Tuscheln, Klatschen, Raushauen

von Christian Rakow

Berlin, 12. November 2016. In silbernen Ganzkörperanzügen entern die Soldaten um Frontmann Johann Fatzer die Bühne. In Outfits vom anderen Stern, passend zu einer Mission, die keine geringe ist: die Reise hinab in die Mondlandschaften des Ersten Weltkriegs an den Vorabend der Novemberrevolution in Deutschland.

Ein Individualist macht Mist

Ein "Jahrhundertwerk" nannte Heiner Müller den Brecht'schen "Fatzer". Er musste es wissen, er war selbst ein Jahrhundertautor. 1978 hat Müller seine kanonische Bühnenfassung des Stücks erstellt, aus rund vierhundert Seiten Archivmaterial, lauter Notizen, Skizzen und Szenen, die Brecht zwischen 1926 und 1932 angefertigt, aber nie vollendet hatte. Am Deutschen Schauspielhaus Hamburg brachten Manfred Karge und Matthias Langhoff die Müller-Version des "Untergangs des Egoisten Johann Fatzer" 1978 heraus. Mit mäßigem Erfolg, wie Müller selbst berichtet.

fatzer 2 560 arno declair hGeister aus der Zukunft? Bernd Stempel, Natali Seelig, Alexander Khuon, Edgar Eckert, Andreas Döhler (auf der Leinwand). Im Hintergrund rechts als Statue Meister Brecht himself. © Arno Declair

Vielleicht ist der "Fatzer" auch eher ein Jahrhundertgedicht denn ein Jahrhundertstück. Die Szenen fädeln sich leicht redundant entlang einer schlanken Handlungslinie, die klassische Brechtmotive (insbesondere von Lehrstücken wie "Die Maßnahme") anklingen lässt: Angeleitet vom "Egoisten" Johann Fatzer desertiert eine Gruppe Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg, um hinter der Front auf die Revolution zu warten. Fatzer verstrickt sich in Scharmützel statt seinem Kollektiv zu helfen und macht sich in einem Anflug von Baal'schem Vitalismus über die Gattin des Kameraden Kaumann her. Als Abweichler und Individualist wird er schließlich liquidiert.

Jenseits des Wolkenkratzerchauvinismus

René Pollesch hat in Kill Your Darlings 2012 an der Volksbühne eine wunderbar leichte "Fatzer"-Reflexion vorgelegt, die den Brecht'schen Kollektivgedanken an der postmodernen Netzwerkgesellschaft abglich. Die Arbeit ist schon fast sechs Jahre alt; und die Zeiten ändern sich. "Wie früher Geister kamen aus Vergangenheit / So jetzt aus Zukunft, ebenso / klagend, beschwörend, lähmend und ungreifbar (...)". Man hört solche "Fatzer"-Verse heute neu, dröhnender, bedrohlicher. Die "Rede vom Massenmenschen" und seiner mechanischen Art gemahnt plötzlich an den Populismus unserer Tage.

Umso erstaunlicher, dass Tom Kühnel und Jürgen Kuttner in ihrer eigenen Adaption des Brecht-Stoffs für die Kammerspiele des Deutschen Theaters vom Grundton her eher bei Polleschs luftigen Diskursschleifen, denn beim finsteren Wolkenkratzerchauvinismus eines Donald Trump sind. Kühnel/Kuttner bieten eine Lektion in avancierter Brecht'scher Theatertheorie: Gesucht ist das Lehrstück als Ereignis "ohne Publikum", aber mit Mitmachenden – ein Theater wie aus dem Herzen der Probe heraus geboren.

Karaoke mit Lotterie

Die Zuschauer sind entsprechend auf der Bühne selbst platziert, inmitten eines aus Brecht-Versatzstücken bunt zusammengesampelten Bühnenbilds (Raumgestalter Jo Schramm hat etwa den Wagen der "Mutter Courage" oder den Galgen der "Dreigroschenoper" und viele weitere anspielungsreiche Requisiten rundherum aufgebaut). Instruiert vom wie stets fröhlich daherberlinernden Jürgen Kuttner als Spielleiter übernimmt das Publikum die Rolle eines teilnehmenden "Arbeiterpublikums" und liest punktuell Chor-Verse wie im Karaoke vom Telescreen ein.

Damit der "Fragmentcharakter" der Vorlage gewahrt ist, wird die Szenenfolge des "Fatzer" eingangs ausgelost. Nur das Schlussstück Nummer Neun steht als Finale fest. Alle übrigen Sequenzen dürften jeden Abend in neuer Reihung durchgespielt werden. Der launige Ansatz funkt: Die Umhersitzenden lassen sich klaglos in Settings drapieren, sie tuscheln, klatschen, sprechen Verse, hauen Zwischenrufe raus ("Hört, hört!" – "Revolution!" – "Terror!") – alles an den vorgesehenen Stellen.

fatzer 1 560 arno declair hVerkapseltes Kollektiv: Edgar Eckert, Andreas Döhler, Bernd Stempel, Alexander Khuon
© Arno Declair

Etwas schwerer haben es die silbern glitzernden Spieler um den Fatzer von Andreas Döhler in dem improvisationsfreudigen Setting. Fatzer als Träger eines antibourgeoisen Diskurses lernte man am Premierenabend erst kurz vor Schluss kennen, weil Szene 1 als vorletzte gelost wurde. Womit nicht nur der ideelle Zusammenhang des Soldatenkollektivs reichlich spät geklärt wurde. Der Titelheld blieb lange Zeit – strukturell – unterbelichtet als irgendwie testosteroniger Wonneproppen, in Szenen der Fleischbeschaffung und der Fleischeslustbeschaffung mit Therese Kaumann (Natali Seelig).

