Mit der Väter Mittel
von Sabine Leucht
München, 28. September 2019. Worte, Worte, immer nur Worte. Lear gehört zu einer Generation, die sie noch für bare Münze nimmt. Deshalb können ihn seine Töchter Goneril und Regan mit Auf-immer-und-ewig-Liebesschwüren einseifen. Dabei hat nicht nur Cordelia, die dies verweigert, das leere Gequatsche satt. Im Königreich Britannien stehen die Zeichen auf Handeln, auf Auf- und Umbruch. Und der hat an den Münchner Kammerspielen, für die Thomas Melle Shakespeares Tragödie über- und fortgeschrieben hat, mit Jung gegen Alt und Weiblich gegen Männlich zu tun.
Wider das blöde, edle Schwarzweiß
Die Unbedingtheit, mit der Fridays for Future und Co. heute den gesellschaftlichen Wandel einfordern, hat Melle die Feder gespitzt. Er hat Shakespeares Personal auf den harten Kern reduziert und das "blöde, edle Schwarzweiß" der Figurenzeichnung in Grautönen schattiert. So darf der als Narr verkleidete "gute" Kent die übelsten Blondinenwitze erzählen und die Machtgier der beiden "bösen" Schwestern bekommt neue Triebfedern verpasst. Sie kämpfen und töten nicht für sich, sondern für "gleiches Recht für alle Menschen aller Klassen, Farben und Geschlechter".
Derart Überdeutliches lässt Regisseur Stefan Pucher schon mal unter den Teppich fallen. Der Preis des Umsturzes interessiert ihn mehr als das Wozu, und vom Frontverlauf erzählt er auch über die Besetzung: Gonerils von Kent und Lear erniedrigter Bote Oswald wird von einer Frau gespielt (Anna K. Seidel) und der moderate Gloucester ist bei Wiebke Puls eine Gräfin, deren Verrat darin besteht, dass sie "mit den Schwänzen fraternisiert".
Ohne Höllenritt kein Paradies
Melles erweiterte Neuübersetzung mäandert zwischen derb, poetisch, akademischen Wendungen und Kalauern. Mal geht es etwas steif um "Disruption" versus "unhinterfragte Verstetigung", dann ist es wieder irre komisch, allein, weil das großartige Ensemble die Pointen so beiläufig setzt, als hätte es sie versehentlich fallenlassen. Dabei erscheinen die Schauspieler Pucher-üblich oft nur als ihre eigenen übergroßen (Live-)Film-Konterfeis auf Nina Pellers Bühne, auf der sich zuweilen eine Art königlicher Bauwagen dreht, über dem bereits zu Beginn der Schriftzug "The End" prangt.
Das Schicksal der alten (weißen) Männer ist besiegelt: "Einmal noch müssen wir's machen wie sie. Der Schnitt wird glücken, aber fragt uns nicht, wie. Auch wir finden's traurig, auch wir leiden mit – doch kein Paradies ohne Höllenritt" ist das Mantra der Schwestern, die ihr blutiges Handwerk von den Vätern gelernt haben. Zwischen ihm und Cordelias Mahnung "Wer die Figuren austauscht ohne die Regeln zu ändern, der spielt das alte Spiel" erstreckt sich das Dilemma, das dieser Abend ausbreitet, aber selbstverständlich nicht lösen kann. Dafür wird auf mehreren Ebenen, wie Goneril sagt, "eskaliert".
Zwischen Trash-Comic und Las Vegas
Emotional ist das Eskalieren eher den "Alten" vorbehalten, allen voran Samouil Stoyanov als Narr/Kent, ein herrlich zwischen pomadiger Sanftheit und allerlei gestischen und stimmlichen Eruptionen ausschlagender Seelenbruder des Lear von Thomas Schmauser, der nach seinem zweijährigen Ausflug ans Residenztheater aufspielt, als habe er seine Begabung zum fragilen Wahnwitz nie woanders ausgetobt.
Goneril (Julia Windischbauer), Regan (Gro Swantje Kohlhof) und Gloucesters intriganter "Bastard" Edmund (Thomas Hauser) agieren dagegen fast wie Untote: Hauser scheint mit seinen schwarz umrandeten Augen und den Reptilienklamotten einem futuristischen Vampirfilm entsprungen zu sein, die beiden Frauen haben sich qua Willenskraft zu Werkzeugen des vermeintlich Unumgänglichen geformt. Und nur als sie Gloucester die Augen ausbohren, geraten sie in eine Art Rage, während Wiebke Puls' artifizieller Schrei wie eine Laut gewordene Comicsprechblase eine Weile im Raum stehen bleibt.
Zwischen Trash-Comic und Las Vegas eskalieren die Kostüme von Annabelle Witt, die Glitzer und grelle Farben mit einem Maximum an Geschmacklosigkeit kombinieren. Vollends auf der Höhe seiner wildesten Kombinier- und Zitierfreude ist Pucher, als er Edgar – bei Christian Löber ein nervöses und allzu fluchtbereites Kerlchen, mit dem sein intriganter Halbbruder Edmund leichtes Spiel hat – als Major Tom aus dem Schnürboden schweben lässt: Ein offensichtliches Thin White Duke-Zitat und seltsam deplatzierter deus ex machina gleichermaßen, der den im Sturm bibbernden alten Männern erscheint.
