Nachher geht eh' die Welt z'grund

21. April 2024. In Berlin gelang Claudia Bauer mit einem komödiantischen Kurt-Schwitters-Abend unlängst ein großer Publikumshit. Regisseur Christian Brey nimmt den Dada- und "Merz"-Künstler in Heidelberg ebenfalls von der hochnotkomischen Seite. Was könnte schließlich lachhafter sein als ein kollisionswillig auf die Erde zurasender Komet?  

Von Thomas Rothschild

Der Kurt-Schwitters-Abend "Zusammenstoß" in der Regie von Christian Brey am Theater Heidelberg © Susanne Reichardt

21. April 2024. An Hitlers 135. Geburtstag und exakt zwei Monate vor seinem eigenen 137. Geburtstag ist der von dessen Vasallen ins Exil gejagte, eben erst vom Deutschen Theater Berlin für die Bühne wiederentdeckte Kurt Schwitters also in Heidelberg angekommen.

Und es ließ sich das doppelte Missverständnis befürchten, das zu den szenischen Umsetzungen des Genres gehört wie der Radetzky-Marsch zum Wiener Neujahrskonzert: dass Bedeutung hergestellt werden müsse, wo die Dadaisten und die Repräsentanten der Konkreten Poesie diese gerade vermeiden wollten. Und dass jene – Franz Mon, Konrad Bayer, Ernst Jandl, Gerhard Rühm oder eben Schwitters, der lieber als von Dada von MERZ sprach – grundsätzlich witzig sein wollten.

In Heidelberg hat man sich gleich einen Spezialisten fürs komische Fach, Christian Brey, geholt, als wollte man den Eindruck gar nicht erst aufkommen lassen, es handle sich bei dem Mehrspartenprojekt um eine ernsthafte Attacke auf überlieferte Auffassungen von Theater und Oper, wie sie ein Jahr später, mit ganz anderen Mitteln, Bertolt Brecht und Kurt Weill in der "Dreigroschenoper" unternahmen.

Wahrheit, Kopfgeburt oder Sprachspiel?

Wenn man die Entscheidung fürs Spaßige akzeptiert wie jene Regisseure, die das allgemeine Heiraten am Schluss von Nestroys "Lumpazivagabundus" für ein glückliches Ende halten, muss man konzedieren: Die Operation ist gelungen. Was im Libretto von Schwitters und Käte Steinitz (der Name der Koautorin wird in Heidelberg nur verschämt an versteckter Stelle erwähnt) noch "Groteske" heißt, nennt der Komponist Ludger Vollmer "musikalische Komödie".

Und in der Tat lässt der Text eine, wenngleich nicht zwingend komische Lesart zu. "Ernst" ist "Zusammenstoß", vereinfacht, wenn man den Weltuntergang als reale Möglichkeit betrachtet, komisch ist er, wenn man diesen als eine Kopfgeburt von Spinnern und Verschwörungstheoretikern auffasst. Die dritte Möglichkeit bestünde darin, das Libretto in erster Linie als Sprachspiel zu begreifen. Um nicht missverstanden zu werden: Hier soll das Lachen nicht unter Generalverdacht gestellt werden. Die Frage ist bloß, ob es den Absichten des Autors gerecht wird.

Zusammenstoss 5 CSusanneReichardt uDada und "Merz" funktionieren auch als Bewegungssprache © Susanne Reichardt

1976 wurde der "Zusammenstoß" in einer Vertonung von Reinhard Karger, acht Jahre älter als Vollmer, uraufgeführt. Einzelne Inszenierungen an Kleinbühnen, mit und ohne Musik, folgten. 37 Jahre nach Kargers Komposition behauptete eine Journalistin anlässlich einer Aufführung beim Festival "100° Berlin", das Libretto sei bisher unvertont. Nun ja. Fürs Protokoll also: In Heidelberg findet die Uraufführung von Ludger Vollmers Vertonung, nicht aber des Librettos von Kurt Schwitters statt.

Apropos "Lumpazivagabundus": Mit diesem teilt "Zusammenstoß" das Motiv eines Kometen, der sich der Erde nähert und diese zu zerstören droht. Der Einfall hat seit Nestroy und Schwitters und seit Jura Soyfers "Weltuntergang" von 1936, wie unschwer zu erkennen, im Zeitalter von Putin und Trump nichts von seiner metaphorischen Aktualität eingebüßt. Realer Hintergrund ist der Halleysche Komet, der für 1910 angekündigt worden war. Was bei Nestroy eine fixe Idee des versoffenen Schustergesellen Knieriem ist ("In ein Jahr kommt der Komet, nachher geht eh' die Welt z'grund") und bei Soyfer im politischen Kleinkunstformat daherkommt, gibt sich in Breys Schwitters-Inszenierung mit der bewegten Musik im Rücken als turbulente Revue, die eher leise, fast steif beginnt, vor einer schwarzen Wand mit kreisrundem Ausschnitt und Sternenhimmel, und zunehmend übermütig und personenreich die Bühne füllt.

