No-man-show

von Anne Peter

Berlin, 7. Februar 2015. Das Mediengesumse war groß. Lars Eidinger auf allen Kanälen. Vorberichte vom Spiegel bis zum ZDF. Menschen mit "Suche Karte"-Schildern vor der Schaubühne. Die Vorstellungen bis Ende März sind jetzt schon ausverkauft. Alle wollen den sehen, der über 230 Mal "Hamlet" war und jetzt "Richard III." ist. Die Messlatte liegt weit oben.

Berliner Globe

Ja, sogar eine neue Bühne haben sie ihm gebaut. Sie erinnert an ein elisabethanisches Theater: acht steil ansteigende Reihen um ein sandbedecktes Halbrund herum, vor hohem, mit Treppen und Galerie bestücktem Portal. Stehplätze wie zu Shakespeares Zeiten gibt es in Jan Pappelbaums Globe-Variation nicht, aber auch hier sollen, so Regisseur Thomas Ostermeier, die Zuschauer das Gefühl haben, hautnah dran zu sein, die Schauspieler quasi anfassen zu können.

Ein Ort, wie gemacht für Lars Eidinger. Stürzt sich sein gefährlich unberechenbarer Dänenprinz Hamlet doch seit 2008 stets aufs Neue in waghalsige Scharmützel mit dem Publikum. Und was macht nun sein Richard? Sobald es Zeit für einen Monolog ist – und das ist bei Shakespeares Number-One-Bösewicht bekanntlich sehr oft der Fall –, pirscht er sich nicht etwa an die Rampe, buhlt dort nicht mit Direktansprache um Komplizen, fordert nicht mit plötzlichen Improvisationen heraus, sondern schnappt sich das mittig von der Decke baumelnde Retro-Mikro und performt dort hinein. Naja. Man kann dieses Mikro auch schön gen Publikum schleudern oder sich daran selbst über die Köpfe hinwegschwingen.

Ein König Richard mit Rockstar-Appeal? Zu elektronisch unterdröhntem Live-Schlagzeug schickt er Marius von Mayenburgs Prosa-Fassung gelegentlich eine Passage englisches Original hinterher – so eine Prise Poesie kann nicht schaden, wo die Übersetzung vor allem an Verständlichkeit interessiert scheint. Der tolle neue Raum aber bleibt über weite Strecken ungenutzt, weil sich die Interaktionen mit dem Publikum darauf beschränken, dass die Schauspieler kurz mal in Richtung Ränge blicken, wenn von "Peers" die Rede ist oder gerade sichtbar vor Publikum bigottisiert wird.

Outlaw mit Glamour-Faktor

Wo aber ist die Konfrontationslust des Hamlet geblieben? Seltsam gedämpft bleibt Eidingers Spiel, sein Sprechen auf wenige Varianten beschränkt, selten schöpft er das komische Potential aus. Ostermeier vermeidet aktualisierende Engführung und führt uns Richard als ernsthaft gekränkten Outlaw vor, der es der skrupellosen Welt mit umso größerer Skrupellosigkeit heimzahlen will.

richardiii2 560 arno declair uLars Eidinger als Richard, the Performer © Arno Declair

Fast unscheinbar taucht Eidingers Richard zu Beginn aus der ausgelassenen Feiermeute auf, die den Sieg des Hauses York über das der Lancasters begießen. Richard hat sich für die Inthronisierung des Bruders die Hände blutig gemacht, war der "Packesel für seine Großprojekte" und fühlt sich nun um seinen Lohn betrogen. Nicht nur die ungerechte Natur, sondern auch dieses Packeseltum in den Familiengefechten der Rosenkriege hat ihm wohl den Oberkörper unter dem (sichtbar) aufgeschnallten Buckel nach vorn gekrümmt und die Beine ins X gepresst. So scharwenzelt Richard schief einher, mit Zahnspange, getapter Hand und schwarzer Kopfschutz-Haube etwas übereifrig mit körperlichen Behinderungszeichen überhäuft – auf dass seine Gekränktheit extra triftig motiviert sei. Wenn er später als König auftritt, zwingt ein Korsett ihn in die schmerzende Gerade. Zuvor hat diese manipulationsbegabte Intelligenzbestie, die sich den Weg bis zum Thron von anderen freimorden lässt, schon weißen Maßanzug und Schwarzglitzerjackett vorgeführt – ein Freak mit Glamour-Faktor.