Wobei der Sturm nur durch das Bibbern Gestalt wird und das Alter hier relativ ist. Denn Schmausers Lear ist kein Greis, der last minute sein Erbe verteilt, sondern eher ein Frühaussteiger aus der Verantwortung des Königs-Jobs, der aber in den Augen seiner Töchter ein jahrhundertealtes Patriarchat symbolisiert. Dass ihn Melle zudem zum Internetjunkie macht und der Tross seiner Ritter, sein furchterregender "Männermob", hier aus einer Million Facebook-oder-was-auch-immer-"Freunden" besteht, gehört zu einer der plumperen Aktualisierungen des Stücks, das am Ende noch eine überraschende Wendung bereithält – und den Schluss- wie Höhepunkt von Matthias Lilienthals letzter Münchner Saisoneröffnung markiert.
Das Zitat "Wer die Figuren austauscht ..." hatten wir falsch zugeschrieben. Das haben wir am 29.9.2019 korrigiert.
König Lear
von William Shakespeare, übersetzt und neu bearbeitet von Thomas Melle
Regie: Stefan Pucher, Video: Hannes Francke und Ute Schall, Live-Video Hannes Francke, Bühne: Nina Peller, Kostüme: Annabelle Witt, Musik: Christopher Uhe, Licht: Stephan Mariani, Dramaturgie: Helena Eckert, Tarun Kade.
Mit Thomas Hauser, Gro Swantje Kohlhof, Jelena Kuljic, Christian Löber, Wiebke Puls, Thomas Schmauser, Anna K. Seidel, Samouil Stoyanov, Julia Windischbauer.
Premiere am 28. September 2019
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, keine Pause
www.muenchner-kammerspiele.de
Die Inszenierung zeichne etwas Verzerrendes und Überzeichnendes aus, so Sven Ricklefs auf Deutschlandfunk Kultur (28.9.2019). "Es ist immer auch eine Ironie dabei, ohne allerdings den ernsthaften Kern dieser sehr einleuchtenden Neusicht auf den alten Lear auch nur einmal zu verraten." Das mache "sehr viel Spaß". Thomas Schmauser spiele den Lear zunehmend "traurig-verrückt".
Melle und Pucher werfen "
Thomas Melles Shakespeare-Bearbeitung sei "Aktualisierung mit Augenmaß", schreibt Hubert Spiegel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (30.9.2019). "Für zusätzliche Überraschungen sorgen Annabelle Witts schräge Kostüme und Stefan Puchers Regie, die konzentriert und zügig beginnt, dann aber im Verlauf des Abends unter der Last von allzu vielen Effekten und Kabinettstückchen ausfranst." Trotzdem lautet Spiegels Fazit: "So wie in dieser Spielzeiteröffnung der Münchner Kammerspiele hat man die Tragödie von König Lear noch nicht gesehen. So jung noch nicht, nicht so witzig und nicht so entschlossen in die Gegenwart und ihre hitzigen Debatten gestemmt."
In Thomas Melles Bearbeitung sei "Lear" ein "harter, kluger und aufregender Geschlechter- und Generationenkampf-Thriller", "den Stefan Pucher inszenierte, als wäre sein fabelhaftes Ensemble ein verschworene Punk-Band", schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (30.9.2019). "Stefan Pucher, zuletzt eher mit calvinistischer Textexegese aufgefallen, erschafft einen rasanten, ungeheuer dichten Abend, an dem das gesamte Ensemble mit Lust bis zur Verausgabung spielt."
In Thomas Melles Bearbeitung bleibe Shakespeares illusionsarme Weltsicht vollständig erhalten "und wird mit Puchers Inszenierung in eine Zeit der immer unschärfer werdenden Feindbilder und bröckelnden politischen Gewissheiten aktualisiert", schreibt Mathias Hejny in der Abendzeitung (29.9.2019). "Der präpotente Trash, den Stefan Pucher ohne Not vor allem im letzten Drittel häuft, kann von der Kraft des Ensembles, den eindringlichen Bildern und dem Raffinement des Erzählens nicht wirklich ablenken."
Stefan Pucher schicke "die vor Spielfreude fast explodierende Bande" auf eine bei Shakespeare verlässliche Reise voller wahnsinniger Wortwechsel und Blut, so K. Erik Franzen in der Frankfurter Rundschau (30.9.2019). Thomas Melle habe "eine ebenso heutige wie die Tradition bewahrende Überschreibung von Shakespeares Vorlage geliefert", die den Spielern auf der Bühne alle Türen aufmache. "Radikal ins Hier und Jetzt übertragen, spannt sein Lear den Bogen zu Debatten über das Ende der patriarchalen weißen Macht, zur Klimabewegung."
"Einen grossartig verwirrten 'Lear' (...), dem die weibsteufelwilden Töchter mit feministischem Sendungsbewusstsein die letzten Tage schwer und wirr machten" hat Bernd Noack gesehen und schreibt in der Neuen Zürcher Zeitung (1.11.2019): Stefan Pucher habe "die kluge Crossover-Bearbeitung" von Shakespeares "Lear" durch Thomas Melle in eine "für seine Verhältnisse zwar zahme, dafür inhaltlich radikal aufmüpfige Form" gebracht.
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