Brecht? Öh, ähm, naja!

von Wolfgang Behrens

Berlin, 21. April 2010. Nach dem vornehmsten Gebot befragt, soll Jesus zuerst – lange ist's her! – mit dem Gebot der allgemeinen Gottesliebe geantwortet haben, um dann noch ein zweites nachzuschieben: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst." Ganz einfach also! Man müsste nur diesem Gebot folgen, um ein gutes Leben zu führen und ein guter Mensch zu sein.

Das Blöde ist nur, dass dieses zweite der vornehmsten Gebote seinerseits zwei Gebote enthält, die sich auch noch zu widersprechen scheinen: "Liebe deinen Nächsten" und "Liebe dich selbst". Zwischen diesen beiden Handlungsmaximen die richtige Waage zu finden, kann einen schon einmal ein Leben lang beschäftigen. Oder ein Stück lang. Bertolt Brecht jedenfalls machte 1939 das Paradox dieses christlichen (und nicht nur christlichen) Nächstenliebegebots zum großen Thema seines "Guten Menschen von Sezuan".

Und weil das Thema so groß ist, fasste Brecht es exemplarisch an und – 's ist halt Brecht – auch ein bisschen lehrhaft: Das von den Göttern als guter Mensch ausgemachte Mädchen Shen Te ginge in dem Stück an seiner kein Maß kennenden Mildtätigkeit allzu schnell zugrunde, wenn es sich nicht von Zeit zu Zeit in seinen hartherzigen, aber ökonomisch vernünftigen Vetter Shui Ta verwandeln würde.

Vom Verfremdungseffekt zum Veralberungseffekt

Das große Thema, das Exemplarische, das Lehrhafte – das sind zweifellos Dinge, mit denen man sich heute schwertut auf dem Theater. Also lässt man sie beiseite. Wenn Friederike Heller jetzt an der Schaubühne den "Guten Menschen" inszeniert, dann zeigt sie sich an dem grundlegenden Konflikt des Stückes wenig interessiert: Es geht nicht mehr darum, über das Paradox der Nächstenliebe nachzudenken – folgerichtig ist Brechts Epilog mit dem ganz ernsthaft ans Publikum appellierenden Satz "Der einzige Ausweg wär aus diesem Ungemach: / Sie selber dächten auf der Stelle nach" gestrichen. Es geht vielmehr darum, mit Brecht zu spielen. Aus dem Verfremdungseffekt wird der Veralberungseffekt, aus dem epischen das postepische Theater.

Auf der Bühne sitzt die Postrock-Band Kante und spielt Post-Dessau: Die Musik, die Paul Dessau für den "Guten Menschen" geschrieben hat, wird auf Korg-Synthesizern und E-Gitarren mit Klängen vom Free Jazz über Rock bis zum Softpop paraphrasiert. Das Bandambiente bietet zugleich das Setting des Abends: Auf ein paar Stühlen lungern zu Beginn die Darsteller herum, als gelte es eine Probe abzuwarten. Später senkt sich ein Bühnenportal herab, welches das Ganze als eine Art Showfenster rahmt und zudem noch den guten alten Brechtvorhang zitiert.

Und dann kommen die Albereien. Die Protagonistin Jule Böwe als Shen Te/Shui Ta findet sich mit fünf männlichen Darstellern konfrontiert, die das umfangreiche Rollenverzeichnis rauf- und runterspielen. Ausgiebig wird der Witz ausgekostet, den die schnellen Rollenwechsel mit sich bringen: ein Faschingshütchen aufs Haupt gesetzt, eine Polizistenmütze, Ohrenschützer oder eine dämliche Perücke – fertig ist die neue Figur ("So, ich bin jetzt noch mal der Schreiner", kommentiert Urs Jucker einmal). Das Theater feiert sich in seiner Durchschaubarkeit: Es will ja nur spielen.

Mit Mutterwitz und Dienstwaffe

Die Haltung der Schauspieler zu ihren Figuren ist höchst ironisch-distanziert und insofern durchaus brechtisch-episch. Die travestierenden Faxen, die sie machen, die Anleihen an der billigsten Klamotte, distanzieren sich indes noch weiter, als Brecht das wohl lieb sein könnte: Die Darsteller gehen so auch gleich mal auf Abstand zu dem, was da verhandelt wird. Witzig allerdings ist es schon, wenn etwa Niels Bormann sich im Rollstuhl als tuntige Witwe Shin auf eine kleine Rauferei einlässt, um sich im nächsten Augenblick als Polizist mit seiner dauergezückten Dienstwaffe ins eigene Gemächt zu schießen.

