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Extra-Zucker für Walter

von Guido Rademachers

Köln, 29. April 2011. Der ungarische Theaterregisseur Viktor Bodó liebt Filme. Seine Schauspieler verprügeln und erschießen sich auf der Bühne in Zeitlupe und -loops. Alltäglicheres erledigen sie im Zeitraffer. Bei einem Kuss fällt Kunstschnee zu opulentem Soundtrack aus dem Schnürboden, Windmaschinen blasen auf das Liebespaar – und in das Publikum. Schnitt.

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© Oliver Fantitsch

Viktor Bodó liebt auch Slapstick. Für die Bananenschalennummer braucht er nicht einmal eine Banane. Beim Betreten der Gaststätte, die Bühnenbildner Pascal Raich detailversessen als angeranztes 60er Jahre-Kantinenquadrat mit trostlos-sozialistischem HO-Touch in die Kölner Halle Kalk gestellt hat, rutscht ein jeder ohne ersichtlichen Grund aus: mal schnell, mal langsam, mal hinfallend, mal weiterstolpernd. Wohl kaum ein Versagen der Putzfrau, die auf den Boden spuckt und laut zeternd mit dem Schrubber nachwischt. Das Ausrutschen jedenfalls geht munter weiter. Jetzt sogar als Synchronübung.

Die Geschichte einer Schießerei

Wer Kino, Slapstick und die 60er Jahre liebt, liebt auch Jacques Tatis Film "Playtime". Wie in "Playtime" ist auch in Bodós Kölner Inszenierung kein einziger Satz zu verstehen. Wie im Film, der im 70mm-Breitwandformat gedreht wurde und den Zuschauer zwingt, sich für ein Motiv zu entscheiden und dafür ein anderes fallen zu lassen, gibt es auch auf der Bühne ein ständiges Nebeneinander verschiedener Handlungssplitter.

Immerhin wird bei aller Bühnenbetriebsamkeit klar, dass in einer großen Rückblende die Geschichte einer Schießerei erzählt wird. Gleich zu Beginn rennen im grellen Schlaglicht für einen kurzen Moment eine Frau und ein Mann durch die Kantine und fuchteln mit Pistolen herum. Laute Schüsse sind per Lautsprecher zu hören, dann wird der Knall zum bedrohlich-tiefen Grummeln gedehnt.

Spukende Mönche auf der Toilette

Später winselt und poltert "Lena, die Verflossene" schwer grimassierend auf Koma-Saufen-Artikulations-Niveau herum. Sie schwenkt Fotos, die sie mit ihrem Ex zeigen. Ein paar Resopaltische weiter studieren in bunten Hemden, brauner Lederjacke und mit Sonnenbrille zwei Blaxploitation-Filmkriminelle ihren Plan. Ihr Erkennungszeichen ist eine wüstes Hut-auf-den-Boden-Werfen. Beim Laden der Pistole klemmen sie sich erst einmal die Finger ein.

Die Krimihandlung ist indes nur Rahmen für einen deftigen Kantinentraum, in dem Uhrenzeiger hin- und herschaukeln, es außer Kartoffelpürree und Kaffee nur noch Extra-Zucker für Walter, den "Mann vom Ordnungsamt" gibt und nachts Mönche mit Kerzen auf den Toiletten herumspuken.

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Ein wenig erinnert die Aufführung bisweilen an ein Marthaler-Universum der aus Raum und Zeit gefallenen Sonderlinge. Die elf, sich aus dem Kölner Ensemble und der von Viktor Bodó gegründeten "Sputnik Shipping Company Budapest" zusammensetzenden Schauspieler dürften daraus allerdings wegen zu unbekümmert forsch-vordergründigen Spiels verstoßen worden sein.

In erster Linie geht es halt ums Entertainment. Manchmal etwas sehr robust. Als echtem Kinoliebhaber ist Bodó das bloße Anzitieren von Filmszenen schon Spaß genug. Wirklich bemerkenswert aber ist sein Gespür für Timing und Choreografie. Hier bietet die Kantine mit dem Mann an Tisch 2 eine der besten Küchen und ist klar eine Reise wert. Drei Sterne.

 

Der Mann an Tisch 2
von András Vinnai
mit der Sputnik Shipping Company Budapest
Regie: Viktor Bodó, Komposition: Klaus von Heydenaber, Bühne: Pascal Raich, Kostüme: Fruzsina Nagy, Dramaturgie: Anna Veress, Jan Hein, Licht: Tamás Bányai, Klangdesign und Toneinspielungen: Gábor Keresztes.
Mit: Balázs Czukor, Jost Grix, Löte Koblicska, Gusztáv Molnár, Murali Perumal, Torsten Peter Schnick, Myriam Schröder, Laura Sundermann, Rozália Székely, Zita Téby, Ferenc Tóth Simon.

www.schauspielkoeln.de


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Kritikenrundschau

"'Der Mann an Tisch 2' ist ein Abend, der augenzwinkernd das Leben zwischen Banalität und Ungeheuerlichkeit betrachtet und er stellt die Möglichkeit aus, in die schönere, emotionalere Welt von Musik und Film zu entschweben", so Martin Burkert in Fazit Kultur vom Tage auf Deutschlandradio (29.4.2011). Das körperbetonte Stück jongliere zwischen schlicht und surreal, zwischen Experiment und Abbildung. Am Schluss münde das Geschehen wieder in die Showdown-Nummer vom Anfang. "Jetzt verstehen wir sie besser. Die Verflossene will ihren Ex-Lover umlegen, die Gangster fühlen sich erwischt, der Mann vom Tresen durchlebt eine Amoklauf-Phantasie." Fazit: "Viktor Bodó und das an der Entwicklung des Stückes beteiligte Ensemble werden ihrem Anspruch gerecht, das Theater als ein Labor für Spiel, Gefühl, Sprache und Körperlichkeit zu sehen. Das Premierenpublikum zeigte sich zunächst etwas irritiert. Der Beifall begann verhalten, wurde dann aber kräftiger."

