Mit dem Rücken zur Wand

von Steffen Becker

München, 14. September 2013. Scherenschnitte, ein Mann wird von einer Axt getroffen, waberndes Blut-Rot als Hintergrund. Was sich als Cover von Thriller-Bestsellern gut machen würde, verspricht zu Beginn der "Orest"-Aufführung am Münchner Residenztheater deren populäre Ingredienzen. Es geht um familiäre Abgründe, Machtmissbrauch, Sex, den moralischen Verfall einer Gesellschaft – kulminierend in einem Exzess von Gewalt.

orest 02 280 hoch andreas pohlmann uZum Äußersten bereit: Orest (Shenja Lacher) und
Elektra (Andrea Wenzl)  © Andreas Pohlmann
Ein Versprechen, das John von Düffel einlöst mit seiner Bearbeitung der antiken Dramen um das Schicksal des Orest, Sohn des Troja-Eroberers Agamemnon. Der Autor bereinigt die Stoffe und unterschiedlichen Ansätze von Sophokles, Aischylos und Euripides nahezu vollständig um die Anteile der griechischen Götterwelt und spitzt die Geschichte um Vater- und Muttermord auf die Fragen nach Schuld und die Legitimität von Vergeltung zu.

Ansteckender Hass

Regisseur David Bösch versetzt das Rache-Epos in eine düster-schäbige Enge. Elektra (Andrea Wenzl), die allein auf Rache fixierte Schwester des Orest, sitzt vor einer alten Kinderschaukel und wälzt sich in Staub, der sich im weiteren Verlauf mit der Asche von Toten mischen wird. Mutter Klytaimnestra (Sophie von Kessel), Axtmöderin an ihrem Mann, residiert mit Ursurpator Aigisthos (Norman Hacker) in einem heruntergekommenen Bungalow, an dessen Schiebetüren das Kondenswasser zu symbolischen Streifen der Vernachlässigung gerinnt. Alles trägt Patina, es herrscht Endzeitstimmung, auch in den Köpfen.

Entsprechend nah am Rand des Nervenzusammenbruchs lässt Bösch seine Figuren aufeinander losgehen. Andrea Wenzls Elektra ist ein Kraftpaket, das Worte und Körper ausnahmslos allem entgegenschleudert, was sie mit ihrem Unglück in Verbindung bringt. Wenzl meistert die Gratwanderung, Zerstörungswillen von Wahnsinn zu trennen. Tiefer Hass springt einem aus ihrer scharfen Reibeisen-Stimme und ihren aggressiven Bewegungen entgegen.

Keine guten Voraussetzungen für Mutter Klytaimnestra, um ihr Gewissen zu erleichtern. Geplagt von Vorahnungen ihres Todes rechtfertigt sie den Mord am Gatten durch dessen Kindes-Opfer für guten Wind gen Troja. Niedergedrückt durch Krücken, durch die Angst vor ihrem Sohn Orest und zermürbt von den Anwürfen Elektras sucht sie Frieden für sich. Sophie von Kessel verleiht ihr eine zarte Zerbrechlichkeit, gibt aber rechtzeitig – bevor sich Sympathie regt – zu erkennen, dass sie die Folgen ihrer Tat belasten, nicht ihre Schuld. Lediglich ihr neuer Gatte und König ist ganz bei sich, ein im Auftreten überzeugend-öliger Intrigant Aigisthos von Norman Hacker.

