Immer frisch hereingetanzt!

von Willibald Spatz

München, 29. Mai 2008. Es wird niemand behaupten, es sei leicht, heutzutage "Romeo und Julia" zu erzählen: Jeder kennt das böse Ende der Geschichte und will außerdem nicht dauernd an seine Sehnsucht nach der großen Liebe erinnert werden. Die hat er entweder schon gefunden oder er sucht sie, sobald er Gelegenheit hat, da braucht er kein Theater.

 

 

Tina Lanik geht in ihrer frischen Inszenierung am Residenztheater recht geschickt mit dieser Schwierigkeit um. Sie setzt die beiden, die einander finden sollen, in eine Umgebung, in der der ganze Liebesquatsch die bescheuertste Sache überhaupt zu sein scheint.

An diesem Ort ist die Tragik verloren gegangen, hier herrscht Party. Hier kommen Benvolio und Mercutio – auf der Bühne sind das Shenja Lacher und Felix Rech im Kleidchen – lustig daher und bauen aus Kondomen Puppen, mit denen sie Romeos Techtelmechtel mit seiner Ex-Liebe nachspielen. Es sind nicht die besten Freunde, aber es sind Romeos Freunde, seine Welt, da lebt er und so ist er eigentlich auch. Die lachen, wenn er zu ihnen von seinem brennenden Herzen spricht und sagen: "Auch andere Väter haben schöne Töchter."

Geknalle und Geknutsche

Julia lernt er auf dem Capulet-Fest kennen. In einer gelungenen Szene in einer an gelungenen Szenen nicht armen Aufführung tanzen die Gäste in Masken recht läppisch und geballt um Jörg Hube als Papa Capulet herum. Romeo und Julia schaffen es, sich da heraus zu tanzen, kurz, dann werden sie wieder geschluckt, weil es schwer ist, dieser Gesellschaft zu entlaufen. Noch am selben Abend kommen sie zusammen. Während ein wildes Geknalle und Lichtblitze an der Rückwand ein Feuerwerk simulieren, knutschen sie wild, Party-Girl und Party-Boy.

Der Romeo von David Rott macht keine Umwege. Was er will, das holt er sich, und was ihm dabei im Weg ist, das macht er kaputt. Den Tybalt, der ihm den Mercutio abgestochen hat, den knallt er über den Haufen, genauso wie Graf Paris, der sich vom Grab Julias nicht schnell genug verzieht. Das sind alles kleine Opfer, mit denen es sich nicht lohnt, zu diskutieren. Bevor sie am Boden liegen, hat er ihnen schon die Schulter zugedreht. Was ihm da mit Julia emotional passiert, ist ihm nicht ganz fremd, das wirft ihn nicht aus der Bahn, das bringt ihn eher dorthin zurück. Dieses Mädchen, das sich auf der Party so toll küssen ließ, das wird verfolgt, auch wenn Hunde ihn anbellen und auch wenn er dazu auf Stelzen laufen muss und dabei gar nicht gut aussieht, so schmachtend am Balkon.

So süß – und mit dem Rücken zur Wand

Auch die Julia Lisa Wagners wirkt im ersten Augenblick unbekümmert in ihrem rosa Kleidchen. Der Flirt kommt gerade recht, sie spielt eine kleine Gitarre zum Lied auf den Balkon, das ist so süß, dass man es beinahe nicht ernst nehmen will, das große Gefühl, das angeblich in diesem Moment durch diese beiden Körper jagt. Erst später merkt man, dass sie mit dem Rücken zur Wand steht, dass Romeo ihre letzte Chance ist und sie sich – Liebe hin oder her – an ihn klammern muss.

Der Vater Jörg Hube ist die ganze Zeit über gelassen, ein heiterer alter Mann, dem man die Todfeindschaft mit einer anderen Familie gar nicht zutrauen will hinter seinem netten Lächeln. Als ihm die Tochter aber offenbart, dass sie Graf Paris nicht heiraten kann und er darauf explodiert, speichelreich die Gefühlsduselei verdammt und seinem Kind ein Verhungern auf der Straße prophezeit, da wird klar, dass sie nichts zu lachen hat. Dieser Riss in der Fassade verschwindet nicht mehr.

Das Ende kommt dann schnell und in großen Bildern. Romeo und Julia erwachen unter einem riesigen Spiegelhimmel von ihrer letzten Liebesnacht, hier wird sie wenig später auch tot liegen. Romeo erschießt Paris, vergiftet sich, Julia erwacht zum finalen Kuss, stirbt endgültig. Robert Joseph Bartl – ein wunderbarer Nerd mit langen, fettigen Haaren und einer Freitag-Tasche als Bruder Lorenzo – spricht sich schuldig, die Familien-Oberhäupter versöhnen sich in knappen Sätzen, die Amme spricht das Schlusswort über dem tot daliegenden Paar. Das Licht geht aus. Es wird nichts mehr verhandelt. Allen ist alles klar: Sie haben es übertrieben, zur Strafe haben sie jetzt ihre Kinder eingebüßt und müssen trotzdem dieses elendige Leben weiterleben, dessen Leere ihnen zum ersten Mal voll bewusst wird.