Glaubhaftigkeit

Leider strahlt an diesem Richard außer den Pailletten wenig. Mag sein, dass sich das Spiel nach der Premiere weiter entwickelt, wie es bei "Hamlet" der Fall war. Vorerst drang von dem Verführungsvirtuosen, von der Erotik des sich über alle Moralschranken hinwegsetzenden Wüstlings, der die Witwen seiner Opfer verführt, herzlich wenig durch. Schwierig bei einer Inszenierung, die auf Glaubhaftigkeit baut. Was etwa Lady Anne bewegt, den eben noch verfluchten Gatten-und-Stiefvater-Mörder plötzlich mit einem Kuss zu überfallen, bleibt ein Rätsel. Schön allerdings, wie Eidingers Richard danach ernsthaft staunend fragt: "Wurde jemals eine Frau in dieser Stimmung gewonnen?" – und es selbst kaum glauben kann ...

Schwer haben es die um ihn herstehenden, schon im Stück nur spärlich individualisierten Steigbügelhalter. Ostermeier inszeniert sie austauschbar dahin, als eine Art zeitlose Hosenträger-Elite in Opfer-Täter-Schwarz-Weiß, wo Fatsuit oder Büro-Accessoires zur Schnellcharakterisierung herhalten müssen. Vielleicht könnten diese Gestalten ja zumindest etwas weniger gleichgültig zu ihrer eigenen Hinrichtung schreiten?

Intensitätsfinale

Eva Meckbach als Königin Elisabeth immerhin sind ein paar aufbrausende Momente gegönnt. Und Robert Beyers eisig vom Balkon herunterfluchende Ex-Königin Margaret gehört zu den stärksten Auftritten dieses auch mit Einfällen geizenden Abends (immerhin: es gibt Pellkartoffeln mit Quark, die sich prima an die Wand feuern lassen). In den Intervallen pimpen schöne Videobilder (Vögel als Freiheitssymbole?) und Volle-pulle-Sound die Inszenierung auf, ersatzdrogenhaft.

Am Ende, in der Nacht vor der entscheidenden Schlacht, beweint Richard seine Einsamkeit, während über ihm die Albtraumgestalten dräuen. Im Traum auch ruft er nach jenem rettenden Pferd. Und es ist ein Schattengefecht, das er gegen seine Feinde und ehemaligen Verbündeten kämpft. Der Deus ex machina bleibt aus, was wir sehen, ist die (Selbst-)Vernichtung Richards. Wie Eidinger da gegen Wände und Pfosten drischt, die Treppen hinaufhechtet, in der Luft imaginäre Gegner aussticht und schließlich selbst, hinterrücks, erstochen wird – das ist ein Exzessivitätssolo, ein Intensitätsfinale, die allzu spät sich einlösende One-man-show.

 

Richard III.
von William Shakespeare
Übersetzung und Fassung von Marius von Mayenburg
Regie: Thomas Ostermeier, Bühne: Jan Pappelbaum, Kostüme: Florence von Gerkan, Musik: Nils Ostendorf, Video: Sébastien Dupouey, Dramaturgie: Florian Borchmeyer.
Mit: Lars Eidinger, Moritz Gottwald, Eva Meckbach, Jenny König, Sebastian Schwarz, Robert Beyer, Thomas Bading, Christoph Gawenda, Laurenz Laufenberg, Schlagzeug: Thomas Witte.
Dauer: 2 Stunden 40 Minuten, keine Pause

www.schaubuehne.de

 

Kritikenrundschau

Woher die erstaunliche Wirkung des Erzschurken Richard stamme, beantworte Ostermeiers Inszenierung nicht, noch mache "sie daraus ein großes, fieses, im besten Fall abgründig faszinierendes Theaterrätsel", schreibt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen (9.2.2015). Stattdessen werde dieser "Richard III." zu einer "zweieinhalbstündigen, mit viel Musik angeheizten One-Man-Show des rabiat entfesselten Lars Eidinger, die sich indes bald in zirzensischem Brimborium, fataler Gedankenleere und effekthascherischer Aufgeblasenheit erschöpft". Die Inszenierung bestehe "aus viel Luft (…) und auch aus viel Lüge – weil sie keine Wahrheit" über ihre Figuren suche, "sondern kaum an deren Oberfläche kratzt und trotzdem behauptet, sie habe ihr Wesen berührt".

