"Erst nass machen!"

von Shirin Sojitrawalla

Frankfurt, 11. Januar 2015. Sobald Oskar Matzerath die Bühne betritt, strampelt er Romanheld wie Filmkind zur Seite und wird zur eigenständigen Theaterfigur. Der magisch realistische Jahrhundertroman von Günter Grass gerät mit Nico Holonics zur fiebrigen One-Man-Show.

Die Bühne ist ein mit Erde befülltes Rechteck, das Kartoffel- und Gottesacker ist wie Exerzierplatz und Zirkusarena. Rechts klafft ein Grab, links steht ein übergroßer Stuhl. Holonics entert diesen Platz wie ein Schiff und weiß zu Beginn scheinbar nicht, wo anfangen zu erzählen. In Klein-Buben-Hosen, Kniestrümpfen und mit zurückgelegten Haaren popelt er seine Schuhspitze in den Erdboden und beginnt mit seiner kaschubischen Großmutter Anna Bronski und ihren weltberühmten vier Röcken.

Der Intendant als Einspringer

Der Intendant des Schauspiels Frankfurt, Oliver Reese, hat den bild- und sprachgewaltigen Wälzer von Günter Grass für seine Theaterfassung rigoros gekürzt, keine 50 Seiten bleiben übrig, doch auch die erzählen die Geschichte des wahnsinnigen Winzlings Oskar Matzerath, der im Alter von drei Jahren beschließt, nicht mehr zu wachsen. Es ist nicht der erste Versuch, den Roman für das Theater fruchtbar zu machen, und es wird nicht der letzte bleiben: Schon im März bringt Luk Perceval im Thalia Theater seine Version heraus. Ursprünglich sollte der russische Regisseur Konstantin Bogomolov das Stück schon im Oktober in Frankfurt inszenieren, doch er verletzte sich, und so entschied sich Reese, es selbst zu tun.blechtrommel1 560 birgit hupfeld uPsychopath, Gnom, Kleinkind: Nico Holonics als Oskar © Birgit Hupfeld

Wir wissen natürlich nicht, was bei Bogomolov daraus geworden wäre – dass Reese jetzt selbst Hand anlegte, gereicht dem Stoff jedenfalls nicht zum Nachteil. Dabei beschränkt er sich, wie schon Volker Schlöndorff für seinen oscarprämierten Spielfilm, auf zwei der drei Teile des 1959 erschienenen Romans. Mit dem Kriegsende, als Oskars Kindheit endgültig vorüber ist, endet auch der Theaterabend. Die schon regelrecht ikonisch gewordenen Szenen, sei es der Pferdekopf mit Aalen, der Kellertreppensturz oder das Verschlucken des Parteiabzeichens, bleiben erhalten.

Imperator, Verführer und Rebell

Im Film spielte David Bennent, damals 12 Jahre alt, die Rolle seines Lebens. Holonics ist zwar schon mehr als 30 Jahre alt, doch die nur 94 Zentimeter, die er vorgibt groß zu sein, bezweifelt man keinen Moment. Dabei spielt er mit teuflisch vibrierender Energie, die dem Größenwahn wie dem Irrsinn der Figur, ihrer Kindsköpfigkeit wie ihren Manien gerecht wird. Mit einem ausgeklügelten Gespür für Rhythmus, Pausen, Tempowechsel gibt er nicht nur Oskar, sondern ist unter vielen anderen der Liliputaner Bebra und die kecke Maria. Als großartig kleinwüchsiger Imperator befiehlt er scheinbar auch Lichtstimmungen wie Musikeinsatz und beweist sich im Umgang mit dem Publikum als verführerischer Agitator. In der berühmten Brausepulverszene reckt er ausgewählten Zuschauern in der ersten Reihe seine bestäubte Handfläche entgegen, um sie einzuladen, auch ein bisschen Waldmeister zu naschen. Wenn sie dann die Finger hineintupfen wollen, zischelt er ihnen zu: "Erst nass machen!"

blechtrommel2 560 birgit hupfeld uDer Bubikopf mit Kniestrümpfen: Nico Holonics © Birgit HupfeldAuch in anderen Augenblicken des zweistündigen Abends nimmt er Blickkontakt mit dem Publikum auf, funkelt es aus unecht kobaltblauen Augen an, lässt seine Zahnlücke blitzen und trommelt mit den Händen in die Luft. Dabei gelingt es ihm, Oskar in all seiner Vielschichtigkeit zwischen Psychopath, Terrorist, Gnom, Rebell und Kleinkind zu simulieren. Mal ist er niedlicher Bubikopf, dann spuckender Teenager, mal arroganter Ironiker, dann obszöner Schelm. Zahllose Gesichter schneidet er, und nicht selten passiert es einem, dass man ihn momentweise nicht wiedererkennt. So sorgt er selbst immer wieder für Abwechslung, auch weil er in so unterschiedlichen Temperaturen und Tonlagen spielt, schreit und flüstert, was sein Mikroport zum Glück erlaubt. Aber auch eingespielte Geräusche und Musik erheitern die Inszenierung, Trommelwirbel und Heil-Rufe aus dem Off laden sie atmosphärisch auf.

Ein Coming-of-Age-Drama?