Alles nur ein Rausch

Tina Lanik geht es nicht darum, großes Gefühl auszustellen. Sie zieht das durch mit der Kälte. Romeo und Julia rutschen da in etwas hinein, das mächtig ist, das spüren sie, aber das zu Ende ist, bevor es sich bewähren kann. Die Liebe ist nicht selbstverständlich vorhanden als Motor des Geschehens, wie es Shakespeare – man möchte fast sagen: einfach – so hingeschrieben hat.

Hier rast alles durch im Rausch der ersten Verliebtheit, der man nicht trauen soll, wie man weiß, weil man dann, nach spätestens zwei Monaten, wieder runterkommt und sich erst mal nüchtern ins Auge schauen muss. Dazu kam es nicht bei Romeo und Julia, dazu hatten sie keine Chance. Wenn man sich die zwei im Residenztheater anschaut, hat man ein ganz gutes Gefühl, dass es hätte klappen können. Aber wissen kann man es nicht. Und doch ist es schön, dass man die Geschichte einmal so erzählt bekommen hat.

 

Romeo und Julia
von William Shakespeare (Übersetzung: Thomas Brasch)
Regie: Tina Lanik, Bühne: Magdalena Gut, Kostüme: Su Sigmund, Musik: Rainer Jörissen.
Mit: Robert Joseph Bartl, Beatrix Doderer, Jörg Hube, Shenja Lacher, Hannes Liebmann, Matthias Lier, Wolfgang Menardi, Felix Rech, David Rott, Elisabeth Schwarz und Lisa Wagner.

www.bayerischesstaatsschauspiel.de


Mehr zu Tina Lanik: in November 2007 inszenierte sie Brechts Im Dickicht der Städte, im April 2007 Der Tod eines Handlungsreisenden von Arthur Miller, beides am Residenztheater München.

 

Kritikenrundschau

Einen "furiosen"Abend feiert Christoph Leibold im Deutschlandradio (31.5.2008), der Laniks Inszenierung als elegante, aber keinesfalls anbiedernde Fortschreibung von Baz Luhmanns Verfilmung der berühmtesten Liebesgeschichte aller Zeiten empfand. Auch Laniks Fassung sei "sehr jung in der Anmutung", für das von Dieter Dorn und seinem Ensemble aus Großschauspielern dominierte Haus sogar "sensationell jung". Gleichzeitig "ironisiere" Lanik klug auch den Jugendkult der Elterngeneration, die hier ebenfalls "jung und hip" sein wollten. Insgesamt kommt dieser Abend aus seiner Sicht für das Staatsschauspiel, das sich schwer tut, auch jüngere Zuschauer anzusprechen, "einem Befreiungsschlag gleich. Denn Lanik komme ohne "die Altvorderen" aus und lasse eine junge Truppe glänzen, wobei Leibold neben David Rott und Lisa Wagner vor allem den "großartige Felix Rech als Mercutio" hochleben lässt.

Überzeugt, aber doch mit kritischen Zwischentönen einer allzu dominierenden Zeitgeistigkeit gegenüber, beschreibt Teresa Grenzmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (31.5.2008) Tina Laniks Inszenierung. Besonders die Sicht der Regisseurin auf Shakespeares jugendliches Personal, das sie Grenzmann zufolge als "harte, verletzliche, unverschämte Vorzeige-Romantiker zwischen Akustikgitarren, Zungenküssen und Selbstmordversuchen" vorstellt, wird hervorgehoben. Aber auch dem szenische Auskosten dieses Befunds in Laniks "gewohnt cineastisch effektreichem Atmosphärentheater" wird Authentizität bescheinigt. Zwischen den Zeilen klingt manchmal leichtes Misstrauen gegen die Effektsicherheit von Tina Lanik und ihrer Bühnenbildnerin Magdalena Gut an. Auch die, von den Effekten eines recht "schrägem Castings" noch geförderten schauspielerischen Leistungen finden Anerkennung. Besonders Robert Joseph Bartl als "Giftzwerg-Bruder Lorenzo".

Nur "teilinspiriert" ist diese Inszenierung aus Sicht von Christopher Schmidt in der Süddeutschen Zeitung (31.5.2008) Zwar bescheinigt er dem Abends insgesamt Effektsicherheit und filmische Atmosphäre. Besonders die "sexuelle Hitze in den Feuchtgebieten des Anfangs" hinterlässt bei ihm einigen Eindruck. Auch kann er dem Blick der Regisseurin auf die Liebe als Hormonsturm statt als Himmelsmacht wenig entgegensetzen, obwohl er sich bei der Sicht auf Shakespeares Stück für weniger Leonardo DiCaprio und mehr Harold Bloom stark macht. Folgerichtig empfindet er das "Referenzgewitter" anspielungsreicher Motive und gelegentlich allzu zaunpfahlhaft daherkommende popkulturelle Einsprengsel eher als genussmindernd. Im zweiten Teil friert dann für seinen Geschmack die Inszenierung zu sehr ein. "Eisgekühlt" serviere Lanik das "hundsgemeine Sterben" des Liebespaars. Das sei zwar nicht ohne Wirkung. Dennoch: "Die tolle Energie ist dahin". "Momentweise" habe die Inszenierung, so Schmidts Befund, "den Mut zur Freiheit", dann übernehme wieder "die praktische Vernunft", kranke der Abend daran, dass "der Betrieb" letztlich den Trieb unterdrücke.

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