Text-Bild-Schere

von Andrea Heinz

Wien, 26. Juni 2021. Anthropozän, Öko-Katastrophe, Apokalypse, das sind so die Themen in Philippe Quesnes bildgewaltigen und vielgelobten Arbeiten. Dass er nicht am Puls der Zeit wäre, kann man ihm wirklich nicht vorwerfen. Gerade erst Anfang des Monats war seine neueste Arbeit "Cosmic Drama" am Theater Basel uraufgeführt worden, von der Kollegin Reingart Sauppe als "unterhaltsame und poetische Auseinandersetzung mit dem Thema Mensch und Natur" umschrieben.

Was ist der Mensch, wenn nicht Natur?

Das könnte man nun auch mehr oder weniger über "Das Lied von der Erde" sagen, das, in der Kammermusikfassung von Reinbert de Leeuw, unter der musikalischen Leitung von Emilio Pomàrico und mit dem (famosen!) Klangforum Wien sowie den Sänger:innen Christina Daletska (Alt) und Michael Pflumm (Tenor) bei den Wiener Festwochen Premiere hatte. Eigentlich hätte die Auftragsarbeit bereits 2020 am Programm stehen sollen. Quesne untersuche "die Verbindung Mensch – Natur im Zeichen ihrer Gefährdung und Möglichkeiten" heißt es so viel- wie nichtssagend in der Ankündigung der Festwochen zum Abend (was wäre der Mensch eigentlich, wenn nicht Natur?!), es scheint, als hätte Quesne auch Mahlers sinfonischen Liederzyklus mit seinen üblichen Themen unterlegen wollen, also den Katastrophen und der Zerstörungswut des Anthropozäns.

lied von der erde 2 560 c martin argyroglo Spiegelungen von Seelenlandschaften: der vereinzelte Menschen im Anthropozän © Martin Argyroglo 

Zumindest machen die teils recht dystopischen, katastrophischen (und durchaus eindrucksvollen) Bildwelten auf der Bühne des Wiener Volkstheaters diesen Eindruck. Was schon mal wie eine Text-Bild-Schere wirkt: Mahlers Liederzyklus basiert auf chinesischen Gedichten aus dem ersten Jahrtausend, die durch zahlreiche Übersetzungen und nicht zuletzt durch Mahler selbst bereits stark verändert und teils verfremdet wurden. Es geht viel um Alkoholgenuss, Vergänglichkeit, Einsamkeit, zwischenmenschliche Beziehungen und ihre Freuden und Schwierigkeiten, klassische Themen.

Weltschmerz und Selbstbespiegelung

In Mahlers Version, die er in einer Phase des persönlichen Kummers über verschiedenste, familiäre, gesundheitliche wie auch berufliche, Schicksalsschläge schrieb, sticht vor allem die Melancholie hervor, der Weltschmerz eines Menschen, der sein Ende nahen sieht und seine Empfindungen in der Natur und ihren Erscheinungen zu spiegeln sucht. Man ist ja ungern allein auf der Welt mit seinem Schmerz. Also eigentlich: Klassisch menschliches Verhalten, die Natur wird benutzt, in diesem Fall halt zur Selbstbespiegelung und als Trost. Eher schwer vorstellbar, dass Mahler sich sonderlich um den Zustand der "Natur" gesorgt haben sollte, wozu auch im Jahr 1908, als, rein ökologisch betrachtet, (scheinbar) noch alles prima war und das Konzept "Natur" etwas ganz anderes meinte als heute.

