Ich, Anthropos Tyrann

von Elena Philipp

Berlin, 28. August 2021. "Du bist dieses Lands ruchloser Schandfleck!" Früh schon ist bei Sophokles das Urteil gesprochen über den Verblendeten. Oedipus, dem seine Fähigkeit, der Sphinx Rätsel zu lösen, die Macht eingetragen hat, wird sie (und mehr) verlieren durch sein beharrliches Erforschen einer alten Schuld. In Theben wütet die Pest, und den Mörder des vorherigen König Lajos zu strafen, rät das delphische Orakel. Verbannt sei der Täter und verflucht, dekretiert Oedipus, der sich als Rächer geriert. Wer ist es?

Blutroter Röhrenmond

Aufrecht steht der DT-Schauspieler Manuel Harder da in seinem schwarzen Kleid, nicht willens, den um Aufklärung gebetenen Seher Tiresias antwortlos ziehen zu lassen. Wehklagend offenen Mundes, die Augen aufgerissen, sucht Kathleen Morgeneyer sich um die Aussage herumzuwinden, bis Harders Oedipus im Zorn ihr droht und sie beleidigt. Da wirft sie ihm entgegen (wie alle Rede ans Publikum adressiert): "Du."

oedipus2 600 Arno Declair uAlles Rede ans Publikum: Ensemble aus "Oedipus" © Arno Declair

"Ich" sagt Oedipus sonst oft. In Ulrich Rasches Inszenierung am Deutschen Theater deutlicher noch als in Sophokles' Tragödie. Ein Einzelner, im Kampf gegen die Götter und ihren Fluch, er werde seinen Vater töten und die Mutter ehelichen. Ein Individuum, das Schuld auf sich geladen hat und zunehmend gegen die agiert, die ihm anbefohlen sind. Blutrot wird der Kreis aus Leuchtröhren, der zuvor blau über der Bühne hing, als Oedipus seinen Schwager (und Onkel) Kreon angeht, ihn des Angriffs auf sein Amt gemeinsam mit Tiresias beschuldigt. Auf Kopfhöhe ist der Leuchtröhrenkreis heruntergefahren, zeigt, wie Manuel Harder seine Hand in Elias Arens' Nacken legt, ihm den Arm auf die Schulter drückt und ihn gewaltvoll zu sich umdreht. "Verklage nur aus dunkler Meinung mich nicht!", bittet der gekrümmte Arens. Doch Harder rast, und aus dem Orchestergraben dröhnen Paukenschläge: "Sterben sollst du." Oedipus von Sinnen.  

Leiber, ums Zwerchfell gebogen

Wieder hat Ulrich Rasche einen Text gewählt, der seinem Inszenierungsstil entgegenkommt. Brutal und blutig geht es zu bei Sophokles. Hoch ist die Spannung zwischen den Figuren. In ihre Körper hineingenommen haben sie die Schauspieler:innen. Vornübergebeugt stehen Toni Jessen, Linda Pöppel und Yannik Stöbener als Chor der Thebaner, die Leiber um ihr Zwerchfell gebogen, aus dem sich ihnen die von Hölderlin ins Deutsche übertragenen Sätze entringen. Der gedehnte, druckvolle Vortrag in hohem Ton verstärkt das Manische, Vorwärtsdrängende des antiken Textes, sein um Streit und Drohungen sich drehendes Geschehen. 

Große Fragen stellt die um 425 vor Christus entstandene "Oedipus"-Tragödie, an das Verhältnis von Herrscher und Polis, von Mensch und Göttern, vorgezeichnetem Schicksal und Freiheit der Lebenswahl. Mühelos lassen sich aktuelle Kontexte assoziieren, von der Pandemie als Krisentest für Regierungen bis zur Klimaschuld im Anthropozän. Im Programmheft werden sie formuliert, auf der Bühne sind sie mitdenkbar. Und bleiben doch schwach angebunden, weil die Produktion dem antiken Text treu bleibt. Spezifisch ist des Oedipus' Schicksal, nicht allgemein. Und seinem Leidensweg folgt die Inszenierung bis zum Ende, vom bildreich geschilderten Selbstmord der Mutter-Gattin Jokaste bis zur blutigen Blendung und Verbannung des Protagonisten. Nackt und stumm steht Manuel Harder zum Schluss auf der Bühne, angeklagt und betrauert vom Chor. Das exemplarische Individuum, ihm gilt der Abgesang.