Lektion gelernt

Kurt Schwitters bedient sich einer rhythmisierten Sprache bis hin zu freien Versen. Zwischendurch gibt es auch Reime wie aus Schlagern der zwanziger Jahre. Der mehrfach begabte Künstler spielt mit Wiederholungen und, wenn auch nicht annähernd so radikal wie in der "Ursonate", mit phonetischen Effekten, auf Kosten der Semantik. Ort der Handlung ist Berlin.

"Zusammenstoß" ist auch selbstreferentiell. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang: Christian Brey war, primus inter pares, vor zwei Jahrzehnten neben Silja Bächli, Katja Bürkle, Bijan Zamani, Hanna Scheibe, Kai Schumann, Florian von Manteuffel, Lilly Marie Tschörtner und Inga Busch einer der Protagonisten in René Polleschs Stuttgarter Dependance. Er hat seine Lektion gelernt.

Zusammenstoss 2 CSusanneReichardt uKomödiantischer Ansatz: Das Heidelberger Ensemble auf Anette Hachmanns Bühne © Susanne Reichardt

Sein komödiantischer Ansatz gelingt, weil er das richtige Maß findet, ihn nicht ausreizt oder gar überstrapaziert. Gezielt nützt er bewährte Techniken wie bizarre Gänge – herausragend: André Kuntze als der Astronomie-Diener Rommel – oder asynchrone solistische Ausfälle aus den Ensemble-Tableaus. Eingefügt hat die Dramaturgie Fragmente aus der "Ursonate", die sie zwei Marsmenschen in den Mund legt. Und damit alle Sparten des Theaters Heidelberg zum Zuge kommen, gibt es auch Einlagen von vier Tänzer*innen.

Mehr als eine Paraphrase der Tagesschau

Ludger Vollmer, der sich vor allem mit Opernadaptionen von Literatur und Filmen ("Paul und Paula oder Die Legende vom Glück ohne Ende", "Gegen den Wind", "Lola rennt", "Tschick") einen Namen gemacht hat, steuert eine eklektische Komposition bei, die Kurt Weill ebenso zitiert wie Paul Lincke ("Das ist die Berliner Luft"), "Somewhere over the Rainbow" oder den Sprechgesang der deutschen Gruppe Trio. Sogar Koloraturen kommen vor. Das Chanson von Onkel Heini mit den krummen Beini wird in einem verrauchten Nachtlokal vorgetragen.

Am Schluss verkündet der Oberordnungskommissar (Franko Klisović) die Rettung, wie der berittene königliche Bote in der "Dreigroschenoper". Ende gut, alles gut? Wer’s glaubt… Jedenfalls ein Theaterabend, der mehr will als eine Paraphrase der Tagesschau.

 

Zusammenstoß
Musikalische Komödie nach einem grotesken Opernlibretto von Kurt Schwitters / Musik von Ludger Vollmer
Regie: Christian Brey, Musikalische Leitung: Dietger Holm, Kens Lui, Bühne und Kostüme: Anette Hachmann, Choreografie: Iván Pérez, Lichtdesign: Ralph Schanz, Chordirektion: Virginie Déjos, Dramaturgie: Jürgen Popig, Ulrike Schumann.
Mit: James Homann, Amira Elmadfa, Franko Klisović, Johanna Greulich, André Kuntze, Elisabeth Auer, Jonah Moritz Quast, Nicole Averkamp, Raphael Rubino, Henriette Blumenau, Patricia Schäfer, Jonathan Fiebig, Leon Maria Spiegelberg, Hendrik Richter, Dietger Holm.
Premiere am 20. April 2024
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, eine Pause

https://www.theaterheidelberg.de/

 

Kritikenrundschau

Eine "überbordend spielfreudige Revue" hat Eckhard Britsch vom Mannheimer Morgen (22.4.2024) gesehen. "Mit einer Vielzahl an Figuren, zwischen skurril und absurd ausstaffiert von Anette Hachmann (Bühne und Kostüme), werden Lust und Leid am Weltuntergang im quirligen Berlin vor 100 Jahren einschließlich Sekten-Versprechen illustriert." Doch die treibende Kraft und der Pluspukt der Inszenierung sei die Musik von Ludger Vollmer: "Die ist grell geschminkt und haut mit harter Metrik rein, um zwischendurch mit soften Elementen bis hin zum Swing sowie vielen Gassenhauer-Zutaten und Zitaten den Plot aufzupimpen", so Britsch. Mit seiner plakativ-griffigen Bühnenmusik habe sich der versierte, fantasievolle Komponisten in Schwitters’ Welt eingefühlt.