Es wasserfalt so zauberhaft

Bei Quesne jedenfalls, von dem nicht nur das Konzept für diesen Abend stammt, sondern der auch für Bühne und Regie verantwortlich zeichnet, wird eine ziemlich prätentiöse und gleichzeitig recht dünne Sache daraus. Die insgesamt 6 Lieder des Zyklus hat er in verschiedene Bildwelten und Stimmungen getaucht, von banaler Illustration (an der Stelle "Herbstnebel wallen bläulich überm See" wallen bläuliche Nebel über die Bühne) bis hin zu den bereits erwähnten dystopischen Welten. Aus dem Bühnenboden wölbt sich immer wieder ein Hügel, Geröll davor, abgeknickte Baumstämme dahinter bilden ein post-apokalyptisches Szenario. Zu Beginn wasserfallt es sehr zauberhaft und in Farbnebel getaucht vom Schnürboden, am Ende schneit es (wieder: post-apokalyptisches Szenario), dazwischen werden auch mal zwei romantische Landschaftsmalereien des deutsch-amerikanischen Malers Albert Bierstadt, darunter "Storm in the Rocky Mountains, Mount Rosalie" (1866), in Monumental-Größe vom Schnürboden heruntergelassen oder wieder hochgezogen. Bisweilen lässt Quesne über die Leinwand noch Schatten von Vogelschwärmen ziehen. Hach, die Natur.

lied von der erde 1 560 c martin argyroglo Hach, die Natur! © Martin Argyroglo 

Das ist alles ein wenig dünn, und auch mit den Sänger:innen weiß Quesne recht wenig anzufangen. Neben eher generischer Musiktheater-Mimik (sie wirft ihm neckisch großäugige Blicke zu) ist ihm kaum mehr eingefallen, als dass Christina Daletska gegen Ende ihr wallend Haar herunterlassen und sich dann noch auf den Boden legen darf, warum auch immer, vielleicht, um der Erde näher zu sein. In Summe jedenfalls ist das alles nicht sehr ergiebig, und die Deutung von Mahlers Liederzyklus als einem Werk, das uns groß etwas zu Klimawandel und Umweltzerstörung zu sagen hätte, nicht besonders überzeugend. Dafür kann das Werk nichts – Mahler wusste schlicht nichts von so etwas wie einem Klimawandel, und diese Gnade der frühen Geburt sei ihm von Herzen vergönnt. Es muss ja auch nicht immer alles mit uns und unseren heutigen Sorgen zu tun haben. Und ein schnörkelloser Kammermusikabend mit dem Klangforum und den beiden Sänger:innen wäre in diesem Fall die bessere Lösung gewesen.

 

Das Lied von der Erde
von Gustav Mahler in einer Kammermusikfassung von Reinbert de Leeuw
Regie, Konzept, Bühne: Philippe Quesne, Kostüm: Alja Ayidan, Musikalische Leitung: Emilio Pomàrico, Alt: Christina Daletska, Tenor: Michael Pflumm, Ensemble: Klangforum Wien / Thomas Frey, Markus Deuter, Olivier Vivarès, Szilard Benes, Lorelei Dowling, Christoph Walder, Sophie Schafleitner, Annette Bik, Francesca Piccioni, Benedikt Leitner, Szymon Marciniak, Isabel Goller, Joonas Ahonen, Lukas Schiske, Alfredo Ovalles.
Premiere am 26. Juni 2021
Dauer: 1 Stunde, keine Pause

www.festwochen.at

 

 Kritikenrundschau

Im Standard zeichnet Ljubiša Tošic (28.6.21, 08:28) den Abend als "pessimistische Untersuchung des Verhältnisses von Mensch und Natur", außerdem als "tragisch verwandt mit jener beiläufigen Form, die als "semikonzertant" bisweilen den Alltag des Musiklebens erfrischt." Inklusive der Tücken des Genres:  Die Sänger:innen – ein Alt mit "impulsivem Charakter" und ein "kultiviert tönender" Tenor – würden "dem Minimalismus (frei von Interaktion) überantwortet. Stehen sie nicht einfach da, als würden sie an einem Vorsingen teilnehmen, reichen ihre musiktheatralischen Aktionen nicht über das Verfinstern oder Aufhellen der Mienen hinaus." Auf "substanzvolle Gestaltung" wartete der Rezensent vergeblich – stattdessen "optische Verzierung" "mit trivialer Effektivität". Immerhin könne man sich in dieser "Regiewüste" der musikalischen Seite der Produktion in Ruhe widmen. 

