Achterbahnfahrt mit Louis-Vuitton-Tasche

von Georg Petermichl

Wien, 6. Dezember 2008. DER Pollesch ist zur Wiener Burg zurückgekommen, womit sich eine gelebte Liebesbeziehung erzählt. Auf der einen Seite: der große deutsche Theatermaschinist, dessen Stücke sich dem Aufführungsort und seinem Zeitgeschehen anpassen. Damit umschifft er nicht nur die einbetonierten Fronten zwischen Regie- und Autorentheater, denn er macht beides in Personalunion. Er kann auch den Erzählungen anderer ausgiebigst misstrauen, weil sie tradierte Wertkonstellationen – hübsch verpackt und unhinterfragt – weiter tragen.

Auf der anderen Seite steht eine exquisite Theatermaschine, die sich ihre Burgpersönlichkeiten möglichst dauerhaft einverleibt und sie nach dem Ableben zeremoniös einmal ums Burgtheater trägt. Das Premierenpublikum im Akademietheater feiert René Pollesch für "Fantasma" genauso frenetisch, wie einst für "Das purpurne Muttermal" (2006), das dort soeben abgesetzt wurde.

Metapher für angewandtes Misstrauen

Damit sei einer der wenigen Kontexte gespannt, die zwischen dem an diesem Abend mikroskopisch zerlegten Bühnenthema – der Liebe, die erst in ihrem Scheitern zur lebensnahen Banalität zerschmilzt – und dem riesigen Firmament der globalen Finanzkrise ausgelassen wurden: René Pollesch ist zur Figur geworden. Dem kann er misstrauen, wie er will: Das Leben schreibt nun mal Geschichten; und die vom Künstler, der für sein Schaffen das Publikum wie den Theoriekontext gleich mitliefert, ist eine der traditionsreichsten.

Mit der Vorderfront einer Geisterbahn hat Bert Neumann jedenfalls eine zweistöckige Metapher für angewandtes Misstrauen gegenüber jeglichem Gespinst bereitgestellt. Herrschaftlich mit Balustrade ausgestattet, steht in schillernden Pailletten "Thriller" drauf. Von den thrillenden Vorgängen hinter ihrer Fassade berichtet der dort ebenso applizierte Videoscreen. Das ermöglicht dem Ensemble, minutenlang hinter ihrer Kulisse zu verschwinden, und mit Hilfe von ein paar Dutzend Bühnenarbeitern Truffaut'sche Filmrealität zu spielen. In dieser Grundkonstellation breiten sich nun die notorisch (über-)fordernden Schachtelsatzkaskaden aus.

Wir lieben unsere Vorstellung!

Im Kern davon hat sich Sophie Rois zu Beginn in den Maschen oder Rüschen ihrer schnell wechselnden Filmdivenkleidung verloren. Sie probt mal verbittert, mal trotzig den Aufstand einer verflossenen Liebe. Martin Wuttke, ihr Konterpart, gibt sich gelassen. Er hat seine täuschende Ruhe in einen gemütlichen Paisley-Morgenmantel gehüllt. Rundum stehen Konsulenten bereit: Daniel Jesch – intellektuell in Schwarz-Weiß gehalten, Stefan Wieland – er trägt die Nerdmontur eines Ornithologen, Hermann Scheidleder – als verbohrter Gesellschafter in Abendgarderobe, und Sachiko Hara – ist als wunderbares Hysteriemoment in abstruses Schottenkaro gehüllt (Kostüme: Janina Audick).

Rois und Wuttke probieren sich wechselweise in den Hauptrollen der "Nackten Kanone", Frank und Jane. Zusätzlich sind sie sich aber ihrer Schauspielerrolle bewusst. Ihre Souffleuse steht auf der Bühne bereit. "Wir lieben in unsrer Vorstellung", meint Rois doppelbödig. "Und vielleicht ist es sogar der einzige Ort an dem wir Erfahrungen machen können. Und jetzt küss mich!" Damit wäre der Bogen zu Giorgio Agamben und seinem Begriff vom Fantasma gespannt – der Traum war von der Antike bis zur drogenreichen klassischen Moderne ein Ort, an dem man Erfahrungen machen durfte.

Performative Einübung der Theorie

In der finanzmarktorientierten Welt, da regiert und reagiert allerdings die Vernunft der Zahlen, was bei Pollesch problemorientiert wiederum mit dem Thema der Liebe verbunden wird. Mit einem Abstecher zur Wechselseitigkeit von Kapitalismus und Kommunismus in China ist das Gegenmodell dazu nachzulesen bei Boris Groys. Schließlich lässt sich auch der verbittert kämpferische Duktus von Wolfgang Pohrt im Stück nachweisen. Judith Butler sowieso.

Letztlich geht man aber grundlegend der Frage nach, ob der Tod einer Ära, sei's nun in der Liebe, im Theater oder im Kommunismus, erst ihre Greifbarkeit vervollständigt, so dass sie aus universeller Sicht erfahrbar wird. Warum denken wir nicht mehr ... prozessorientiert? René Polleschs performativer Einübung von Theorie ist nichts vorzuhalten: Sie ist in die Bühne eingeschrieben, wird genügend wiederholt, und mit professionellen Kunstgriffen zu einem witzigen, trippelnden Energiebündel gezimmert.

