Drucksache Faust

von Andreas Wilink

Düsseldorf, 19. Dezember 2015. Das Problem deutscher Bildungsbürgerlichkeit in der jüngeren Geschichte sei, so der Historiker Fritz Stern, "Vulgäridealismus" und eine "Metaphysik des Snobismus". Bezogen auf die allerneueste Geschichte, auch Gegenwart geheißen, und die im Verschwinden begriffene Bildungsbürgerlichkeit ließe sich abgewandelt sprechen von Vulgärmaterialismus. Den zweiten Begriff können wir so stehen lassen. Heinrich Faust, wie ihn Georg Schmiedleitner in Gestalt von Stefan Hunstein kurz und bündig vorstellt, so dass man zum "heute-journal" längst wieder zuhause sein kann, ist ein Repräsentant dieser Haltung.

Der Drucker rasselt. Faust haut in die Tasten. Einer Schreibhemmung unterliegt er nicht. In seinem grauen Bunker-Bau von Bühnenbildner Harald Thor, in dem naturgemäß der Himmel (Prolog) und selbst das Theater (Vorspiel) suspendiert sind und wo einzig zählt, was jemandem durch die Rübe rauscht, um Gerhard Stadelmaier zu zitieren, hat sich ein Wust von Papier angehäuft – Ausgedrucktes, vom akademischen Oberrat Dr. Faust zuvor eifernd in den Laptop gehackt. Monologe als krause Gedanken: "Habe nun, ach" und so fort. Es geht ihm fix von der Hand: Typ Albert Ostermaier.

Eilig durchschreitend

Hunstein spielt ihn als sehr schlecht gelaunten, ruppigen, mit sich und allem unzufriedenen, von seiner Unzulänglichkeit frustrierten Intellektuellen, den vor 40 Jahren in einer französischen Komödie so ähnlich Sami Frey dargestellt hätte. Dass ihm der Erdgeist leibhaftig als Projektion erscheint, nimmt Wunder, weniger, dass sich Famulus Wagner (erfreulich: Konstantin Bühler) als blass blasierter Nerd aus den Drucksachen wühlt. Dass Faust das Neue Testament beschäftigt, überrascht ebenfalls – man würde ihn eher bei den Schriften von Steve Jobs oder Edward Snowden vermuten und ihn seine Apple-ID überprüfen sehen. Da stimmt es dann, dass keine Osterglocken läuten, um ihn von der Phiole abzuhalten, sondern Pop-Gesäusel klingelt.

Faust2 560 Sebastian Hoppe uStudierstuben-Bunker: vorne Konstantin Bühler und Stefan Hunstein als Faust © Sebastian Hoppe

Die knapp zweistündige, schnittig kompilierte Inszenierung – vom diskursiv Performativen ebenso weit entfernt wie von der großen Erzählung – macht aus Alt ein bisschen Neu, macht auch sonst Druck, schreitet eilends zur Tat und geht flott über alles hinweg. Es bleibt wenig Zeit für Wort und Sinn. Vom Osterspaziergang, in der Natur nirgends Bild wird, aber Wagner wundersam aus Nietzsches "Zarathustra" zitiert, ist man schnell bei des Pudels Kern, streift Auerbachs Keller und die Hexenküche, die mit Zellforscher Wagner zum molekularbiologischen Labor avancieren, und trifft auf Little Lolita Gretchen in runtergerutschten weißen Söckchen und tanzt wenig später schon à la minute auf der Walpurgis-Disco.

Pussy, my love

Katharina Lütten als Gretchen hopst auf die Bühne, lispelt ihren Mädchen-Report und plumpst burschikos in die Figur hinein. Aber dann! Wie eine kleine Schwester der Stefanie Reinsperger wuchtet sie mit einem Gefühl, das den dürftigen Rahmen der Aufführung sprengt, verausgabt sich an ihren Küssen, blutet aus bei ihres Bruders Valentin Tod, und – was soll's, dass die E-Gitarre blöd wummert bei ihrem "Meine Ruh ist hin" – gerät im Todes-Kerker berückend außer sich.

Faust1 560 Sebastian Hoppe uWir sind Band: Auftritt der Teufel im Düsseldorfer "Faust" © Sebastian Hoppe

Teufel auch. In Bonn, vor einem halben Jahr bei Alice Buddeberg, waren es noch drei, männlich, weiblich jung, alt gemischt. Ein Teufel allein reicht heutzutage nicht mehr (er müsste schon Bibiana Beglau heißen). In Düsseldorf sind es Vier, geschlechtlich paritätisch, frivol, kokett, lüstern, Cabaret-reif und "Pussy, my love" singend. Vom mysterium iniquitatis, dem Geheimnis des Bösen, kann keine Rede mehr sein. Das Quartett begnügt sich mit einem kessen Showgirl (Karin Pfammatter), einer Art Bond-Girl (Katrin Hauptmann) und zwei vierschrötigen Gesellen (Jakob Schneider, Thiemo Schwarz).