Auffallend ist die Zaghaftigkeit, mit der sich das Team die Figuren greift. Döhler probiert, den Kraftmeier im Fatzer herunterzuspielen, Bernd Stempel tastet sich fast schon verschämt durch die Figur des Koch, des funktionärshaften Gegenspielers Fatzers. Einzig Alexander Khuon findet in seinem Büsching Anflüge eines linienstrammen Apparatschiks in spe.

"Verwisch die Spuren"

Was Kühnel/Kuttner zuletzt in ihrer maßgeblichen Müller-Arbeit Der Auftrag  bei den Ruhrfestspielen gelang, in einer lockeren Revue durch Einspielung von Heiner-Müller-Tonspuren und mit tiefen Bildfindungen eine historische Kommentierung mit ganz eigener Schwerkraft zu versehen, das bietet dieser Abend nicht. Er bleibt ein leichtes Aperçu, wo's mitunter impulsiver wird, wenn das fabulöse Punkduo "Ornament & Verbrechen" im oberen Stock aufdreht und etwa Edgar Eckert den Städtebewohnertext "Verwisch die Spuren" rausrotzt. Humoresk funkelt er, wenn Nathali Seelig mit der Kehle einer Hildegard Knef zu disneyartigen Klavierklängen haucht: "Heut habe ich beschlossen / Mein Fleisch / Zu befriedigen."

Im Ganzen hat dieser "Fatzer" fraglos das Zeug zum kleinen Liebhaberabend für das DT, sofern das Team sich noch etwas freispielt, die Verse intensiver kostet und das Publikum weiter zur Mittäterschaft verführt. Im Geiste Brechts: "Zu schwach, uns zu verteidigen, gehen wir zum Angriff über."

 

Der Untergang des Egoisten Johann Fatzer
von Bertolt Brecht 
Fassung Tom Kühnel und Jürgen Kuttner
Regie: Tom Kühnel, Jürgen Kuttner, Bühne: Jo Schramm, Kostüme: Daniela Selig, Musik: Ornament & Verbrechen, Video: Marlene Blumert, Dramaturgie: Juliane Koepp.
Mit: Andreas Döhler, Edgar Eckert, Alexander Khuon, Jürgen Kuttner, Natali Seelig, Bernd Stempel.
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause

www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

"Aufschlussreich gescheitert, das macht den Abend sehenswert", schreibt Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (14.11.2016). Kühnel und Kuttner suchen den freien, unverstellten Blick, "ein gut zweistündiger, lockerer Abend als Überprüfungsanstalt: was taugt der Text, um uns in unserer Gegenwart zu begreifen?" Und holen Brecht-Versatzstücke auf die Bühne, den Wagen aus der "Mutter Courage", einen Galgen wie in der "Dreigroschenoper", einen fernöstlichen Pavillon. "Das Starke an der Inszenierung von Kühnel und Kuttner ist: Sie treiben dem Text den zynischen Fatalismus aus, an dem sich Müller ergötzte. "Die Szenen aber fallen auseinander: Alles bleibt Stückwerk, eine Splittersammlung. Der Abend scheitert daran, dem Unvereinbaren einen Fluchtpunkt zu verschaffen."

Die Inszenierung bemühe sich auf eine faszinierende Weise, den nicht leicht zu verstehenden Text zu veranschaulichen, "kein ganz leichter Abend, aber es ist ein Abend, der Spaß macht und sich lohnt", so André Mumot auf dradio Fazit Kultur vom Tage (12.11.2016).

Der interaktive Ansatz dieses Abends überzeugt Christine Wahl vom Tagesspiegel (16.11.2016) konzeptionell: "Dialektik als Mitmach-Event, das Lehrstück als Karaoke: eine durchaus korrekte Analyse des Status quo." In den ausgelosten Szenen würden "alle erdenklichen Gattungen" durchgespielt, Musical, Stadtraum-Film, Comic zun Beispiel. Fazit: "Kühnels und Kuttners Inszenierung führt so unterhaltsam wie dialektisch vor, dass das mit den Denkprozessen wahrlich keine leichte Sache ist."

"Der Charme und die ironische Leichtigkeit des Spiels machen Spaß, dementieren aber den Rausch der Selbstzerstörung und den apokalyptischen Schauder, die das Faszinosum des Textes ausmachen", schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (25.11.2016)

 

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