Die Aufführung sei "eine Psychoanalyse des Macht-Obsessiven von fast depressiver Härte, und das ist nicht die geringste Qualität dieser Inszenierung", meint Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (9.2.2015). "Ostermeiers Auseinandersetzung mit dem Text lässt sich bei aller Freude am Knalleffekt auf dessen Monstrositäten ein. Und sie ist bereit, davor zu erschrecken, statt sich mit Coolness-Posen zu panzern." Dieser Richard sei "ein nihilistischer Intellektueller, sehr weit entfernt vom verführerischen Selbstgenuss, den Gert Voss vor drei Jahrzehnten in Claus Peymanns grandioser Inszenierung des Stücks seinem Richard geschenkt hat".

Der "gelungenste Kniff dieses (…) ganz und gar geradlinigen Abends" sei vielleicht, dass sich Eidinger "nicht in schillernder Großschauspielerei" übe, "er bleibt, was er von Beginn an ist: ein buckliger Knilch, ein Quasimodo mit Kinderseele, der gar nicht anders kann, als böse sein vor uns und gut sein vor seinen Fürstenkollegen", schreibt Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (9.2.2015). "Denn gut und böse fallen in ihm zusammen – sind kein Gegensatzpaar, dem nur die semantische Binnengrenze verwischt ist, sondern sind identisch. Und das ist das Verrückte, ja Überraschende dieses sonst unspektakulären Shakespeareabends: Nicht das Raffinement zwischen Schein und Sein funktioniert hier als stärkste Waffe des theatralischen Schurken, sondern die komplette Stumpfheit, seine kindische Arglosigkeit."

Lars Eidinger gebe viel. "Gibt sich hin und preis", liefere am Ende auch "eine große, körperlich bravouröse Show", meint Peter von Becker im Tagesspiegel (9.2.2015). "Eidinger, so heißt das im Schauspielermetier, bezahlt jederzeit bar. (…) Aber vieles davon bleibt doch: äußerlich." Zumal die Nebenfiguren in "ihrem leider blass konventionellen Aufsagetheater" mitunter wirkten, "als seien sie von der Regie alleingelassen". Von Becker zufolge gründet das Drama Richards "in seiner verkörperten Sprachgewalt". Lars Eidinger bleibe "indes leise, trotz aller Buckelei eher einförmig. Monoton. Ein paarmal züngelnd, listig lächelnd. Aber keine Schärfe – die hat nur Robert Beyer als alte, alle verfluchende Königin Margret. Dieser Richard ist nicht dämonisch, eher bürgerlich, und am dramatischsten klingt das donnernde Schlagzeug."

In dieser Inszenierung leuchte "selten einmal das ganze Ensemble (…). Meist leuchtet nur Eidinger", schreibt Eva Biringer auf Zeit online (8.2.2015). "Er strahlt auch dank der Übersetzung des Schaubühnen-Hausdramatikers Marius von Mayenburg. Von allen Versmaßen bereinigt, heißt es im Text 'wir werden nicht rumstehen und labern' oder 'ich mag euch, Jungs'. Diese saloppe Interpretation kommt Eidingers Improvisationstalent sehr entgegen." Richard sei bei Lars Eidinger "vor allem unscheinbar. Stets achtet er darauf, aus der Froschperspektive zu den Menschen zu sprechen, das schmeichelt deren Ego." Es sei "diese Banalität des Bösen, die erschaudern lässt".

