Polonaise in klingelnde Spieluhrwelten

von Simone Kaempf

Berlin, 17. April 2013. Zum Schluss steht Peter Pan, der Junge, der nicht erwachsen werden will, alleine hinter dem übergroßen Fensterrahmen, während sich vorne im Haus die Familie mit ihren Kindern zum Gruppenbild vereint. Körper schmiegen sich aneinander, die schwarz umrahmten Augen staunend aufgerissen, Gesichter schaurig-schön verzogen, Münder skurril aufgerissen, so wie es Robert Wilson liebt, immer auf dem schmalen Grat zwischen mechanischen Puppen und Verkörperungen einer verzerrten Welt.

Dass Wendy und ihre Brüder nach dem Abstecher auf die Insel Neverland samt Gefangenschaft bei den Piraten wieder heil bei ihren Eltern gelandet sind, ist eigentlich das Happyend aus James Matthew Barries Erzählung "Peter Pan". In Wilsons Inszenierung am Berliner Ensemble ist es ein todtrauriger Moment: Peter, der sich aus eigentlich hehren Ideen dem Erwachsenwerden verweigert, bleibt außen vor. Ein Einsamer, ein Ausgestoßener, vermag er noch so viele Kinder in seine phantastische Welt zu locken. Weder Mutter noch Vater zu haben, nie Vater zu sein – sich dieser Realität zu entziehen offenbart einen Abgrund. Aber es ist nur ein Moment, bis sich das kurz eingefrorene Bild wieder verschiebt und das letzte Lied gesungen wird: "To die would be an awfully great adventure". Der Tod als wohl größtes Abenteuer – dieses hingeworfene Motiv lässt einen dann doch wieder eher ratlos zurück.

Mit CocoRosie zwischen Musical und Geräuschkunst

Auf Gespaltenheit will Robert Wilsons neuer Abend hinaus: "Ich suche meinen Schatten", mit diesem Ausruf steigt Peter Pan, gespielt von Sabin Tambrea, anfangs durch das große Fenster auf die Bühne, und er kommt gerade recht in diese morbide strenge Welt. Wie fletschende Hunde ziehen drei strenge Gouvernanten die Kinder an Leinen über die Bühne, die Eltern selbst scheinen auch ein Herr-und-Hund-Verhältnis zu pflegen. Chronologisch entlang der Originalgeschichte oszillieren die verschiedenen Bilder, die immer wieder die düstere Seite suchen, aber sich auch in Tanz- und Gesangseinlagen retten.

PeterPan2 560 LucieJansch uZwischen Polonaise und wirkungsmächtigem Bildertheater: Rob Wilson © Lucie Jansch

Kaum eine Szene, die nicht musikalisch oder mit Geräuschen durchgestaltet ist. Hebt Käptn Hook seinen Arm mit dem eisernen Haken, dann schnarrt ein schneller blecherner Trommelwirbel. Erscheint das kohlenaugenglühende Krokodil, dann gibt es Trompetenstöße, und tritt die Fee Tinkerbell auf, dann ertönt das für CocoRosie so typische Spieluhrklingeln, und kurz darauf ziehen die Wilsonschen Figuren dann selbst in typischer Spieldosenzeitlupe wie verselbständigtes Spielzeug von rechts nach links über die Bühne.

Dass sich Robert Wilson mit den beiden Musikerinnen Bianca und Sierra Casady zusammengetan hat, ist schon ein kleiner Coup. Weil CocoRosies Musik eh auch entrückten Welten zu entstammen scheint, mit ganz eigenen Rythmen und Harmonien, Fahrradklingeln, Glockenspielen oder Spieldosen als Instrumenten. Diesen typischen Sound erkennt man in "Peter Pan" sofort, dann und wann ist auch schäbiger Jahrmarktcharme mit in die Musik gemischt, erstaunlich oft klingt es nach Musical. Aber zumindest kann man dann sicher sein, dass der nächste Song wieder in entrücktere Sphären führt.