Mord, ein lustvoller Theaterakt

In dieses Panoptikum lässt Bösch mit Shenja Lacher einen Orest platzen, der sich seiner Rolle als Rächer nicht mit Haut und Haaren hingeben kann. Von Elektra freudig begrüßt, lässt er sich bald anstecken von ihrem Hass. Bösch inszeniert Orests Rachewillen jedoch als Spiel um Ehre und Prestige. Wenn sein Orest das Beil ergreift, ertönt Bombast-Musik und Lacher posiert wie ein Boxer beim Einmarsch, angefeuert von Elektra als Kommandogeberin. Ihr jedoch ist es tödlich ernst. Die körperlich unterlegene, aber unerbittliche Elektra macht den starken, aber nicht zum Äußersten bereiten Krieger Orest (mit ein bisschen Inszest) zu ihrem Instrument.

orest 14 560 quer andreas pohlmann uGefangen in der Gewaltspirale: Agamenmons Kinder  © Andreas Pohlmann

Den Stiefvater kann er töten ohne Skrupel – dessen Tod ist ein lustvoller Akt mit treibender Musik und rasant drehender Bühne. Die Konsequenzen des Muttermords hingegen fürchtet Orest. Ihre Ermordung ist eine dicht und qualvoll inszenierte Abfolge von Axtansetzen, Flehen und innerem Konflikt. Nach den Morden verpufft die Energie der Protagonisten, die Inszenierung jedoch steuert erst auf ihre stärksten Momente zu.

Dämmerndes Unrecht

Im dritten Teil, der Euripides-Bearbeitung des Stoffs, bricht die Gesellschaft in das Familiendrama ein. Auf der nun zur Messie-Höhle umdekorierten Bühne wissen die Protagonisten nicht mehr weiter. Bösch arbeitet deutlich heraus, wie sie an ihrem Egoismus gescheitert sind. Elektra irrt ihres Lebenszwecks Rache beraubt umher, irritiert von der Erkenntnis, dass das Erreichen ihres Ziels nicht zum Glück führt. Orest sitzt antriebslos im Sessel, nicht wissend was eigentlich sein Ziel war – Rächer seines Vaters? Herrscher?

Das Volk sieht ihn in seiner Untätigkeit jedenfalls nicht als Befreier, sondern als Muttermörder. Orest dämmert sein Unrecht. Im permanenten Widerstreit zwischen seinem Gewissen und Elektra fährt Lacher als Orest zur Hochform auf. Die ständigen Wechsel zwischen Apathie und Aktionismus, zwischen Selbstmitleid und Lebenswillen sind eine Herausforderung, die Lacher sowohl glaubhaft als auch mit Situationskomik löst. Tragisch bleibt es trotzdem. Mit dem Rücken zur Wand bleibt das Geschwisterpaar in der Spirale der Gewalt gefangen und tötet noch ein bisschen weiter. Bis alles in Trümmern liegt – die Bühne und die Moral.

 

Orest
nach Sophokles, Aischylos, Euripides
Bearbeitung: John von Düffel
Regie: David Bösch, Bühne und Video: Falko Herold, Kostüme: Meentje Nielsen, Musik: Bernhard Moshammer, Licht: Tobias Löffler, Dramaturgie: Sebastian Huber.
Mit: Shenja Lacher, Andrea Wenzl, Sophie von Kessel, Norman Hacker, Valerie Pachner.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.residenztheater.de

 

Kritikenrundschau

"Nicht unbedingt nervenzerfetzend", aber auch "nicht unspannend" ist dieser "Psycho-Thriller" für Christine Dössel von der Süddeutschen Zeitung (16.9.2013). Bösch mische den Mythenstoff mit "inszenatorischen Knallern" und "gelegentlichen Action-Einlagen (...) mit 'Kill Bill'-Thrill auf". Herausgekommen sei eine "gekonnte, (fast schon zu) stadtheaterbetriebsfreundliche Inszenierung", für Bösch-Verhältnisse "geradezu entpopgöttert, gefühlssachlich und werkgetreu". Problematisch sei, "dass der große Mythos sich nicht so reibungslos auf Heute-Niveau herunterschrauben" lasse, weshalb man sich trotz formidabler Schauspieler bisweilen frage, "was das Ganze eigentlich soll". Zu "einer eigenen Haltung und seiner angestrebten Heutigkeit" finde der Abend im letzten Teil mit einem hervorragenden Shenja Lacher.

