dass der Abend, gerade weil er das Wesentliche früh auf den Punkt bringt, ebenso früh auserzählt wirkt."
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Für mich liest sich das wie ein Total-Verriss, der sich oberflächlich als Super Kritik ausgibt. Ist das so gemeint?
Was ich vor allem vermisse ist ein Wort zur den beiden komplett gegen den Typ besetzten Hauptfiguren.