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Eine Hölle für die Guten

von Christian Rakow

Berlin, 18. Oktober 2011. Maren Eggert, eine Elektra wie Mantegna sie malen würde: in düsterem Gouvernantenrock, der ihren Teint leicht blässlich färbt. Auf den durchdringenden, weiten Augen leuchtet bisweilen ein zarter Tränenfilm. Es ist ein Schleier der Entrückung. Ihre Lippen sind stets etwas zusammengezogen. Diese Elektra spricht nicht, nein, sie peitscht; sie fasst mit jedem Wort unter die Haut, zieht sie in Schichten ab, so als kenne sie die Menschen nur als niederes Getier. "Hoffentlich gibt es irgendwo auch eine Hölle für die Guten", sagt sie und lacht sardonisch. Das ist ein Bild von einer Elektra! Kalt und groß. Für Momente erstrahlt es hell und zeigt uns eine Welt ganz abseits dieses Abends und erlischt.

Denn nirgends, wirklich nirgends, kann diese schauspielerische Vision Halt finden. Meilenweit sind wir von den ehrenwunden Muttermördern Orestes und Elektra entfernt, von ihrem Fatum, ihrer Schuld und Sühne, wie sie Aischylos in seiner "Orestie" entfaltet hat. Was heute im Deutschen Theater läuft, ist die ultimative Verzwergung dieses Mythos zur Kinderstubenmalaise: Eugene O'Neills "Trauer muss Elektra tragen" von 1931.

Inzestuöser Mief
Als hätte unser Theater nicht Grund genug, in die Welt hinein zu blicken: auf die sozialen Zerwürfnisse unserer Tage, die kriegerische Zuspitzung globaler Konflikte, auf die Schuldenkrise und unser aller Anteil daran! Was aber macht die DT-Dramaturgie? Sie wählt ein Melodrama aus den (un-)seligen Zeiten der patriarchalen Großfamilie, das so durch und durch inzestuös mieft, dass man auf jeder zweiten Seite das Fenster aufreißen möchte.

Lavinia (alias Elektra) liebt Papa Ezra (alias Agamemnon) und ein bisschen auch ihren Bruder Orin (alias Orest), weil der dem Papa so hübsch ähnelt. Orin liebt Mama Christine (alias Klytaimestra) und auch ein bisschen Lavinia, weil die – Gezänk mit Mama hin oder her – der Mama aufs Haar gleicht. Mama hat sich aber leider in den Schifferkapitän Adam Brant (alias Aigisthos) verliebt, der – Sie ahnen es! – ihrem Sohn Orin zum Verwechseln ähnlich sieht. Kein Wunder, schließlich ist Brant ein illegitimer Spross des Hauses, gezeugt von Onkel David und dem Dienstmädchen Marie Brantôme. In diesem dichten Geflecht passieren Morde bevorzugt aus Eifersucht.

Nun wieder starr und eisig
Geschenkt, dass O'Neill seinen Ödipussi-Plot in einer hochneurotischen Textur darbietet und seine Leser mit andauernden Regieanweisungen gängelt, Marke: "Lavinia nun wieder starr und eisig – langsam: Nein. Nicht, wenn Du mich nicht selbst dazu zwingst. Dann, da sie das Erstaunen ihrer Mutter gewahrt – finster: …". Egal auch, dass jede seiner Figuren ihre komplexbehaftete Wahrheit wie im Groschenroman geschwätzig vor sich herträgt. Das war so der Gusto anno 1931. Schlimm ist allein die Ausgrabung zum jetzigen Zeitpunkt und nurmehr aberwitzig die dramaturgische Chuzpe, diese Binnenansicht einer Familie als Kriegsheimkehrerdrama zu behaupten. Dabei erklären sich die Kriegserzählungen der Figuren allein aus der Familienstruktur, nicht umgekehrt. Folgerichtig möchte der Zeit- und Militärhistoriker Klaus Naumann im Programmheft denn auch lieber über Wolfgang Borcherts "Draußen vor der Tür" als über O'Neills Trilogie der trüben Kinder reden. Warum spielt man dann nicht Borchert?