oedipus3 600 Arno Declair hMutter und Sohn, Ehefrau und Gatte: Jokaste (Almut Zilcher), Ödipus (Manuel Harder) © Arno Declair

Wucht hat dieser Abgesang. Wie immer phantastisch synchron sprechen die von Toni Jessen trainierten Spieler:innen, die im Rhythmus von Text und Musik über die Drehbühne schreiten und ihre Körper im Raum in immer neue Figuren-Konstellationen arrangieren. Farbreiche Klanggebilde entwerfen der Komponist Nico van Wersch und die vier Live-Musiker:innen mit Streichinstrumenten, Schlagwerk und Synthesizern. Wellenartig steigert sich die Dynamik, schichtweise türmen sie tieftönende Bässe, gelassen bis nervös klöppelnde Mitten und sirenenhafte Höhen, um mit dem Szenenwechsel zu verklingen. Ein Hörerlebnis.

Vom Ich zum Uns

Visuell ansprechend ist der "Oedipus" auch. Die Drehbühne des DT kreist, auf maschinelle Aufbauten hat Rasche verzichtet. In monochrome Farbstimmungen taucht Cornelia Gloth die Bühne, mittels eines erstaunlich gleichmäßig dichten Nebels und der vier konzentrischen Leuchtringe, die die Götter und die drei Herrscher:innen Thebens symbolisieren könnten, Oedipus, Jokaste und Kreon. Als Oedipus mit Jokaste seine Schuld erkennt, stehen zwei der Ringe gelb gegen die Ringe von Stadt (Kreon) und Götter gekippt, um zum Schluss alle wieder konzentrisch blau am Bühnenhimmel zu glimmen. 

Großartig sind auch die Schauspieler:innen. Zum Beispiel Almut Zilcher, die den rhythmischen Schritten und hochtönenden Sätzen individuelle Schwingungen verleiht, auf ihrem frontal zum Publikum gerichteten Gesicht Momente von Schmerz, Erkenntnis, Schrecken vorüberziehen lässt.

Was fehlt? Verdichtung, zwei Stunden statt drei. Ein höherer Grad an Abstraktion, um vom Individuellen zum Allgemeinen zu gelangen. Oder Fremdtexte, denn "Oedipus" ist ein toller Theatertext, aber was er "uns heute" zu sagen hat, ist beschränkt. Ulrich Rasche möchte aber, orientiert man sich am Programmtext, grundlegende Fragen an die Demokratie richten. Dafür wäre, denkt man, ein vielstimmiges Textkonvolut vielleicht geeigneter? Um vom "Ich" und "Du" weg zu kommen und mehr Perspektiven zu einem "Wir / Sie / Uns" aufzufächern.

Oedipus
von Sophokles 
nach der Übertragung von Friedrich Hölderlin, eingerichtet von Jürgen Gosch und Wolfgang Wiens
Regie und Bühne: Ulrich Rasche, Komposition und Musikalische Leitung: Nico van Wersch, Chorleitung: Toni Jessen, Mitarbeit Bühne: Leonie Wolf, Kostüme: Clemens Leander, Licht: Cornelia Gloth, Ton: Marcel Braun, Martin Person, Dramaturgie: David Heiligers.
Mit: Elias Arens, Manuel Harder, Toni Jessen, Kathleen Morgeneyer, Linda Pöppel, Yannik Stöbener, Enno Trebs, Julia Windischbauer, Almut Zilcher. Live-Musik: Carsten Brocker, Katelyn King, Špela Mastnak, Thomsen Merkel.
Premiere am 28. August 2021
Dauer: 3 Stunden, keine Pause

www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

"Obwohl Rasche und sein Ensemble keine platten Aktualitätsmarker setzen – etwa Pest gleich Pandemie – dringen sie doch zu einem Wesenskern des Dramas durch, der uns Heutige berührt", meint Ute Büsing im rbb (29.8.2021). Mitunter könnte das alles "eine Spur weniger dick aufgetragen sein", aber: "die soghafte Wirkung dieses Überwältigungstheaters funktioniert", so die Kritikerin.