Dabei interessieren die politischen Verheerungen des letzten Jahrhunderts eher am Rande; im Mittelpunkt steht die Geschichte eines sehr besonderen Erwachsenwerdens. Im Alter von 21 Jahren beginnt Oskar nämlich wieder zu wachsen und kann die weiß-rot gelackte Trommel erst einmal begraben. Bei Grass endet er Jahre später in einer Heil- und Pflegeanstalt. Dort erzählt er uns seine grotesken Geschichten. Gut möglich, wenn auch nicht gesagt, dass auch Holonics' Oskar sich dort für uns ausgetobt hat.

 

Die Blechtrommel
von Günter Grass
Theaterfassung von Oliver Reese
Regie: Oliver Reese, Bühne: Daniel Wollenzin, Kostüme: Laura Krack, Musik/Sounddesign: Parviz Mir-Ali, Sounddesign: Joachim Steffenhagen, Dramaturgie: Sibylle Baschung.
Mit: Nico Holonics.
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, eine Pause

www.schauspielfrankfurt.de

 

Kritikenrundschau

In der Süddeutschen Zeitung (14.1.2015) schreibt Jürgen Berger, das große Manko der Inszenierung sei, "dass sie sich so gar nicht für die gesellschaftliche und politische Atmosphäre der Zeit interessiert, in der der Roman spielt". Warum man den Stoff überhaupt mache? Reese "will zeigen, was für grandiose Schauspieler sein Ensemble zu bieten hat". "Man ist ganz auf der Seite dieses Schauspielers, der greint und grübelt, verführerisch flüstert und größenwahnsinnig schreit. Da ist dann aber auch die Ernüchterung darüber, mit wie wenig Vorlage die Frankfurter Bühnenfassung auskommt."

Von einem "Schauspielertriumph" schreibt Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (13.1.2015). Doch "warum dies alles, sieht man davon ab, dass Holonics es kann, grandios kann?" fragt sie auch. So sei der Abend selbst kein Risiko, und auch kein Regietriumph. "Zu viel modische Unterhalterpose steckt in diesem Oskar, wenn er sich mit Becker-Faust, den Piff-paff-puff-Lauten einer Weit-nach-Oskar-Computerspiel-Generation und also den Mitteln der herkömmlichen Klamotte begnügt."

"Spielplan erfüllt, 'Blechtrommel' kaputt", rekapituliert Jochen Hieber in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (13.1.2015), der den Abend nur unter Kürzel und mit ziemlich wenig Worten als Schrumpfstück abfertigt. Wer "Die Blechtrommel" bisher weder gelesen noch Volker Schlöndorffs Verfilmung von 1979 gesehen habe, "wird Frankfurts Schauspiel bestenfalls verwirrt, in jedem Fall aber weiterhin kenntnislos verlassen. Wem 'Die Blechtrommel' auch nur einigermaßen vertraut ist, wird vor der Frage 'Und wozu das Ganze?' ebenso rat- wie restlos kapitulieren."

"Zwei Stunden steht der eigentlich sehr gute Schauspieler Nico Holonics auf einem Podest, das wie ein braunerdiger oder kaschubischer Kartoffelacker aussieht, und referiert mit bewundernswerter Textsicherheit und wechselndem Eifer die Ereignisse des Romans," schreibt Bernd Noack bei Spiegel Online (12.1.2015). Warum er das tut, wird dem Kritiker nicht ganz klar, aus dessen Sicht es weniger um Theater als "eine spärlich illustrierte Lesung" gehandelt hat, "eine literarisch geflunkerte One-Man-Show, ein szenisch karges Stückchenwerk. Eine ziemlich überflüssige Fleißarbeit."

Wenn Oskars geschönte Erinnerung im Irrenhaus ihn aber als wahren Giftzwerg mit Jesus-Komplex und Unheil für alle zeigt, die ihm je zu nahe kommen, vollzieht sich aus Sicht von Marcus Hladek in der Frankfurter Neuen Presse (13.1.2015) "aber doch eine Neuinterpretation Oskars. Darin mitreflektiert ist, was Grass' späte Selbstenthüllung als gewesener SS-Mann (2006) und sein Israel-unfreundliches Gedicht 'Was gesagt werden muss' (2012) offenbarten. Oskar schrumpft, kaum glaublich, vor unseren Augen. Die einst gegeißelten 'Blasphemien' des Autors etwa, Oskars Hassliebe zum Katholischen: Spiegelten sie wirklich das legitime Ungenügen des Autors an der 'miefigen' Adenauer-Gegenwart oder doch eher eine Nazi-ererbte Form von 'Laizismus'?"

"In einem dramatischen Hochseilakt zwischen Identifikation und Distanz, bedrängender Vergegenwärtigungswut und leiser Andeutung gelingt Nico Holonics in einem Atemzug die Entwicklung vom rebellischen Kleinkind und greinenden Balg zum tückischen Strategen", findet Cornelie Ueding im Deutschlandfunk (12.1.2015). Reese konzentriere sich auf Schauspielkunst und Lichtwechsel: "Keine Projektionen, keine Videoeinspielungen, keine platten Vergegenwärtigungen. Nur manchmal leider ein paar gestische Illustrationen zuviel."

 

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