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Pures Melodrama: Adam Brant (Bernd Moss) und Lavinia/Elektra (Maren Eggert).
© Arno Declair

 

Was an die Stückwahl anschließt, ist eine Serie von Verlegenheitslösungen: Dramaturgin Sonja Anders und Regisseur Stephan Kimmig schreiten zur Kahlschlagorgie und bringen den einhundertsechzig Seiten langen Wälzer auf knapp zwei Stunden Spieldauer runter. Leider fühlt sich Kimmig in seiner Trailerversion weiterhin den manischen Regieanweisungen O'Neills verpflichtet, weshalb sich seine Akteure praktisch im Sekundentakt durch wechselnde Haltungen und Energiezustände (zwischen apathisch und Attacke!) zappen. Statt stimmiger Psychologien hagelt es aufdringliche Standbilder im grauen, angeschrägten Betonbunker von Bühnenbildnerin Katja Haß. Der Tiefpunkt ist fraglos bei der Ermordung Adam Brants erreicht, wenn sich Lavinia (Maren Eggert) von hinten an Brant (Bernd Moss) herankuschelt, dem sich wiederum Friederike Kammer als Mama Christine von vorn anschmiegt, während – na, wer fehlt? – Orin (Alexander Khuon) an Lavinias Rücken tritt und – Achtung, Mord! – über ihre Schulter hinweg Brant die Nase zuhält. Das ist der Inbegriff von Kitsch.

Keine Kompromissnummer
Es schmerzt die Vergeudung von schauspielerischem Potential. Nichts sehen wir von dem überspannten, verzärtelten, wegdriftenden Orin in Alexander Khuons Spiel. Wenigstens macht Khuon mit flapsiger Galanterie aus der unfreiwilligen Komik dieses Unterfangens eine freiwillige, wenn er erst seine Loverin im Wartestand Hazel Niles (bezaubernd in ihrer Nebenrolle als somnambul rätselhafte Dulderin: Natalia Belitski) liebkost und sogleich auch Mutter Christine seine Treue bekundet.

Es gibt Abende, an denen aus einem drittklassigen Stück durch Ausnahmeschauspieler in glücklicher Regie eine erstklassige Inszenierung entsteht. Dämonen an der Schaubühne letzte Saison war so ein Fall. Dea Lohers Unschuld, soeben von Michael Thalheimer zurechtgestutzt, fällt auch in diese Ecke. Heute war man, trotz Extraklassedarstellern und einem Regisseur, der mit Gorkis Kinder der Sonne unlängst eines der herausragenden Werke für das DT geschaffen hat, auch von solchen Kompromissnummern weit entfernt. Um wie viel weiter von dem, worum es eigentlich geht: erstklassige Stücke für unvergessene Abende!


Trauer muss Elektra tragen
Von Eugene O'Neill
Deutsch von Marianne Wentzel
Regie: Stephan Kimmig, Bühne: Katja Haß, Kostüme: Anja Rabes, Musik: Ingo Schröder, Dramaturgie: Sonja Anders.
Mit: Helmut Mooshammer, Friederike Kammer, Maren Eggert, Alexander Khuon, Bernd Moss, Sebastian Grünewald, Natalia Belitski, Ingo Schröder (Live-Musiker).

www.deutschestheater.de

 

Hier spricht Regisseur Stephan Kimmig über das Stück, über Kriegsheimkehrer und seine Absichten im Deutschlandradio Kultur.