"Ulrich Rasche will keine einfachen Rückkopplungen von antiker Tragödie und aktueller Politik. Er erzählt den Oedipus, im ritualhaft verlangsamtem Larghissimo als Oratorium, als Gesamtkunstwerk aus Poesie, von Hell-Dunkel-Malerei inspiriertem Bildrausch und Klangraum", sagt Eberhard Spreng im Deutschlandfunk (29.8.2021). "Und doch haftet diesem grandiosen Kunstwerk ein theatraler Makel an: Mit seiner auf drei Stunden zerdehnten Spiellänge und seiner die Syntax sprengenden Langsamkeit wirkt jeder Moment, jeder Move, jeder Satz wie autistisch auf sich selbst bezogen und herausgelöst aus dem tragischen Wirkungszusammenhang. Es ist immer schön, aber es ist immer auch nur gerade jetzt: Ein Theater als Kunst des bewegten Stillstandes."

Zu Ulrich Rasches Abenden pilgerten manche Menschen ja "wie andere in einen guten Technoclub", schreibt Anna Fastabend in der Süddeutschen Zeitung (30.8.2021). "Weil sie sich von seinem Maschinentheater in einen tranceartigen Zustand versetzen lassen und so an tiefere Bewusstseinsschichten herankommen wollen, als es in unserem hyperfragmentierten Alltag möglich wäre." Rasches Inszenierung des Oedipus nun wirke "seltsam zeitlos in einer Zeit, in der die Welt mal wieder unterzugehen scheint, und diese Zeitlosigkeit ist auch ihre Stärke", so Fastabend. "Denn so wie Rasche den Urstoff präsentiert, ist man ganz auf seinen Kern zurückgeworfen, auf einen Menschen, der seinem Schicksal nicht entfliehen kann, egal wie sehr er sich bemüht."

"Selten sah man an Rasche-Abenden Figuren einander derart konkret im Nacken sitzen wie hier", schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (30.8.2021). "Der Abend erfordert die große Schauspielkunst, aus den Figuren zwar einerseits markante Charaktere herauszudestillieren, sie dabei aber andererseits nicht (küchen-)psychologisch herunterzudividieren oder pathetisch zu verkitschen." Dieses "Changieren zwischen dem Abstrakten und dem Konkreten, zwischen Prinzip und Figur sieht man in dieser Genauigkeit wirklich selten", so Wahl. Fürs Gesamtgelingen des Abends ebenso entscheidend mitverantwortlich seien die Kompositionen Nico van Werschs, "die ebenso traumwandlerisch wie die Schauspieler der Versuchung zur platten Textillustration widerstehen. Vielmehr erzeugt van Wersch eine komplexe Klangebene als zusätzliche Reibungs- und Kommentarspur, die von den Live-Musikerinnen und Musikern kongenial interpretiert wird."

"Ulrich Rasche ist diesmal so etwas wie Rammstein unter den Theatermachern", schreibt Katrin Bettina Müller in der taz (30.8.2021). Bild für Bild baue sich in der die Inszenierung dominierenden Musik von Nico van Wersch aus erst leisen Tönen ein emotionsgeladener, treibender Sound auf, "bis zu einem Kulminationspunkt, an dem er plötzlich abstürzt", so Müller: "Der Rhythmus sitzt den Gehenden im Nacken, das bedrohliche Schwellen der Klangflächen hält die Spielenden im Griff. Die Inszenierung macht sie zu Marionetten."

"Rasches postmodernes Dionysientheater ist vor allem ein Blendungsspiel, das großes, hohles Pathos in seine vibrierenden Sprechakte legt, aber den Grund dafür selbst nicht mehr kennt", schreibt Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (30.8.2021)

Simon Strauss kommt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (online 30.8.2021, 16:48 Uhr) zu folgendem Fazit: "Trotz großer Anstrengung der Gewerke, von Licht, Bühne und Ton", gelinge es Rasche diesmal nicht, "seinem eigenen Anspruch gerecht zu werden". Das Ensemble schwitze und keuche vergebens. Es bleibe eine "unbedingte Treue zum Text und ein ungebrochener Wille zur ästhetischen Wirkung". Beides sei "außergewöhnlich" in dieser Zeit "und darf daher eine besondere Geltung behaupten". Aber um ein so schwieriges Stück wie "Oedipus" "wirkungsvoll zu inszenieren", brauche es "nicht nur von außen, sondern von innen bewegte Menschen".