Im Umfeld einer Themenverfehlung

Natürlich liebt man Sachiko Hara vor der Windmaschine, die sie fast von der Matratze fegt, während sie vor der Projektion einer Achterbahnfahrt abwechselnd eine Zigarettenstange und eine Louis-Vuitton-Tasche präsentiert. Sie tut das, um die Bedeutung eines Gegenübers im Umfeld von Objekten zu verdeutlichen. Einmal japanische Touristin. Einmal Vietnamesin. Natürlich liebt man auch Rois, mit ihrer ausladenden Gestik der bockig vollführten Rollenübernahme.

Alle Darsteller sind in ihrer Eigenart ins Herz zu schließen. Und doch fühlt man sich im Umfeld einer Themenverfehlung: Wenn es darum geht, dass die Erfahrung von Liebe samt ihrer Vorbehalte möglicherweise nur im Fantasma besteht: Warum, bitteschön, kann das nicht unprätentiös in Theaterpraxis umgesetzt werden? Misstrauisch gegenüber Glücksmomenten, das sind wir doch sowieso.

 

Fantasma (UA)
von René Pollesch
Inszenierung: René Pollesch, Bühne: Bert Neumann, Kostüme: Nina von Mechow.
Mit: Sachiko Hara, Sophie Rois, Martin Wuttke, Daniel Jesch, Hermann Scheidleder, Stefan Wieland.

www.burgtheater.at


Mehr Pollesch? Im Juni hatte in Mülheim an der Ruhr Teil 1 der Ruhrtrilogie Das Tal der fliegenden Messer Premiere, worüber Pollesch hier höchstpersönlich spricht – als seine Stuttgarter Inszenierung Liebe ist kälter als das Kapital bei den Mülheimer Theatertagen Stücke '08 lief. In Berlin inszenierte Pollesch zuletzt im April 2008 Darwin-Win & Martin-Loser-Drag-King & Hygiene auf Tauris.

 

Kritikenrundschau

In der Online-Ausgabe des österreichischen Kurier (7.12.2008) schreibt Michaela Mottinger, worum es in "Fantasma", dem neuen Abend von René Pollesch am Wiener Akademietheater, geht: "Um Vorstellung, beziehungsweise um deren Errettung vor der Realität … Um Perspektive beziehungsweise deren beständigem Wechsel." Und um zwei Fragen: "1. Warum hat China dem Kommunismus abgeschworen und sich dem Kapitalismus zugewandt? 2. Warum schaust du mich nicht mehr verliebt an?" Das Ganze: "Polleschs bunter Materialmix, eben." Martin Wuttke und Sophie Rois: "beide brillant". Die Souffleuse: "hat den Text im Griff. Und die Vorstellung. Sie hat die Kraft." Und die Lehre: "Pollesch-Stücke verhalten sich zum Theaterbesucher wie die französische Grammatik zu den Ausnahmen ihrer Regeln. Man nimmt sie zur Kenntnis; liebt, lernt. Oder lässt es. An dieser Stelle wurde für Ersteres entschieden."

Im Standard (9.12.2008) berichtet Margarete Affenzeller (zum Artikel muss man sich durchklicken) dass die Premiere "einhellig" bejubelt wurde und urteilt: "zu Recht". Polleschs "Qualität" als Autor und Regisseur sei, "dieses Verknüpfen-Können von vorderhand nicht Verknüpfbarem, die Beweglichkeit im Denken". In einer "Geisterbahn" zeige er diesmal, dass "die Gäste die Monster" seien, die als "Rüsselgesichter und Orksköpfe" ins Publikum grüßten, wenn sie wieder herauskämen, während im Dunkel selbst, im Inneren der Geisterbahn, die echten menschlichen Erfahrungen gemacht würden. Gespielt werde "mit kühner Heiterkeit", Kulissendurchbrüche glichen "Gedankenausbrüchen" – "Ich lasse mir meine Vorstellung nicht als Wirklichkeitsminderung diffamieren", lautet ein wiederkehrender Stehsatz.

Norbert Mayer
in der Presse (9.12.2008) hatte die Inszenierung nach einer Stunde schon verloren gegeben. Als die Schauspieler bereits "ermattet in der Endlosschleife der immer gleichen Sätze" hingen und nichts mehr zu kommen schien. Dann aber habe sich das Ensemble zu einer "furiosen finalen Fahrt" aufgeschwungen, während der Sachiko Hara als vietnamesische Schwarzmarkthändlerin respektive japanische Touristin mit einer Stange Zigaretten respektive einer Vuitton-Tasche in der Hand zeigte, dass "die Rollen in dieser Welt durch die Waren bestimmt" würden. Dem "anarchischen Denker" Pollesch sei "erneut ein hermetisches Kabinettstückerl" gelungen, in dem er allerhand Bilder- und Textfolien "zu einem Handlungsmuster" verwebe, "in dem sich immer wieder deformierte Metaebenen des Verstehens auftun": "ein tolldreister Abend zum Liebhaben". "Pollesch passt zu Wien, weil er den Schauspielerkult pflegt. Er ist der Schopenhauer unter den Edgar-Wallace-Imitatoren, die sich die Welt als das Wilde vorstellen."

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