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Das große Egal

von Shirin Sojitrawalla

Frankfurt, 17. September 2011. Da steht sie, Julie, in der Bühnenmitte, verrenkt die blassen Arme zur Luftgeige und singt schmerzensreich, dass das Leben ein Ringelspiel sei. Den Zuschauern darf dabei so bang ums Herz werden, wie vorher nicht an diesem Abend und nachher erst recht nicht mehr. Irgendwann begibt sich Henrike Johanna Jörissen als Julie zum Flügel, räkelt sich hinauf und bleibt dort liegen wie ein Versprechen oder zumindest wie Michelle Pfeiffer in "Die fabelhaften Baker Boys".

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Karusselausrufer Liliom und seine Julie (Oliver Kraushaar und Henrike Johanna Jörissen)
© Birgit Hupfeld

Gegeben wird Franz Molnars Rummelplatzgassenhauer "Liliom". Die Vorstadtlegende, das Märchen, die bunte Unwahrscheinlichkeit oder laut Georg Hensel: "das unverwüstliche Bühnenzuckerl". Darin verliert der Karussellausrufer Liliom Frau, Kind und sein Leben, wenn auch nicht in dieser Reihenfolge. Im Jenseits bekommt er eine zweite Chance, doch auch die vergeigt er ordentlich.

Fadenscheinige Rummelplatzexistenzen

Liliom ist ein tumber Kerl, der seine Frauen schlägt, ohne sie zu verletzen. Wie er das anstellt, bleibt das Geheimnis Molnars, der ihn zu Anfang des 20. Jahrhunderts erfand. In den Frankfurter Kammerspielen verkörpert ihn jetzt Oliver Kraushaar als dumpfäugigen großen Naiven, der nicht weiter denkt als bis zur nächsten Straßenecke. Er ist das Opfer seiner eigenen Beschränktheit, die er mit sturköpfiger Konsequenz verteidigt. Gemeinsam mit Julie bildet er eines der bedrückendsten Paare auf dem Theater. Zwei fadenscheinige Rummelplatzexistenzen, die durch ihr Leben kavalierstarten als drehten sie eine Runde Autoscooter.

In Frankfurt jedoch ist Liliom in erster Linie ein lustiger Kerl und Julie ein Frauenzimmer, wie es im Buche steht. Warum man die beiden hier nun zu Gesicht bekommt? Diese Frage kann Christoph Mehler, mit Beginn der Spielzeit 2011/12 Hausregisseur am Schauspiel Frankfurt,  mit diesem Abend nicht beantworten. Anne Hölzinger hat ihm dafür die Bühne freigeräumt. In der Mitte thronen sehr dekorativ drei Musiker, die Jahrmarktseligkeit verbreiten, aber auch singende Sägen und kirchentagtaugliches Liedgut. Nach etwa einer Stunde intoniert das gesamte Ensemble an der Rampe einen schunkeligen Schmiss-Hit. So gerät "Liliom" in Teilen zu einer verjuxten Revue, was schön dazu passt, dass sich das Stück 1945 als Broadway-Musical "Carousel" verkaufte.

Unter der Tarnkappe der Mundart

Und sonst? Mehler lässt Dialekt sprechen. Jeder, was er kann, und wie er will: sächsisch, bayerisch, wienerisch? In jedem Falle: witzisch. Das ist besonders daneben im Falle von Marie, die an diesem Abend zur reinen Lachnummer verkommt. Mit Diether-Krebs-Kassengestell auf der Stupsnase spielt Henriette Blumenau die Klimbimmel-Ulknudel von der Komödienspätschicht. Das macht sie innerhalb der verdammt engen Grenzen diese Genres gut. Trotzdem gilt für sie wie alle anderen, die sich in ihren Dialekt flüchten wie unter eine Tarnkappe: sie halten sich und uns damit die Figuren vom Leib. Denn was gehen uns Schießbudenwitzfiguren an? Nüscht!