Es könne "schon überraschen, wie still Eidinger Richard III. anlegt, wie er alles karikaturenhaft Laute vermeidet und seinen Meuchelmörder zum gehetzten Denker werden lässt, zu einem, der ständig staunt, was ihm alles gelingt, und seine Blicke fiebrig hin und her gleiten lässt zwischen den Kontrahenten, die er gegen einander ausspielt", meint André Mumot auf der Website von Deutschlandradio (8.2.2015). Eidinger nehme "den autistischen Ehrgeiz seiner Figur in jeder Sekunde ernst und bietet eine Leistung, die in ihrer ungekünstelten Selbstverständlichkeit ihresgleichen sucht: ein Theaterereignis mit Ansage." Eidinger sei "unwiderstehlich, und auch das Publikum verfällt rettungslos seiner wohl dosierten Mischung aus Charme, Verletzlichkeit, rhetorischer Brillanz und funkelndem Selbstbewusstsein."

In diesem "Richard" werde "naturgemäß gerockt, geröhrt und geröchelt, dass manchmal die Ohren klirren", schreibt Matthias Heine in der Welt (9.2.2015). "Klar: 'Hamlet' war ein Welterfolg, der in zahlreichen Ländern gefeiert wurde. Als solcher ist auch 'Richard III.' erkennbar kalkuliert. Er brüllt deshalb so, damit er auch in São Paulo und London verstanden wird." Allerdings hat Heine trotzdem eine "insgesamt kurzweilige und dichte Aufführung" gesehen. Zu Beginn seiner Kritik wirft er übrigens eine bedenkenswerte Frage auf, die er indes nicht weiterverfolgt: "Wieso gilt es eigentlich neuerdings als rassistisch und anstößig, wenn im Theater Weiße mit geschminkten Gesichtern Schwarze spielen – aber wenn ein normal gewachsener Schauspieler mit aufgeschnalltem Buckel und groteskem Pappklumpfuß einen Behinderten imitiert, finden das alle okay?"

Ostermeier habe "die Nähe, die die Bühne bietet, für die Herstellung sehr intimer Theatersituationen genutzt." Da jedoch "alle Rollen außer Richard selbst blass bleiben," sei das Mikrofon "der eigentliche Mitspieler, manchmal auch Gegenspieler von Lars Eidinger", meint Dirk Knipphals in der tageszeitung (9.2.2015). Nicht alle Szenen seien "gleich gut", am meisten im Gedächtnis blieben "die leisen Momente, wenn dieser Richard sich darüber wundert, wie leicht er mit seinen Verstellungen und Intrigen durchkommt." "Etwas beeindruckend Darkes, Beklemmendes" gehe von Ostermeiers "Richard III." aus, doch Knipphals schließt mit der Bemerkung: Wenn der Regisseur "konsequent gewesen wäre, hätte er das ganze Stück so wie den Schluss, nämlich als Solo, inszeniert".

In der Neuen Zürcher Zeitung (12.2.2015) schreibt Dirk Pilz: "Das Schauspiel als Schmalspurbahn in eine selbst geschaffene Sackgasse: Es ist diesem Abend deutlich anzusehen, dass es ihn gibt, um Eidinger den Show-Teppich auszurollen." Das Stück habe es nicht zuletzt deshalb auf den Spielplan geschafft, "weil sich das Stück bestens zur Theaterselbstfeier eignet. Darin kommt der Zynismus dieses Abends zum Ausdruck: Es gibt das Böse, weil es hervorragendes Show-Material ist." Die Inszenierung nehme Figuren zur Ausmalvorlage, um sie mit breitem Pinsel in unmissverständliche Farben zu tunken, alles werde rücksichtslos veräußerlicht.

Peter Kümmel schreibt in der Zeit (12.2.2015), Richard "wirkt äußerlich wie eine
Gestalt aus einem Terry-Gilliam-Film, mit Fischaugenlinse gefilmt oder durch ein Türgucki gesehen". "Dieser vermeintlich Behinderte ist in Wahrheit der Wachste und Geschwindeste von allen, und selbst seinen Buckel trägt er, wie ein Bote seinen Tornister trägt: mit dem Stolz eines Mannes, der eine Mission, ein Ziel hat." Sprachlich würde man Richard heute in der U-Bahn als Sitznachbar nicht erkennen, "ihre Sprache würde einem kaum auffallen. Viele sprachlichen Reichtümer von Shakespeares Drama sind, um Licht und Lesbarkeit ins Gestrüpp zu bringen, vom Bearbeiter weggerodet worden."

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