Kritikenrundschau

Andrea Gerk (hier der Originalbeitrag zum Nachhören) sagte auf Fazit. Kultur vom Tage im Deutschlandradio (18.10.2011): Es werde "relativ voraussetzungslos rumgeschrien, getobt, aneinander rumgezerrt, gerüttelt, auch geküsst wird viel". Trotzdem komme keiner beim anderen wirklich an. Manche Bilder, die an Krieg erinnerten, kreiere Kimmig ganz einfach. Wenn Maren Eggert ihren schwarzen Rock über den Kopf ziehe, falle einem sofort der sogenannte Kapuzenmann aus Abu Ghraib ein. Vieles indes sei nicht stimmig. Die Inszenierung beginne mit den Reifröcken aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, später würden die Kostüme ohne Begründung immer moderner. Auch in der Spielweise tauche diese Unstimmigkeit wieder auf. Zwar sei Maren Eggert sehr eindringlich gewesen, sehr gut auch Alexander Khuon und Friederike Kammer, aber der merkwürdige Spagat zwischen psychologischem Rollenspiel und einem hysterischen, fast ausgestellten Spiel, erzeuge immer wieder Momente unfreiwilliger Komik. Man wisse gar nicht richtig, was Kimmig wolle. Wenn die Figuren einerseits "tief in die Abgründe rein" gingen, andererseits sofort wieder stilisierten, hebe sich die "Intensität, die vorgegeben" werde, selbst wieder auf. Der Abend treibe "ungeheuren emotionalen Aufwand", habe aber gar keine "emotionalisierende Kraft".

Auf der Webseite der Berliner Tageszeitung Der Tagesspiegel (19.11.2011) schreibt Rüdiger Schaper: O'Neills "Monsterwerk", diese "Orgie der Selbstzerstörung", jage Stephan Kimmig durch die Zentrifuge. Ergebnis: "Zu heiß gewaschen und zu schnell". Die Figuren wirkten nur deshalb körperlich so groß, weil die Bühnenbildnerin Katja Haß sie in einen niedrigen grauen Kasten stellt, ohne jedes Requisit. Die Aufführung strahle, "wie so viele Produktionen am Deutschen Theater", eine "kühle Rationalität" aus. Und sie habe "etwas Verzwergtes", man schneide sich die Tragödie handlich. Das Tragische werde "unschädlich gemacht, ehe es sich entfaltet". Die Szenen seien "kurz gehalten, jede auf Pointe getrimmt". Maren Eggert "wäre mit ihrer offenen und zugleich dunklen Aura eine wunderbare Lavinia - nur kann sie nichts entwickeln". Ihre "Ausbrüche" wirkten wie "hysterische Explosionen ohne Vorwarnung". Auch Alexander Khuon habe einen starken Anfangsauftritt als "traumatisierter Kriegsheimkehrer. Aber dann steht er aus dem Rollstuhl auf, als wäre nichts gewesen. Blackout!" Überall sehe man derzeit ein solches Theater, darin stecke "ein Misstrauen gegenüber den eigenen Möglichkeiten", es sei ein "geordneter Rückzug des Theaters von den Schlachtfeldern". Viele Regisseure agierten "wie Kontrollfreaks, haben einen faulen Frieden mit der Dramatik geschlossen".

Auf der Webseite der Berliner Zeitung (19.10.2011) und, leicht gekürzt, auch in der gedruckten Frankfurter Rundschau (20.10.2011) schreibt Ulrich Seidler über das "psychoskeptische Bunkerspiel": Die Schauspielerinnen wirkten mit ihren voluminösen Kostümen wie gigantische Fleischpuppen, als habe man "die Figuren in überlebensgroße Leiber eingesetzt". Dort drinnen "scheinen diese fremden Zwerge mit monströsem Spieltrieb die Schaltzentrale geentert zu haben, an den Steuerknüppeln zu rütteln, Tränen- und Hirnanhangdrüsen auszuquetschen und dann und wann mal das ganze emotionale Kontrollsystem abstürzen zu lassen". "Kräftige bis grobe, abrupt gebrochene Wut- und Knutschanfälle sowie Nervenaus- und körperliche Zusammenbrüche" seien die Folge. Wenn einer sterbe, sehe es so aus, "als habe die Figur die Lust an dem Spielleib verloren und ihn einfach stehen gelassen". Ausgerechnet mit O’Neills "psychoanalytisch-melodramatischem Triptychon" scheine Kimmig, dieser Routinier des "seelenkundlichen Theaterspiels", sein "Misstrauen am bürgerlichen Theater ausdrücken zu wollen - und zwar mit den Mitteln des bürgerlichen Theaters."