Martin Gasser Steiermark (28.6.21) in der Kleinen Zeitung klagt: "Was in diesem Stück alles szenisch und ideologisch stecken würde!" Da wäre etwa das Changieren "zwischen Rausch und Tod" oder der "Exotismus, der heute unter dem Aspekt der Kulturellen Aneignung vor allem für ein Festival wie die Festwochen thematisch gewinnbringend gewesen wäre." Stattdessen setze der Regisseur diesen "Koloss" "auf optische Diät" und kreiere eine "lasche Konzertinstallation". Ganz am Schluss gelinge vielleicht eine "einigermaßen adäquate Bebilderung des Nichts". Ansonsten sorge für die Atmosphäre aber eher die Musik, "die die Wildheit und die Nervösität des Stücks pointiert herausarbeitet."

"Musikalisch achtbar, szenisch zum Vergessen" subsumiert Peter Jarolin Länder im Kurier (28.6.21). Das Volkstheater sei hier als Spielort ungeeignet, mangels Orchestergrabn - so "sitzen im konkreten Fall die Musikerinnen und Musiker des (wie immer) exzellenten Klangforum Wien vor der Bühne, frontal zum Publikum." Dirigent Emilio Pomàrico "interpretiert Mahler, fordert schöne Soli ein, setzt auf feine Akzente und viel Dramatik und errichtet dennoch eine Mauer zwischen Bühne, Orchester und Publikum. Das ist nicht sein Fehler, das liegt am gewählten Spielort." Hauptsächlich fehlen dem Kritiker aber Regie-Einfälle: "Quesne (auch Bühne und Licht) setzt auf alte Theatertricks. Nebel, Regen und Schnee und zwei auf- und niederfahrende Vorhänge dominieren die leere, dunkle Bühne. Und es passiert genau nichts. Die Sänger singen, die Musiker spielen. Das ist alles."

Julia Danielczyk hingegen zählt den Abend in den Salzburger Nachrichten (28.6.21) zu den Höhepunkten der Wiener Festwochen - "Schönheit, Natur und Musik verbinden sich in dieser szenischen Version". Der Einsatz der Kulisse überzeugt: "Die Sänger lehnen an den herrlich-schönen Bildern von Wasser, Felsen und Wald, wissen um den Verlust der Gletscher und die Zerstörung des Ozeans. Die Illusion von intakter Natur weicht der Wirklichkeit des Endes, des Abschieds." Eine ausklingende Utopie, "die mit begeistertem Applaus bedankt wurde."

 Wolfgang Huber-Lang in der APA/OTS (27.6.21) zeigt sich enttäuscht: Für das, was sich Philippe Quesne, "normalerweise einer
der originellsten Bühnen-Gesamtkünstler der Gegenwart",  hier einfallen ließ - "hätte es keinen Regisseur gebraucht." Das Orchester, nicht im Graben, "sondern unmittelbar vor dem Publikum" "errichtet mit seinem präzisen, akzentuierten, vom Dirigenten aber zunächst überhaupt nicht zur Verhaltenheit angeleiteten Spiel eine wahre Musikmauer zu den beiden auf der Bühne abwechselnd agierenden Sängern. "Das Lied von der Erde" wird so mehr zum instrumentalen als zum vokalen Erlebnis." Dazu gäbe es "es eine kleine Auswahl herkömmlicher Theater-Tricktechnik: Regen, Nebel, Schnee, Lichteffekte und Bühnenprospekte" - freilich "ohne dass sich je ein Zauber eingestellt hätte." Auch mute es etwas wunderlich an, "sich um die Zukunft einer Welt ohne Menschen Gedanken machen zu sollen, andererseits aber nicht nur über ein Dutzend Musiker ständig im Blick zu haben, sondern dabei auch zwei Sänger über die Bühne wandeln zu sehen."

 

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