Mit den vielen kleinen Nümmerchen aber, die einfach nur Theater und keinesfalls Botschaft oder Problemstellung oder große Metapher sein wollen, kann (und will?) Friederike Heller der Fabel nicht recht auf die Sprünge helfen. Für die schnodderige Poesie Brechts freilich, für seine Pointen haben sie und ihre Schauspieler ein feines Gespür entwickelt. Indem das Possenreißerische das Regiment übernimmt, fällt aller hölzerne Zeigegestus von Brechts Text ab, und zum Vorschein kommen seine Plastizität, sein geradliniger Mutterwitz, seine unsentimentale Lyrik.

Zum Niederknien schön führt das Ernst Stötzner vor, der seinen Wasserverkäufer Wang sprechen und manchmal auch nuscheln lässt, als hielte er sich an kein Skript, als falle ihm alles gerade erst ein, mit öh, ähm und naja. Plötzlich wirkt Brechts Sprache frischer, biegsamer und lebendiger denn je – und das ist wohl der größte Gewinn dieser drei letztlich doch recht kurzweiligen Stunden.

 

Der gute Mensch von Sezuan
von Bertolt Brecht
Musik von Paul Dessau
Regie: Friederike Heller, Bühne und Kostüme: Sabine Kohlstedt, Musikalische Einrichtung: Kante, Dramaturgie: Bernd Stegemann, Licht: Erich Schneider.
Mit: Jule Böwe, Niels Bormann, Ulrich Hoppe, Urs Jucker, Sebastian Schwarz, Ernst Stötzner. Musiker: Thomas Leboeg, Peter Thiessen, Sebastian Vogel.

www.schaubuehne.de


Mehr zu Brecht? Nö, der wird als bekannt vorausgesetzt. Aber zu Friederike Heller: Die Spezialistin für "Bedeutendes", das sie gerne leicht serviert, zeigte im Mai 2007 am Burgtheater Peter Handkes Spuren der Verirrten, im März 2008 ebenda ihre Thomas-Mann-Adaption Dr. Faustus – My Love is a Fever und in Dresden im Herbst 2009 Wilhelm Meisters Lehrjahre.

 

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Kritikenrundschau

In der Welt (23.4.2010) berichtet Ulrich Weinzierl , dass die Regisseurin Friederike Heller "nach eigenem Bekenntnis aus der Parabel" von Brechts "Gutem Menschen von Sezuan" an der Berliner Schaubühne "einen leicht feministischen Comic, eine Art Musical machen" wollte. Die Regie missverstehe dann aber den Brechtschen Verfremdungseffekt "grundsätzlich als Freibrief zum ödesten Veräppeln". Quälend folge Mätzchen auf Mätzchen: "Ein Schauspielersextett, darunter der hier beklagenswert verschleuderte Ernst Stötzner, hat sämtliche Figuren darzustellen. Mehrfachbesetzungen steigern das Rollenvernichtungspotenzial eines jeden Ensembles enorm." Paul Dessaus Bühnenmusik wiederum wecke "in der Regel den Wunsch, Kurt Weill hätte sie geschrieben. Die Version des Postpop-Trios "Kante" erzeugt indes bloß die unbändige und ebenso vergebliche Sehnsucht nach Stille."

Friederike Heller versuche bei ihrem Regiedebüt an der Berliner Schaubühne, "Überdeutlichkeit mit Überdeutlichkeit zu kontern: Sie verpasst dem Personal eine gründliche Ironie-Dusche", schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (23.4.2010). Beim ersten Mal sei es "sicher nicht ohne Witz, wenn Ulrich Hoppe dank eines pinkfarbenen Pappfaschingshütchens von der armen Teppichhändlerin zur verzickten Hauseigentümerin Frau Mi Tzü aufsteigt (...) Nur geht das dann dreieinhalb Stunden so durch; praktisch in einem einzigen Tonfall. (...) Für Hellers offensichtliches Vorhaben, das Lehrstück in enthemmter Spiellust aufzulösen, bleibt die Veranstaltung letztlich zu brav. Und Kostümwitz hin, Kalauer her: Das Stilmittel der Ironisierung ist, zumal bei Brecht, eben leider derart konsensfähig, dass man sich tatsächlich zusehends nach dem Mehrwert des Abends fragt. Die Inszenierung wirkt wie mit äußerst heißer Nadel gestrickt. Heller scheint damit in mehrerlei Hinsicht nicht so recht fertig geworden zu sein."