Man könne Vinnais Stück "als Rekonstruktion einer Massenschießerei betrachten", meint Dina Netz vom Deutschlandfunk (Kultur heute, 30.4.2011). Oder aber "als ein Stück über den Zufall" oder "über die Relativität von Zeit und das Verschwimmen von Traum und Wirklichkeit". Vor allem gehe es Bodós Inszenierung jedoch "ums Theater, um seine Möglichkeiten, seine Freiheiten und um die Lust am Spiel". Die Sprache tauge hier "nur bedingt als Transporteur von Informationen", stattdessen springe die Musik ein. Dazu bediene sich Filmfan Bodó "im cineastischen Gedächtnis völlig ungeniert". Wenn Bodó die Schauspieler in Zeitlupe oder Schnellvorlauf spielen lasse, sage er damit: "Was das Kino kann, kann das Theater schon längst, nur live und ohne technische Hilfe." Die Elemente der Inszenierung griffen dabei "völlig mühelos ineinander" – das sei "perfektes Theaterhandwerk, das seine Mittel nicht vorzeigt, sondern (fast) alle Sinne herausfordert und unterhält".

Pascal Raichs Bühnenbild habe die Zeit "in den sechziger Jahren festgefroren", schreibt Andreas Rossmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (2.5.2011). An diesem Ort passieren "Rituale, Running Gags, Rutschpartien", da mischen sich "Slapstickkomik und Skurrilitäten, Traumtänze und Tellerwerfen. Theater, das wie Kino sein will. (...) Klappt, nur, was soll es bedeuten? Eine freie Truppe (...) nimmt sich selbst auf die Schippe. Was zählt, ist das szenische Ergebnis." Die Inszenierung setze auf Musik, "um sich in Stimmung zu bringen". Da werde "geschrien und gesungen, geschnaubt und geschnäuzt, gelallt und gelacht, geweint und gewimmert sowie viel onomatopoetisiert, aber nicht gesprochen". Jedoch bleibe "im Ungefähren, welchen sozialen Verteilerkreis die Kantine bildet, was für einen Ausschnitt der Welt sie darstellt, wofür der Ort steht, woher die Gewalt rührt". Diese vermeintliche "Stückentwicklung", bei der sich die Schauspieler in "Vorläufigkeit" üben, sei "nicht zu Ende gedacht, sondern verläuft sich - oft amüsant, doch allzu beliebig - zwischen Marthaler und Monty Python".

Bodó belebe Vinnais "Lebenswidrigkeitsposse" sanftkomödiantisch, beschreibt ein begeisterter Vasco Boenisch in der Süddeutschen Zeitung (2.5.2011). Der Zuschauer genieße "phantasievolle Deutungsfreiheit". "Es passiert nichts und alles. Alles und noch viel mehr." Der Abend gerate zu einem "Sinnbild des Lebens in seiner Unberechenbarkeit, seinem Stolpern und Straucheln und Anything Goes". Dabei haue sich Bodós Komik "nicht selbst auf die Schenkel, sondern ist todernst", was "noch die absurdesten Momente teils tieftraurig" mache. "Banalstes und Blödsinnigstes gehen ganz beiläufig Hand in Hand. Und allmählich dechiffriert man die Geschichten hinter den kleinen Auftritten." Zwar werde man sicher nicht "intellektuell überfordert", aber immerhin "charmant unterhalten". Von "versponnenen Bildern voller Vergeblich- und Vergnüglichkeit. Er ist eine Einladung in das letzte Land der unbegrenzten Möglichkeiten: das Theater."

Eine Vielzahl von "Charaktervignetten" hätten sich Vinnai und Bodó ausgedacht, so Christian Bos im Kölner Stadt-Anzeiger (2.5.2011). Der Zuschauer könne sich im Bühnengeschehen umgucken "wie in einem Wimmelbild". Vinnai/Bodó bedienten sich "erzählerischer Kurzformeln" (trottelige Gangster, sitzengelassene Braut, deprimierter Gesundheitsinspektor). "Viele der elaborierten physischen Gags erfordern das sichere Zusammenspiel", und Budapester und Kölner Schauspieler harmonierten "wortlos auf höchstem Niveau". Dabei spanne Bodó den Bogen "von den Vätern der Klamotte bis zu Bud Spencers Haudrauf-Humor, von der stoischen Stille Buster Keatons bis zum Tarantino'schen Amoklauf" – und trotzdem wirke der Abend "wie aus einem Guss". Das Theater erlaube es, die "filmischen Einflüsse auf eine höhere Ebene der Absurdität zu hieven". Fazit: ein "präziser, stilsicherer und hochkomischer Abend".

Brigitte Schmitz-Kunkel von der Kölnischen Rundschau (2.5.2011) hat gar eine "oscarreife Hommage an die Filmgeschichte" gesehen, mit der Bodó eine "Wunderkerze fürs Kölner Publikum" zünde. Die Darsteller spielten sich "mit einer schwerelosen Perfektion durch die Szenenfolge". So entstünden "Magic Moments", "weil sich die Akteure in einer genial gut funktionierenden Kunstsprache bewegen". "Dank des Klangdesigns und der Musik" entstehe ein "hochpräziser Rhythmus" und "mitten im Absurden mitunter auch frappierende Romantik". "Großes Kino"!

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