Auf Welt Online (20.10.2011) schreibt Matthias Heine: Da der Gattenmord als Verbrechen nicht ausgestorben sei, müsste man sich, trotz facebook und Patchwork-Familien, eigentlich noch "brennend" für die Familie Mannon aus "Trauer muss Elektra tragen" interessieren. Stück-Kürzung, Kostüme im zweiten Teil, das Bühnenbild, ein bunkerartiger, flacher, fensterloser Kasten, - alles "zielt weg vom Besonderen und vom Historischen ins Allgemeine und Gegenwärtige". Schauspielerisch werde auf "dem Hochleistungsniveau agiert, auf das der Zuschauer in diesem Hause Anspruch hat". Maren Eggert lasse den aus "nach innen brennender Sinnlichkeit befeuerten Furor" der Lavinia "mehr als anschaulich werden". Vor allem im Zusammenspiel der Geschwister – Maren Eggert und Alexander Khuon - erhebe sich die Aufführung "zu schwindelerregender Virtuosität und Intensität". Und doch fühle man sich den Figuren "fern", der "ganze Wust aus Mord und Hass scheint uns gar nicht mehr anzugehen".

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (20.110.2011) schreibt Irene Bazinger: Für eine von der antike inspirierte Trilogie wie O'Neills "Trauer muss Elektra tragen" sei "die ganze wilde Küsserei", wie Stepan Kimmig sie inzestuös inszeniere, "einfach zu wenig". Bei Kimmig werde aus der Paraphrase der "Orestie" eine "hohle, blasse Kolportage mit den üblichen, hier recht dünn aufbereiteten Ingredienzien. In dem "schäbigen, niedrigen Raum" von Katja Hass tapsten die Schauspieler wie "eingesperrte Riesen" umher. "Sie könnten durch die Decke gehen, kleben jedoch an einer einfallslosen Regie fest". Maren Eggert sei unter diesen Bedingungen keine "Furie der Unbedingtheit", sondern eine "rotbackige Klosterschülerin mit cholerischen Ausbrüchen" mit der "Anmutung einer beleidigten Leberwurst". Alexander Khuon gelinge es "zumindest hin und wieder" die Folgen seiner "Traumatisierungen aufzuzeigen". "Einzig Friederike Kammer vermag mehr als eine oberflächlich skizzierte Figur zu gestalten". Um sie bleibe stets "ein Geheimnis, das Aura oder Schicksal heißen könnte, Mythos oder Wahn". Alles andere aber sei in dieser Inszenierung nicht der Rede wert.

In der Süddeutschen Zeitung (22.10.2011) schreibt Peter Laudenbach: Kimmig verdünne Eugene O"Neills Dramen-Trilogie zur "zeitlos düsteren Versuchsanordnung". In ihr zappelten die Figuren wie "neurotische Laborkaninchen ". Schon das Stück sei "nicht frei von Schwulst und dampfendem Triebleben". Fast "wie ein Misstrauensvotum gegen O"Neills Vorlage", wirke es aber, wie Kimmig die Figuren zu "Neurosenzoo-Insassen" reduziere. Maren Eggert mache aus Lavinia einen "überspannten Unglücksraben", keinen "Charakter, sondern ein einziges Verhängnis-Ausrufezeichen", Ezra bei Helmut Mooshammer ein "nervöses Männchen". Bernd Moss mache Brant "zur grimassierenden Witzfigur". Selbst Alexander Khuon rette sich als Orin in "routiniertes Charmebolzentum" oder "sturzbetroffenes Oh-Mensch-Pathos". "Etwa in der Mitte" kippe die "Tragödienbehauptung immer stärker in die Groteske", bis es am Ende fast so aussehe, als mache sich die Regie über die "Ödipus- und Inzest-Muster und die Figuren mit ihren verschwitzten Triebnöten" lustig. Ein "zäher Abend", ein "unnötiges Nichts von Inszenierung".

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