Narziss im Spiegelwald

von Christian Rakow

Potsdam, 30. Januar 2015. Im Sounddesign, ja da liegt's. Diese eisig rieselnden Einsamkeitsnoten, die sich in endlosem Elektro-Hall verlieren, diese fragmentierten Akkordfolgen – sie haben ihr Geheimnis. In minimalistischer Schönheit entrückt Klangkünstler Malte Preuß die Szenen, reißt ganze Weltenahnung auf, so zwischen Ton und Ton.

An der Schwelle

Und in seinen ruinenhaften Klanggewölben möchte das Geschehen verwandelt scheinen. Zumindest am Anfang. Da wird die leere, dunkle Probebühne, die Wolfgang Menardi für diesen "Hamlet" im Hans Otto Theater Potsdam eingerichtet hat, zum rätselhaften Nirgendort. Da wirft man Daunenfedern, und es ist ein Schneesturm über dem Schloss Helsingör. Da tropft sich Hamlet Kunstblut auf den Unterarm, und es wirkt wie ein tiefer Schnitt ins lebensmüde Fleisch – eine Selbstmordgeste aus Ekel und Gram über den Tod des Vaters und die allzu schnelle Neuvermählung seiner Mutter mit dem Onkel. "Oh, schmölze doch dies allzu feste Fleisch."

hamlet1 560 hlboehme uOphelia vor den Spiegeln: tot. © HL Boehme

Dieses betont handwerkliche, zeigefreudige Spiel mit Theaterzeichen, wie man es aus den späten Arbeiten von Jürgen Gosch kennt, kriegt durch die Klangummantelung eine eigentümliche Patina. Später an diesem Abend wird Regisseur Alexander Nerlich die Rückwand seiner Probebühne auseinanderbauen, die Teile wenden, auf dass frei bewegliche Spiegelsäulen entstehen. Und wenn dann Figuren wie in einem surrealen memento mori in diesem Spiegelwald verschwinden, dann ahnt man, dass das Interesse dieses Abends im Atmosphärischen liegt, dass er das Unbewusste und Unbehagliche aufspüren will. Unterhalb der Worte, der Haltungen, der Figuren kratzt Nerlich mindestens für Momente an jener Schwelle zwischen Fakt und Fiktion, Witz und Wahn, Sein und Nichtsein, auf der der verhinderte Vaterrächer Hamlet balanciert.

Seelenkraterlandschaften

Allein, der Abend ist denn doch kein Klangkonzert und auch kein surreales Gemälde, sondern das bekannte Vergeltungsdrama, drei Stunden lang, weitgehend getreu am Text gebaut (im letzten Akt wurde etwas beherzter gekürzt). Und für dieses Drama und seine Figuren hat Nerlich, mit dem sich in Potsdam seit Horváths "Jugend ohne Gott" oder zuletzt dem (für das nachtkritik-Theatertreffen nominierten) Urfaust hohe Erwartungen verbinden, diesmal verblüffend wenig aufzubieten. Eigentlich nur Volldampfpathos. Ungebremst stürzt Alexander Finkenwirth seinen Hamlet in krawallige Seelenkraterlandschaften. Als Yuppie wie aus der Feder Christian Krachts hebt er an, um dann den Narzissmus seiner Figur im Spiegelgewirr ganz auszuleben. Jeder Auftritt ein Monolog, ob allein oder mit Anwesenden, jede Geste wie von den Altvorderen der Theaterhistorie gelernt.

Um ihn herum trägt der Hofstaat nicht minder dick auf: Wolfgang Vogler als Unternehmerdarsteller Claudius und Bernd Geiling als sein Prokurist Polonius. Alles tönt frontal ins Publikum. "Die Worte fliegen auf, der Sinn bleibt unten." Nebenher verbindet Claudius und seine Gattin Gertrud (Meike Finck) ein latente S/M-Neigung. Zora Klostermanns Ophelia kichert frühpubertär fröhlich, wenn sie auf den Zusammenhang zwischen Liebe und Schniedel hinweisen darf, und stürzt nach der Ermordung ihres Vater Polonius durch den Geliebten Hamlet etwas abrupt in den Wahn ab, halbnackt mit rotem Klebeband eingeschnürt geht's gen Erdloch. So endet der Backfisch als Bondage-Queen.

Schwitzen und Ächzen

Aber alle Verweise auf die sexuellen Neurosen des Hofstaats Helsingör geben nicht mehr als Ornament für einen Abend ab, der viele Andeutungen macht, aber keine Deutung findet. Zum Finale gibt's noch einen ansehnlichen Faustkampf Marke "Fight Club" zwischen Laertes (Eddie Irle) und Hamlet. Es klatscht und schwitzt und ächzt. Und endet.

 

Hamlet
von William Shakespeare
Deutsch von Angela Schanelec und Jürgen Gosch
Regie: Alexander Nerlich, Bühne und Kostüme: Wolfgang Menardi, Musik: Malte Preuß, Kampfchoreographie: Atef Vogel, Dramaturgie: Helge Hübner, Theaterpädagogik: Manuela Gerlach.
Mit: Alexander Finkenwirth, Wolfgang Vogler, Christoph Hohmann, Meike Finck, Bernd Geiling, Eddie Irle, Zora Klostermann, Friedemann Eckert, Dennis Herrmann, Philipp Mauritz.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.hansottotheater.de

 

Kritikenrundschau

"Auf alle Fälle großes Theater am Freitagabend im Potsdamer Hans-Otto-Theater" schreibt Mathias Richter in der Märkischen Allgemeinen (31.1.2015). "Vor einem grandiosen Bühnenbild aus Stahlwänden und Spiegeln (Wolfgang Menardi) spielte Alexander Finkenwirth einen Hamlet, als spiele er um sein Leben – oder wenigstens um seine Karriere."

"Der seltene Glücksfall einer Inszenierung, bei der die zeitlose Aktualität nicht nur behauptet, sondern auch plausibel dargestellt wird", so Frank Dietschreit im Kulturradio vom rbb (31.1.2015). Mit "tollen Schauspielern und akzentuierten musikalischen Mitteln" werde offenbart, "wie ein jugendlicher Schwärmer zum mordlüsternen Terroristen mutiert". Was harmlos wie ein Kindergeburstag beginne, "endet in einer blutigen Tragödie, die dem Zuschauer unter die Haut geht."

Wolfgang Menardis Bühnenbild verdankt die Inszenierung aus Sicht von Christine Wahl auf Spiegel-Online (2.2.2015) "bisweilen durchaus imposante Bildwelten". Das Problem des Abends besteht für sie jedoch darin, dass alle punktuellen Motive und halbherzig ausgelegten Fährten der Regie "nicht in eine wirkliche Deutung münden und so zunehmend beliebig wirken. Zumal Nerlich oft auf den hohen Theaterton setzt und im Großen und Ganzen treu vom Blatt spielen lässt".

Einen starken Ansatz sieht Dirk Becker in den Postdamer Neuesten Nachrichten (2.2.2015): Nerlich habe für seinen "Hamlet" dessen Vorgabe, sich von allem zu lösen, um nur noch zu spielen und so kaum noch manipulierbar zu sein, in den Mittelpunkt gestellt. "Hamlet, der seinen eigenen Kopf als Bühne begreift und um unangreifbar zu werden, hinter die Spiegel unserer Wahrnehmungen treten will." Hamlets Monologe zerplatzten schon am Bühnenrand wie Seifenblasen. "Das vielleicht Traurigste an dieser Inszenierung ist, dass man weiß, dass die Schauspieler es viel besser können."

mehr nachtkritiken