Jedermanns Ich-AG auf der Dauerbaustelle der Fun-Gesellschaft

von Reinhard Kriechbaum

Salzburg, 25. Juli 2010. Die Buhlschaft. Die Farbe ihres Kleides. Der Ausschnitt. Zwischen den Zeilen wenigstens: die Körbchengröße. Wie laut wird sie beim Abgang schreien? Wenn man den österreichischen Medien jeweils in den Vor-Festspieltagen glauben darf, dann hat die prominenteste Salzburger Nebenrolle etwas Staatstragendes. Nicht mal der "Standard" kommt um eine Doppelseite herum (hatte diesmal mit Marlene Streeruwitz immerhin eine feministische Schriftsteller-Kapazität eingeladen).

Zum Tamtam auf den Kultur- und Society-Seiten steht die Aufführung - zumindest, seit Christian Stückl darüber wacht, also seit 2002 – in auffallendem Gegensatz. Stückl rührte an Grundfesten der damals schon über 80jährigen Aufführungstradition, indem er entscheidend an der Dramaturgieschraube drehte. Da wanderten ganze Textblöcke von einer Rolle zur anderen. Die nervigen allegorischen Nebenfiguren bekamen unerwartet deftige Spiel-Möglichkeiten. Gott der Herr selbst heischt als "Armer Nachbar" vergeblich um Almosen. Guter Gesell und Teufel bilden ebenfalls eine (logische) Personalunion. Und der Glaube ist als Person überhaupt rausgeflogen aus dem "geistlich Spiel". Das Glaubensbekenntnis spricht seither der Teufel ironisch ätzend vor.

"Dein Spiel will mir nit mehr gefallen"

Kein Sommer, in dem auf dieser Text-Baustelle nicht da und dort Kleinigkeiten verändert, umgestellt, zum Besseren (und auch mal zum nicht so Überzeugenden) verändert wurden. Zum 90 Jahre-Jubiläum des "Jedermann" und damit der Festspiele heuer hat Christian Stückl sein eigenes Konzept ziemlich entscheidend verändert. Die Chance, dass ein Großteil der Rollen neu und meist eine Generation jünger besetzt ist, wird genutzt. Das Premierenpublikum (und jenes vor den ORF- und BR-Bildschirmen, das zeitversetzt am selben Abend dabei war) hatte so manchen Grund, sich zu wundern.

© Hermann und Clärchen Baus
Birgit Minichmayr (sitzed), Ben Becker (stehend) und Nicholas Ofczarek (liegend)
© Hermann und Clärchen Baus

Da randaliert also Nicholas Ofczarek über die Bühne. Einer aus der Generation jener, die die Ich-AG erfunden und das Sich-Zurücknehmen nie gelernt haben. Wenn der Schuldknecht vorgeführt wird und vor ihm am Boden liegt, dann tritt Jedermann unbeherrscht zu, nicht nur einmal. Diese Typen gibt es als Jugendliche, und wenn sie dann 40 sind, haben sich Selbstbewusstsein, aber auch innere Leere potenziert. Das Wort "Bonvivant" fiele einem zu der Jammerfigur gewiss nicht ein, die Ofczarek und Stückl uns vorführen.

Die Tischgesellschaft trägt noch die Kostüme und die bizarre Haartracht der letzten Jahre, aber es ist kein pseudo-barockes Fest-Völkchen. Die stehen auch nur da und wissen wenig mit sich anzufangen. Die Buhlschaft Birgit Minichmayr: eine aus der Generation Genieß-das-Leben-und-denk-nicht-viel, die dann plötzlich als Krisenmanagerin gefragt ist und überraschend ernsthafte Fragen stellt. Zuletzt macht sie sich ohne Schrei, sondern in jäher Erkenntnis davon, besonnen und aufrechten Ganges. "Dein Spiel will mir nit mehr gefallen", sagt die Buhlschaft schneidend-eisig, während Jedermann im Wortsinn am Boden ist, ihr auf allen Vieren die Stufen hinauf nachzukrabbeln versucht.

Klamauk und Archetypisches

Die Tischgesellschaft ist besonders befremdlich in dieser Aufführung, aber in ihrer schrägen Absurdität ein Spiegel der unversehens in die Lebensmitte geratenen Fun-Gesellschaft. Das so mitanschauen zu müssen, ist ungut. Jedermann und Tod sind einander schon vorher gegenübergestanden und haben wortlos einen langen Blick aufeinander geworfen. In den Zwiegesprächen werden die Dinge dann genauer angesprochen. Was jetzt kommt, ist wie eine Analyse, Blicke durch die Lupe. Jedermanns Guter Gesell (Peter Jordan), der im Gehrock mit Spazierstock durch die Gegend gestakst ist, zeigt plötzlich seine Fratze. Die Vettern (Felix Förtler, Thomas Limpinsel) tragen das Goldgeschirr Jedermanns davon. Der schwule Mammon (Sascha Oskar Weis) wird zum Brutalo.

