Kein Einzelfall

Berlin, 12. Mai 2014. Als Konsequenz aus der Plagiats-Affäre beim Berliner Theatertreffen tritt die Schweizer Jurorin Daniele Muscionico mit sofortiger Wirkung aus der Theatertreffen-Jury zurück. Das teilen die Berliner Festspiele in einer Pressemeldung auf ihrer Website mit. Ein Nachfolger werde zeitnah benannt.

Am Freitag waren in einem Blog von Wolfgang Behrens auf nachtkritik.de die Übernahmen ganzer Passagen der Jurybegründung zu Frank Castorfs Céline-Inszenierung "Reise ans Ende der Nacht" aus dem Programmheft des Münchner Residenztheaters dokumentiert worden. Dabei handelte es sich "nicht um einen Einzelfall", wie die Berliner Festspiele jetzt bestätigen. Weitere Recherchen von nachtkritik.de hatten ergeben, dass es bereits 2013 beim Erstellen der Jurybegründung für Luk Percevals Fallada-Romanadaption Jeder stirbt für sich allein zu Aneignungen von Textpassagen aus dem Thalia-Programmheft zu der Inszenierung kam. Nicht zuletzt waren hier Aussagen von Perceval selbst ohne Kennzeichnung in den Text der Jurorin eingegangen.

Wie nachtkritik.de herausfand, waren die Berliner Festspiele von der Übernahme einiger Passagen aus dem Münchner Programmheft bereits Anfang April, vor Drucklegung der Jurybegründungen im Theatertreffen-Festivalmagazin, durch die Residenztheater-Dramaturgin Angela Obst informiert worden. Dazu nehmen die Berliner Festspiele ebenfalls Stellung: "Auch die Berliner Festspiele sind ihrer Verantwortung bei der Erstellung des Magazins in diesem Fall leider nur ungenügend nachgekommen: Trotz Hinweisen aus dem Münchner Residenztheater haben wir nicht mit der nötigen Konsequenz reagiert. Wir bedauern dieses Versäumnis zutiefst."

(Berliner Festspiele / chr / wb)

 

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Presseschau

Das Abschreiben aus dem Programmheft der Münchner Céline-Inszenierung sei "kein Verbrechen", schreibt Matthias Heine für die Welt (online 12.5.2014), "denn Programmhefttexte sind ja schließlich dazu da, um schlechte und unsichere Journalisten geistig zu beeinflussen. Aber es ist natürlich eine Riesenpeinlichkeit."

Für die Süddeutsche Zeitung (14.5.2014) kommentiert Mounia Meiborg: Das Abschreiben aus dem Münchner Programmheft sei "nicht nur unseriös, weil die Jury unabhängig von der PR der Theatermacher sein soll. Es ist auch ganz schön blöd: Beide Texte waren beim Theatertreffen einzusehen, wer wollte, konnte sie nebeneinander halten". Das tiefer liegende Problem: "Das Treffen betont dann stets die Unabhängigkeit seiner Juroren. Das Copy&Paste-Texten eines Jury-Mitglieds ist deshalb mehr als ein Fauxpas. Es rückt das Theatertreffen in der Wahrnehmung seiner Gegner in die Nähe des ADAC."

Dass dies "kein Einzelfall" sei, wie die Festspiele mitteilten, glaubt Gerhard Stadelmaier in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (15.5.2014) "sofort", um dann gleich zum Jury-Bashing auszuholen: "Die Entscheidungen der Jury, die 'zehn bemerkenswerten Inszenierungen' betreffend, waren über die Jahre hin zu großen Teilen derart belanglos, dass im Grunde kein Juror dazu gezwungen werden sollte, auch noch eigene Worte dafür finden zu müssen. Übernahmen aus Programmheften genügen völlig."

"Skandale? Nicht einmal Skandälchen", findet Rüdiger Schaper im Tagesspiegel (19.5.2014). Allerdings habe das Theatertreffen unfreiwillig "grundsätzliche Fragen des zeitgenössischen Theaterbetriebs" aufgeworfen: "Zum Beispiel wie es dazu kommt, dass ein Dramaturg einen Text über den französischen Schriftsteller Louis-Ferdinand Céline verfasst, der ohne Weiteres als journalistisch-kritischer durchgehen konnte. Da nähert sich etwas einander an."

Die "schon immer streitbare Grundidee, nach der eine Kritiker-Jury bemerkenswerte Inszenierungen zur Einladung nach Berlin empfiehlt", wackele. Nicht nur, aber auch, "weil eine Jurorin des wiederholten Programmheftplagiats überführt wurde und zurückgetreten ist", so Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (19.5.2014). Die Jurytätigkeit sei "eine ziemlich heikle, verantwortungsvolle Aufgabe, bei der es sehr schwer ist, seine kritische Unabhängigkeit von Theatern, Künstlern, Kollegen und dem Festival, das einer innerbetrieblichen Familienfeier gleicht, zu bewahren". Die neue Leitung gehe dies offensiv an, setze die Juroren ins Licht und auf Podien. "Dies alles bei heftiger, theaterpolitisch sicher sinnvoller Wichtigkeitsbehauptung, die freilich umso angreifbarer macht. Nach der bezeichnenden Verfehlung, die so mancher Kollege lieber beschwiegen hat, könnte diese Grundidee doch mal wieder auf den Prüfstand."

"Eine ziemliche Dummheit" sei der Fall, so Alexander Kohlmann auf Deutschlandradio Kultur (18.5.2014), "aber eben auch ein persönlicher Fehler in einer Runde von sieben Juroren, die sich vor der Einreichung dieses Textes gemeinsam auf diese Inszenierung verständigt hatten". Er spräche nicht "gegen eine siebenköpfige Jury, sondern zeigt im Gegenteil den Vorteil einer Verteilung der Verantwortung auf mehr Schultern als nur auf einen einzigen, fehlbaren Kurator. Und es ist genau diese Unabhängigkeit des Gremiums, die schon immer die besondere Faszination dieses Festivals ausmacht, einem der wenigen, das keine Theatermacher in seiner Auswahlkommission sitzen hat."

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