Das wäre überhaupt kein Jammer, wenn man sich dabei wenigstens prima unterhalten fühlte, aber davon kann in weiten Minuten des Abends keine Rede sein. Man hat vielmehr zuweilen seine liebe Mühe, nicht wegzunicken. Das liegt auch daran, dass dem Ganzen der rechte Schwung fehlt und die eine oder andere Idee nicht trägt. Lilioms Messersuizid unter Stroboskoplicht und Heavy-Klänge zu verbannen, ist auch eher die Easy-way-out-Variante. Dabei kommt der Abend insgesamt so disparat daher wie der Soundtrack von Oliver Urbanski, der gekonnt mit allerhand Klischees jongliert. Mehlers Inszenierung findet keinen eigenen Ton, keine besondere Stimmung für das Stück.

Die Poesie treibt er ihm aus, doch aus der Leerstelle, die sich daraus ergibt, kläfft in Frankfurt ein großes Egal.

 

Liliom
von Ferenc Molnár
für die deutsche Bühne bearbeitet von Alfred Polgar
Regie: Christoph Mehler, Bühne und Kostüme: Anne Hölzinger, Musik: Oliver Urbanski, Dramaturgie: Alexandra Althoff.
Mit: Oliver Kraushaar, Henrike Johanna Jörissen,Henriette Blumenau, Heidi Ecks, Isaak Dentler, Thomas Huber und Matthias Scheuring.

www.schauspielfrankfurt.de

 

In unseren prekären Zeiten ist die alte Geschichte von Liliom wieder ein beliebter Stoff. Im März 2010 zeigte Molnárs Landsmann Viktor Bodó in Graz seine Version der Vorstadttragödie. Im Januar 2011 inszenierte Daniela Löffner den Fall in Braunschweig. Im Mai 2008 machte die damals 24-jährige Regisseurin Nora Schlocker am Weimarer Nationaltheater aus der traurigen Geschichte vom Karusellausrufer eine Obdachlosen-Tragödie.

 

Kritikenrundschau

In seiner Doppelbesprechung hat Gerhard Stadelmaier (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.9.2011) zwar Enrico Lübbes "Die Räuber" in trüber Langeweile durchlitten, aber Christoph Mehlers "Liliom" durchschmunzelt, und zwar "in derart unendlicher Heiterkeit, dass einem schier die Grinsemuskeln stehen zu bleiben drohen". Beide Male aber, im Frohen wie im Trüben, habe das Theater sich kastriert. "Es hat sich vor dem gedrückt, was seines Spielamtes wäre: sich mit einer Welt auseinanderzusetzen. Nicht sich vor ihr zu verstecken." Denn bei Mehler bestehe die Welt aus einem roten Vorhang, vor dem ein Flügel, ein Schlagzeug, eine Celesta, ein Keyboard, ein Bass et cetera stehen, bedient von drei bestens gelaunten Musikern. "Die Schauspieler spielen denn auch nicht Welt, sondern Revue, singen, tanzen, treten in Lichtkegel und tragen den Text frontal und lustig und wie mit der linken Schulter leichterdings kabarettelnd so gegen das Publikum vor, als säßen dort lauter Clubgäste, von denen anzunehmen wäre, sie würden jetzt selbst zu Lilioms Selbstmord, der als irre Stroboskopblitz-Zucknummer daherkommt, Konfetti auf die Bühne schmeißen wollen."

Peter Michalzik (Frankfurter Rundschau, 19.9.2011) is not amused, in keiner Hinsicht. Nehme man die Saisoneröffnung als als Gradmesser, zeige sich als Frankfurter Bühnentrend: die Schauspielführerversion. " Es geht nicht um Texttreue, sondern um die Frage, wie wenig vom Stück man aufführen kann. Es gehe auch nicht ums Stück an diesem Abend, "als um Liliom, den Kerl". Und Oliver Kraushaar kann den kraftmeiernden Unterhemdencharme wie kaum einer. "Aber was haben solche Figuren auch im Leben zu behaupten, als ihr bloßes Sosein: Ich bin, so wie ich bin." Sinn scheine dem Regisseur Christoph Mehler nicht abgegangen zu sein. "In den besten Momenten umspielen sich Kraushaar und Jörissen, seine Julie, wie zwei Magnete, die sich anziehen und abstoßen." Aber, Fazit, die Aufführung ist "ein Kleinkammerspiel aus dem kleinbürgerlichen Gefühlshaushalt mit Musikuntermalung. Dem Regisseur Christoph Mehler - ab sofort Hausregisseur in Frankfurt - scheint das gereicht zu haben."


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