Nicht alles ist gelungen, Elisabeth Rath als Jedermanns Mutter weiß wenig mit sich und der Rolle anzufangen. Witzig die Guten Werke (Angelika Richter), hergerichtet als ein quasseliges Trachtenpüppchen. Der Teufel würde bei einer Kostümparty gute Figur machen. Mit diesen Rollen bricht Christian Stückl die Stimmung, auf dass Jedermanns Läuterung nur ja nicht zu aufdringlich-besinnlich werde. Dem deftigen Klamauk steht die Tür weit offen. Was immerhin herauskommt: Das immer wieder angesprochene Archetypische im Stück ist tatsächlich vorhanden, der Jedermann ist bei weitem nicht so verjährt, wie manche glauben: So simpel ticken Menschen nun mal, auch wenn man's ungern vorgeführt bekommt.

Stilbrüche und ein Herr mit rotem Käppi

Martin Reinke ist Gott der Herr und der Arme Nachbar, ein zerbrechliches Männlein. Taugt nicht mehr zum Welt-Regisseur, aber der Etappensieg in Sachen Jedermann ist respektabel. Ben Beckers Tod ist Bühnen- und Akustik-füllend, und das ist bemerkenswert in einer Aufführung, die sprechtechnisch dringend der Feinjustierung bedarf. Das ist der Nachteil des jungen Teams: Der Domplatz will erst besprochen sein.

Hat man nun eine Besetzung beisammen und eine Stückgestalt, die wieder für einige Jahre trägt? Nein, der Jedermann bleibt Dauerbaustelle. Manche Szenen ziehen sich gar fürchterlich, und nicht alle Stilbrüche wirken freiwillig und absichtsvoll. Eine Aufführung "aus einem Guss" ist das noch lange nicht, und Christian Stückl hat noch einige Arbeit vor sich. Der Beifall am Premierenabend wirkte erst mal sehr unterkühlt, dann gab es doch Bravo-Rufe, vor allem für Nicholas Ofczarek. Aber da setzte ja auch schon des Spektakels entwürdigender Finalteil ein: die Fotografen wurden eingelassen und stürzten sich wie die Hyänen – nicht auf die Schauspieler, die keinem der Lichtbildner ein Abdrücken wert waren. Sondern auf den Herrn mit rotem Käppi in einer der vorderen Reihen. Niki Lauda war da! Da kann die Jedermann-Crew sowieso einpacken.

 

Jedermann
Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes
von Hugo von Hofmannsthal
Inszenierung: Christian Stückl, Bühnenbild und Kostüme: Marlene Poley, Musik: Markus Zwink.
Mit: Nicholas Ofczarek, Birgit Minichmayr, Martin Reinke, Ben Becker, Peter Jordan, Elisabeth Rath, Angelika Richter u.a.

www.salzburgerfestspiele.at

 

Vor einem Jahr spielten auch die Schauspielbühnen Stuttgart den Jedermann – mit Johannes Heesters (!) als Gott.

 

Kritikenrundschau

Bei den Salzburger Festspielen bleibe der "Jedermann" ein Ereignis, so Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (29.7.2011) angesichts der Premiere 2011, die ein weiterer Schritt sei auf dem "Weg der Theatralisierung, Professionalisierung und Psychologisierung des überkommenen Katholikenspiels, den Stückl seit 2002 konsequent geht". Er sei auf diesem Weg sehr weit gekommen, "hat mit dem hehren Bekehrungspathos respektvoll aufgeräumt, ganze Textpassagen umgeschichtet, Figuren klug gestrichen oder zusammengelegt, aus dem Stück so viel (Volks-)Theater und Komik herausgeholt wie möglich". Das rattere wie geschmiert, dennoch machen sich auch Längen und Schwächen bemerkbar, "Birgit Minichmayr erweckt den Eindruck, als wolle sie gar nicht erst groß was damit zu tun haben. So distanziert hat man die sonst so Gewaltige lange nicht spielen gesehen." Ofczarek spiele vortrefflich, mit durchaus eindringlicher Präsenz. Und wie Lina Beckmann in der Rolle der "Gute Werke" als treudoof-fröhliches Aschenputtel dem Jedermann die Augen und irgendwie auch sein Herz öffne, sei zwar arg lieslhaft, beim Applaus aber wurde sie stürmisch bedacht.