"Was in Finanzkrisen-Zeiten die durchaus aktuelle Frage aufwerfen könnte, ob die Misere nicht doch eher auf einen Systemfehler statt auf das Versagen einzelner zurückzuführen ist, wird bei der Regisseurin Friederike Heller an der Schaubühne jeglicher Dringlichkeit beraubt", meint Anne Peter in der Berliner Morgenpost (23.4.2010). Die Band Kante bringe "die Songs von Paul Dessau auf eingängigen Pop-Rock-Sound von heute" – Brecht werde "hier zum Halb-Musical mit Pling-Plang-Effekt weichgespült, bei dem alle Beteiligten mal ans Mikro treten". Sie alle blieben dabei "verlässlich im Ironie-Modus und halten sich sowohl die Figuren als auch die paradox zulaufende Problemstellung des Stücks deutlich vom Leibe. Nur Jule Böwe wechselt als Shen Ten respektive Shui Ta temporär ins Empathie-Spielfach, lässt aber das spannende Zugleich dieser Figur kaum je durchscheinen, spielt das Entweder-Oder." Selbst "die Lustigkeit des so lustig Gemeinten" halte sich "in Grenzen und vermag nie einen subversiven Touch zu gewinnen".

Ein großes "Tja" liege "wie eine Dunstglocke" über Friederikes Hellers Umsetzung des "Guten Menschen", schreibt Christian Rakow in der Märkischen Allgemeinen (23.4.2010): "Tja, was machen wir mit diesem Schulstoffklassiker?" Die Lösung: "nicht zu dick auftragen! Cool bleiben! Die Schauspieler greifen nach Sätzen wie nach rohen Eiern. Wer zu fest zupackt, könnte sich lächerlich machen." Die Schauspieler improvisierten sich "locker in ein riesiges Figurenrepertoire hinein, wobei die Frauenrollen arg klamaukig zelebriert werden. Stötzner umspielt mit bravouröser Nüchternheit die pausbäckig halboptimistische Shen Te von Jule Böwe. Diese gut dreistündige Kasperleshow wäre alles andere als abendfüllend, hätte Heller nicht die Indie-Rockband 'Kante' hinzugerufen. So bietet die funkelnde Showbühne mit E-Pianos, Gitarren und Schlagzeug immerhin jazzige und poppig angeschrägte Adaptionen der Originalmusik von Paul Dessau".

"Charmanter, verspielter" lasse sich Brechts "lehrhaftestes Lehrstück" kaum inszenieren, findet hingegen Gustav Seibt von der Süddeutschen Zeitung (24.4.2010). Der Stil, den Heller mit den "durchweg vorzüglichen Schauspielern" erarbeitet habe, "schrammt begreiflicherweise hart ans Alberne: Große Darsteller tun fürs epische, hochdidaktische Theater so, als wären sie Schülertheater". Das sei "Berliner Commedia dell'Arte" mit den Mitteln von Harald Schmidt. Die Mehrfachbesetzungen spiegelten Brechts "dramaturgischen Grundeinfall: die Doppelrolle der Shen Te als Gutmensch und als Kapitalistenschwein". Jule Böwe mache das "sogar richtig ernsthaft, wie eine Berliner Göre, die das Problem echt rüberbringen will". Die alte Sezuan-Frage: "Geht es um zwei Seelen in des Menschen Brust? Geht es um zwei Prinzipien der Welt?" werde "fast Luhmann-haft" beantwortet: "Es geht um Rollen. Die soziale Funktion macht den Charakter, der tatsächlich nur eine Maske ist, die der epische Schauspieler vorführt." Dass das Stück "uralt" ist, werde dabei "beinahe erfolgreich überspielt". Kante zerlege Dessaus "schwerblütige Bühnenmusik" "liebevoll und hochkultiviert (...) in fast heutigen Diskursrock". Und am Ende "weisen dringliche Schauspielerhände mit der Frage nach Weltveränderung ins Publikum. Dass sie vollkommen unbeantwortbar wirkt, ist nicht die Schuld dieser leichtfüßigen, gelungenen Aufführung."

"Die Brecht-Gardine, der graue Lappen", sei bei Heller "rauschengelgolden", schreibt Elena Philipp in der Berliner Zeitung (24.4.2010). Passend, wo doch hier "Der gute Mensch von Sezuan", der "Engel der Vorstädte" gekürt werde. "Sie als einzige war bereit, die durchreisenden Götter zu beherbergen. Das ist den Erleuchteten tausend Silberdollar wert - und der Regisseurin einen Goldvorhang. Ein guter Mensch? Eine gute Show! Das ist es, was zählt" in dieser Brecht-Inszenierung. Deren Unernst sei "eine gute Weile lang frisch und unterhaltsam" und drehe gelegentlich "ins gelungen Aberwitzige". Jedoch: "Brecht wird mit Zeigefinger aufgesagt. Nicht mahnend moralisierend, sondern mit dem Dauerhinweis darauf, dass hier The-a-ter gespielt wird". Im "Modus des Uneigentlichen" kreise die Aufführung drei Stunden um sich selbst. "Ironisches, über-episches Theater, pathosfrei und beliebig. Die ersten Setzungen sind offenbar schon die Interpretation, die inhaltlichen Angebote auf der Bühne bleiben mehr als vage." Am Ende werde Shen Te "zum Superstar der Selbstlosen erkoren, ihre Alias-Sünden hin oder her. Die Show ist, was zählt." Ein "vergnügliches, virtuoses Nichts".