Vermauerte Existenz

Faust kann nicht raus aus seiner Haut und muss auch nicht raus aus seinen eigenen vier Wänden. Erst ganz am Ende fällt ein Stück Wand – dahinter tauchen spielzeuggroß ein paar Kulissen-Ruinen und etwas Baum-Grün auf, als würde erst Gretchens Tod die vermauerte Existenz Fausts aufbrechen. Zuvor macht ihm der multiple Mephisto foppend was vor (die Teufel soufflieren bzw. übernehmen ein bisschen Gretchen- und Marthe-Text). Oder er hat selbst den eigenen Kopf voll von Welt, ohne dass es in sie hinaus ginge. Bunker-Mentalität.

Für voll nehmen kann man Schmiedleitners "Faust" nicht, der seinem Mannheimer von 2008 ganz unähnlich ist. Er kommt einem vor wie aus einem Sortiment für überjährige Modeartikel. Die Magenverstimmung, die die vier Teufel-Teilchen angreift, wenn Gott und Sakramente benannt werden, erweitert sich so zum Allgemeinbefund. Im Übrigen gibt es keinen Gott und kein Gebet. (Ohnehin beten nur Ungläubige, wie Ralf Rothmann in einem seiner Romane schreibt). Nichts Ganzes und nur halbherzig – dieser "Faust" spiegelt insofern die desolate Düsseldorfer Schauspielhaus-Situation. Bis auf weiteres. Wer wollte da auch von "Gerettet" sprechen.

Faust I
von Johann Wolfgang von Goethe
Regie: Georg Schmiedleitner, Bühne: Harald Thor, Kostüme: Tina Kloempken, Musik: Volker Zander, Dramaturgie: Dirk Diekmann.
Mit: Konstantin Bühler, Katrin Hauptmann, Stefan Hunstein, Katharina Lütten, Karin Pfammatter, Jakob Schneider, Thiemo Schwarz.
Dauer: 1 Stunden 50 Minuten, keine Pause

www.duesseldorfer-schauspielhaus.de

 

Kritikenrundschau

"Der Besetzungscoup des vierfachen Mephisto bleibt eine Arabeske", mit "der emotional brisanten Fokussierung auf die Eroberung und Vernichtung Gretchens" hat die Inszenierung aus Sicht von Martin Krumbholz in der Süddeutschen Zeitung (28.12.2015) "gleichwohl ein starkes Kraftzentrum". Die Prologe seien gestrichen. "Faust hat sich in einen kalten Betonbunker mit Oberlichtern verkrochen, neben sich einen Drucker, "aus dem endlos Papierströme quellen". Doch was auch immer der gequälte Gelehrte zu Papier bringe, "seine Stimmung ist eindeutig suizidal". Dabei hat Stefan Hunsteins Faust aus Sicht des Kritikers "eine nervöse Kraft, er überzeugt als Forschender, der gern 'was Rechtes' wüsste, mehr als später, wenn er einem naiven Bürgermädchen nachstellt".

"Wir sind nicht traurig, wenn uns Faust II unter diesem Zugriff entgeht", schreibt Anna Brockmann in der Westfälischen Allgemeinen Zeitung (21.12.2015). "Mit Faust hat das nicht mehr viel zu tun." Das liege "nicht nur an der rätselhaften Vierspaltung Mephistos", so Brockmann. "Wer die Geschichte nicht kennt, lernt sie hier nicht kennen, derart schnell geht es Gretchens Kerkerszene entgegen." Auf der Strecke bleibe der Zauber. "Das holt Stefan Hunstein nicht raus, ein blasser Faust, über den es wenig zu sagen gibt, und auch nicht Katharina Lütten, wobei sie das Beste des Abends ist."

"So klar wie bei dieser Spaßgesellschaft hat man es nie gesehen, wie banal dieser Teufel ist, wie sehr er Faust nach dem Mund redet", findet Ulrike Gondorf im Deutschlandradio Kultur Fazit (19.12.2015). "Nicht Mephisto ist dämonisch, sondern Faust, der alles zerstört, was ihm begegnet: seien es Glaubensgewissheiten oder das Leben von Gretchen." In der äußerst verknappten Fassung von Georg Schmiedleitner werde der Stoff "straff und spannend" erzählt. "Dieses Faustportrait hat Durchschlagskraft und wirkt auch durchaus heutig und aktuell." Das sei ja "nicht wenig für einen Abend, den man allein wegen seines überragenden Hauptdarstellers nicht versäumen sollte".

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