"Jedermanns" hartnäckiger Publikumserfolg stelle mehr Rätsel denn je, befindet Ulrich Weinzierl in der Welt (27.7.2010). Birgit Minichmayr sei unterfordert und "Ofczarek bleibt Ofczarek bleibt Ofczarek, ob als Ungustl oder reuiger Sünder." Was also habe Regisseur Stückl falsch gemacht? "Wer das Stück über die Maßen zu psychologisieren, ins Alltägliche zu übersetzen versucht, der beraubt das erhaben verlogene, durch Max Reinhardts Regietradition veredelte Spektakel seines wesentlichsten Elements: der Aura des Rituals und Relikts. Und werden die Hofmannsthalschen Knittelverse nicht zelebriert, sondern als reiner Redetext abgeliefert, schmerzt deren Armseligkeit besonders."

"War sie an diesem Abend wirklich da?", wundert sich Peter Michalzik in der Frankfurter Rundschau (27.7.2010). Und zwar über Birgit Michmayr, "Österreichs Traum von der Buhlschaft. Ihre derbe, bleiche Fleischlichkeit, die knackige Fülle, das nicht vollständig versteckte Obszöne, das passt alles so gut, wie wenn es extra für den 'Jedermann' designed worden wäre. Auf der Bühne aber wirkte Minichmayr nicht bleich sondern blass und unbeteiligt." Auch an Stückls Regie mäkelt Michalzik, die sich jetzt, da sie vom Tag in die Nacht verlegt wurde, stilsicher zwischen Stadttheater und Hollywood-Phantasie bewege: "Das ist beklagenswert. Die schöne Diesseitigkeit, die mittagshelle Präsenz, alles Irdische gehen verloren, dafür erscheinen Illusion, Traum, Jenseitigkeit. Die aber hat man ohnehin überall."

Stückls "unermüdliche Renovierungsarbeiten am heiligen Text, an diesem Purgatorium für die reichen Festspielbesucher" zielen auf eine Verweltlichung des Stoffes, weiß auch Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (27.7.2010). Und löse das über die Besetzung, etwa mit Ofczarek: "Von Beginn an wirkt er wie ein gutsituierter Erbe vom Starnberger See, der hinter dem Dom seinen Porsche geparkt hat. Geht es ihm langsam an den Kragen, heult er, als hätte der Porsche einen Kratzer. Ofczarek spielt eitel, spielt nur für sich - und genau das ist richtig. Mit der Absenz jeder Fallhöhe verliert das Spiel ums Seelenheil seine Dimensionen; die Tischgesellschaft besteht aus grellen Lemuren, und Jedermann ist der abgestorbenste von ihnen. Kein Sünder, nur ein lächerlicher Wurm ohne Größe, ein Jammerlappen der heutigen Zeit, ein Bundespräsident, der zurücktritt, weil er nicht immer geliebt wird."

Gerhard Stadlmaier berichtet in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (27.7.2010) aus Salzburg, das die "geistig-geistliche Hofburg des sonst führungslosen Landes darstellt. Naturgemäß mittels des schlechtesten und verlogensten Theaterstücks aller Zeiten, des 'Jedermann'." Auch mit den Darstellern rechnet er ab: "Ofczarek gibt den Mannsteufel ohne Konsequenz. Dass so ein Kerl 'Ich glaube' sagt, glauben wir nicht. Noch unglaubhafter das rote rückenfreie Kleid, das mit Birgit Minichmayr als Buhlschaft gefüllt ist. Die Minichmayr ist eigentlich auf Weibsteufel abonniert: herb-harsche souveräne Edelschlampen, Männerübersteigerinnen im Freikletter-Stil. Als Buhlschaft ein onduliertes Nichts im Verskorsett.

In der neunten Wiederauflage seiner Salzburger Inszenierung versuche Stückl zunehmend, sich der religiösen Imprägnierung zu entledigen, schreibt Margarete Affenzeller im Wiener Standard (27.7.2010). "Denn wenn dieser zeitlebens gottlose Jedermann zum Zweck des eigenen Seelenheils am Ende schließlich vor der Himmelstreppe sein 'Ich glaube' herauspresst, dann muss man das aus dem Mund von Nicholas Ofczarek nicht zwingend als ein Bekenntnis zu Gott begreifen, sondern hört ihn vielmehr sagen: 'Ich glaube ... euch, dass ich ein schreckliches Arschloch war.'" Und die Buhlschaft? "Birgit Minichmayr verkörpert sie in wenigen Gesten als kühnes Liebesplacebo: wenig Herz, rasender Verstand. Mitgehen in den Tod? Niemals."

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