Von "Anfang an als künstlerische Konkursmasse" komme Brechts Stück bei Friederike Heller auf die Bühne, urteil Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (26.4.2010). Alles wirke, "als fände hier nur eine Probe statt"; begleitend "zerhauen drei Musiker der Band Kante im Stil einer unbeherrschten Tanzcombo die Originalkompositionen von Paul Dessau zu dröhnend schepperndem Kleinholz." Die "tapfere Jule Böwe" tausche "auf der Suche nach ihrer Doppelrolle einfach die Turnschuhe gegen violett glitzernde High Heels"; die übrigen Rollen würden von den Schauspielern "durch alberne fliegende Kleider- und Perückenwechsel dargestellt, wobei kein Kalauer zu dumm, kein Mätzchen zu peinlich ist."

"Wie heute umgehen mit Brechts epischen Totalitäten?", wie der von Martin Walser behaupteten "normalen Klassikerlangeweile" entgehen, fragt Jürgen Otten in der Frankfurter Rundschau (27.4.) Leicht ist es nicht, dies bewiesen die beiden Brecht-Abende ("Der gute Mensch von Sezuan" in der Schaubühne und "Der Kaukasische Kreidekreis" im BE) in Berlin. Hellers Version von Sezuan gerate insbesondere durch die Integration der Pop-Band Kante und ihrer "Paraphrase" der Musik von Paul Dessau "verheerend". Der Stoff verwandele sich: " von der Fabel zur Farce, von der Parabel zum Popkonzert." Die Übernahme aller Rollen durch eine Handvoll Schauspieler wäre "Verfremdung in Reinkultur", geriete diese Verwischung der Differenzen "nicht derart heillos übertrieben komödiantisch-revuehaft".
Ernst Stötzner treffe als einziger "den hohen, schlichten Fabel-Ton", schaffe "die subkutane Energie", die "unerlässlich scheint für eine Auseinandersetzung mit dem Sujet". Jule Böwe spiele ihre Doppelrolle "grandios", aber offenbar habe sie sich, genauso wie der "bärenstarke" Sebastian Schwarz in "ein modernes bürgerliches Existenzdrama" verirrt, "in dessen Verlauf die Figuren zusehends in wütende Ekstase geraten", und entsprechend lärmen, was Jürgen Otten nervt: "Anscheinend ist es nicht mehr möglich, auf dem Theater ohne Lärm auszukommen, ohne hochgeputschte Emotion, ohne zornentzündeten Vulgärausbruch."

Gustav Seibt äußert sich in der Süddeutschen Zeitung (27.04.2010) nach Ansehen auch des Kargeschen "Kaukasischen Kreidekreises" im BE noch mal zum "Sezuan": Heller und ihre Darsteller reagierten auf ein Grundproblem bei Brecht: "Seine mit allen heutigen Sehgewohnheiten in schreiendem Widerspruch stehende Langsamkeit." Heller entreiße den "Guten Menschen" durch "fliegenden Rollen-Wechsel der Darsteller, Anleihen am Fernsehgeplapper und eine modernisierte Commedia dell"Arte der lehrhaften Drögheit". Karge wähle indes einen entgegengesetzten Ansatz: den "Binnenraum einer zur Gegenwart hin möglichst verschlossenen strengen Musealisierung". Es ist, als sähe man auf alte Theaterfotografien als "kolorierte lebende Bilder". Der "frühe DDR-Staatstheaterstil", mit "bunten Kostümen, farbiger Schminke, präzisem Gesang und genau gespuckten Silben", wirke überaus "befremdlich" - "in einem archäologischen Sinne theaterhaft". Angesichts der "historisch unvermeidlich wirkenden Unspielbarkeit" vor allem "der lehrhaften Brecht-Stücke" wirkten nur "extreme Lösungen" glaubwürdig, andernfalls drohe gähnende Langeweile. Es sei "schwer zu sehen", was "das Dritte zwischen radikaler Lässigkeit und entschlossener Musealisierung" sein sollte.

 

 

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