John von Düffel pflege in seinem Stück "einen meist wohltuend gehobenen Ton, lässt die Erinnerung an den hohen Ton der antiken Werke mitschwingen", so Simone Dattenberger vom Münchner Merkur (16.9.2013). Bösch verschärfe "auf spannende Weise die zynische Ebene" und mache aus Orest und Elektra ein "Natural Born Killers"-Paar: "Normale Leutchen rutschen wie von selbst in ein enthemmtes, sinnloses, sich ständig fortsetzendes Morden", die antike Rache-Handlung sowie die Ebene des Heroischen und des Politischen würden hingegen unwichtiger. "Der Blutrausch wird ins Zentrum gesetzt, der Wille zur Vernichtung." Während von Kessel, Hacker und Wenzl Dattenberger nur teilweise überzeugten, ist Lacher für sie "die Sensation des Abends" – "er lässt uns eine Facette nach der anderen entdecken zwischen Bübchen, Proll und Mörder, Tölpel und Träumer".

Man sehe hier "zwei sehr jungen, sehr bösen Schlachtergeschwistern bei ihrem Mordhandwerk zu", was "die meiste Zeit erstaunlich unterhaltsam" sei, schreibt Wolfgang Höbel auf Spiegel online (16.9.2013). "Es herrscht bei aller Schwerkriminalität eine total easy Stimmung im verfluchten Bungalow der Argos-Family". Die beiden jungen Helden wirkten, "als seien sie Fieberträumende, Entrückte, Zugedröhnte" à la "Pulp Fiction" und "Natural Born Killers". "Es ist also trotz des Grusels eine schon wieder kolossal altmodische Welt, in der Böschs Inszenierung spielt" – "eine leicht streberhafte Theaterhommage an eine Zeit, in der Springerstiefelmädchen an antiken Königshöfen noch überraschend waren". Bei aller "beherzten Schockerkunst", die Wenzl und Lacher zeigten, bleibe "die Wut und die Not der beiden bösen blutrünstigen Geschwister (...) eine Geschichte aus dem Lande Weit Weit Weg".

Spannend ist für Gabriella Lorenz (Abendzeitung, 16.9.2013) Düffels "freie Verwendung von Euripides' selten gespieltem 'Orestes'", indem die antike Schicksalhaftigkeit "auf Menschenmaß" heruntergebrochen werde. Böschs Inszenierung "lahmt aber streckenweise und lässt einen ziemlich kalt". Dass sie "nie richtig in Fahrt kommt, mag dem retardierenden Text geschuldet sein". Euripides' Deus ex machina sei hier "als Vision eines verlorenen Verlierers nur noch zynische Ironie".

Laut Matthias Heine von der Welt (17.9.2013) haben Bösch und von Düffel in ihrer Tragödien-Bearbeitung "alles getan", um in Orest "einen Hamlet sichtbar werden zu lassen". Mit einem Unterschied: "Während der Dänenprinz bei Shakespeare vor dem Mord an der Mutter und ihrem Geliebten grübelt, fängt der Griechenprinz erst hinterher mit dem Nachdenken an." Regisseur und Dramatiker interessiere vor allem "das Pathologische des Pärchens" Orest und Elektra. Die beiden Hauptdarsteller erhalten das größte Lob vom Kritiker: "Dass so wenig Treibstoff die Tragödie trotzdem über zweieinhalb Stunden vorantreibt, liegt an der Power, mit der Lacher und Wenzl die versehrten Killerkinder spielen."

Von einer "beeindruckenden Antikenbearbeitung" durch John von Düffel berichtet Teresa Grenzmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (17.9.2013). Regisseur David Bösch habe sie bei seinem Münchner Debüt "in eine zweieinhalbstündige, über traum- wie albtraumhaften, modernen wie antiken Abgründen schwebende Menschenstudie verwandelt". In der ersten Hälfte habe es "noch den Anschein, der Regisseur wolle die Tragödie verneinen, aber seine Schauspieler zu Tragöden ernennen, indem sie alle Worte gestenreich ausmalten". Nach der Pause aber lasse er die Figuren "richtig leben."

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