Sich hemmungslos an allen möglichen Musiktraditionen bedienend, von Wagner bis James Bond-Filmmusik, habe Ludger Vollmer den irrwitzigen Text mit der passenden Musik unterlegt, schreibt Frank Pommer in der Rheinpfalz (22.4.2024). "Das ist Kolportage im allerbesten Sinne des Wortes, ist Ulk, Klamauk – und kann auch einfach schweigen, wenn es gilt, den Dada-Unsinn Schwitters zu Wort kommen zu lassen". Im zweiten Teil der Inszenierung habe der Text Vorrang. "Der anarchische Schwitters-Humor", so Pommer, "wirkt nicht nur noch immer frisch und unverbraucht, er ist auch von einer geradezu erschreckenden Aktualität". Klugerweise greife die Regie die frappierenden Parallelen zur Gegenwart nicht auf. "Christian Brey und seine Ausstatterin Anette Hachmann lassen das Stück dort, wo es historisch verortet ist: In den 1920er Jahren, in denen der Dadaismus die passende Antwort auf eine Frage war, die keiner mehr verstand. Nach der Katastrophe ist vor der Katastrophe, und immer dem Untergang so nahe."

Über die Entdeckung des skurrilen Stoffes freut sich Jesper Klein in der Rhein-Neckar-Zeitung (22.4.2024). Ludger Vollmer habe dazu den passenden Soundtrack geschrieben: "In seiner von flotten Rhythmen durchpulsten Partitur ist immer was los", lobt Klein etwa "die repetitiv geflöteten Morsezeichen, über der die Violine zur hinreißenden Kantilene ansetzt". Und Interims-GMD Dietger Holm dirigiere mit Präzision, Tempo und Dringlichkeit. "Dass die Inszenierung von Christian Brey alles völlig überdreht ins Klamaukige wendet, muss man nicht mögen." Sie sei mal mehr, mal weniger lustig, befasse sich nicht mit Fake News, sondern bleibe Komödie mit Slapstick-Humor. Die Marsmenschen kommentierten die Erden-Panik angesichts des Kometen "in fließendem Dada" mit Schwitters' "Ursonate". Und Schauspieler Leon Maria Spiegelberg steche als verdatterter Regisseur mit Künstlerallüren aus dem durchweg gut aufspielenden Ensemble heraus.  

 

Kommentare  
Zusammenstoß, Heidelberg: Schauspielmusik ist nicht Musiktheater
Vielen Dank für Ihre positive Kritik zur Uraufführung meiner Musikalischen Komödie ZUSAMMENSTOSS nach Kurt Schwitters!
In einem Punkt irrt Thomas Rothschild jedoch: Rothschild merkt an, daß die Uraufführung des Librettos 1976, und zwar in einer Vertonung des Komponisten Reinhard Karger, stattfand. Nun ist das Libretto von Schwitters explizit ein Opern - Libretto. Das Landestheater Tübingen, an dem die fragliche Musik von Karger uraufgeführt wurde, ist aber seit seiner Gründung ein reines Sprechtheater. Ich nehme an, daß Schwitters' Libretto dort einfach als Sprechtheater- Text inszeniert wurde (wozu es sich ebenfalls sehr gut eignet), zu dem Kargers Musik als Schauspielmusik erklang. Schauspielmusik ist aber etwas völlig anderes als Musiktheater (es gibt z.B. keine Opernsänger etc.), und somit kann man sagen, daß das Opernlibretto "Zusammenstoss" von Schwitters und Steinitz so, wie es ursprünglich gewollt war, also als großangelegtes mehrspartiges Musiktheater, tatsächlich erst in Form meiner Partitur am 20. April 2024 am Theater Heidelberg uraufgeführt wurde.
Zusammenstoß, Heidelberg: Weg ins Museum
Wer die Genres zementiert, hat Angst. Ich höre nur „ich, ich, ich“ a.k.a. „Mi Mi Mi“ in Kommentar #1.

Wo geht es nochmal ins Museum?
Zusammenstoß, Heidelberg: Nicht leicht mit der Avantgarde
Lieber Herr Vollmer, es war das Zimmertheater, nicht die Landesbühne. Das ändert aber nichts an Ihrem Einwand. Ich habe die Aufführung leider nicht gesehen, kenne nur Reinhard Karger als seriösen Komponisten, sei es von Schauspielmusik oder Opern. Leider ist die Aufführung von 1976 sehr schlecht dokumentiert. Nur so viel: "Die Dreigroschenoper" ist schon oft ohne Opernsänger ausgekommen. Man hat es nicht leicht mit der Avantgarde.
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