Kindlich verspielte, abgründige Welt

Es ist ein Abend der ganz großen Zutaten, oppulente Bilder, die Musik, mit der Geste zum großen Unterhaltungstheater, das Licht, Kostüme, Schminke. Auch die Schauspieler agieren unter den Masken als starke Persönlichkeiten. Tinkerbell, von Christopher Nell als Zwitterwesen gespielt, gehört bald zu den Lieblingen des Publikums. Nell gibt der Schattenseite der Neverland-Romantik den eigentümlichsten Ausdruck. Tickt er mit dem Feenstab in die Lüft, ertönt ein elektrischer Stromstoß, der von sadistischem Gelächter begleitet wird. Die Wolke, auf der Wendy gebettet wird, nascht er wie Zuckerwatte weg und offenbart in solchen Details die Mischung aus kindlicher Verspieltheit und abgründiger Welt.

Dann aber folgt eine irritierend schmissige Nummer, mit dem Chor der Indianer, die zur Strophe "Hände in die Luft" genau diese Hände in die Luft werfen und die Wilson'sche Choreographie nah an die Polonaise gerät. Doch schon wechselt die Bühne wieder ihre Farbe und ist das wirkungsmächtige Bildertheater, das in kleinen Szenen tief zu dringen schafft und im Detail mehr als im Gesamtkunstwerk überzeugt. Wenn etwa der Mast, an den Wendy gebunden ist, langsam schwankt und das hölzerne Knarzen wie ein Uhrticken die Lebensgefahr symbolisiert, alles gleißend schön beleuchtet – das ist Robert Wilson at its best.

Peter Pan
von James Matthew Barrie, Deutsch von Erich Kästner
Regie, Bühne, Lichtkonzept: Robert Wilson, Musik: CocoRosie, Kostüme: Jacques Reynaud, Mitarbeit Regie: Ann-Christin Rommen, Mitarbeit Bühne: Serge von Arx, Mitarbeit Kostüme: Yashi Tabassomi, Musikalische Leitung: Stefan Rager, Hans-Jörn Brandenburg, Mitarbeit Musik: Doug Wieselman, Dramaturgie: Jutta Ferbers, Dietmar Böck.
Mit: Antonia Bill, Claudia Burckhardt, Anke Engelsmann, Anna Graenzer, Johanna Griebel, Traute Hoess; Ulrich Brandhoff, Winfried Goos, Boris Jacoby, Andy Klinger, Stefan Kurt, Christopher Nell, Stephan Schäfer, Marko Schmidt, Martin Schneider, Sabin Tambrea, Jörg Thieme, Felix Tittel, Georgios Tsivanoglou, Axel Werner. Musiker: Florian Bergmann, Hans-Jörn Brandenburg, Christian Carvacho, Dieter Fischer, Jihye Han, Andreas Henze, Stefan Rager und Ernesto Villalobos.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.berliner-ensemble.de


Mehr zu Robert Wilson: Zuletzt inszenierte er am Berliner Ensemble Lulu, davor Shakespeares Sonette und Die Dreigroschenoper.

Kritikenrundschau

"Das hätte ein schöner Abend werden können", beginnt Peter Laudenbach seine Kritik in der Süddeutschen Zeitung (19.4.2013). Die Vorfreude auf gut geöltes Wilson-Entertainment verpuffe aber leider schon während der ersten Szenen rückstandsfrei und weiche zunehmend quälenderer Müdigkeit "angesichts einer zäh abgespulten Nummern-Show, die bedauerlicherweise ohne das Tempo, den Glamour und den Schuss überdrehten Irrsinn einer gelungenen Revue auskommen muss". Über weite Strecken sehe das aus wie ein kraftlos leer laufendes Zitat der "Formsprache", mit welcher der Regisseur einst eine eigene, gegen die Zumutungen der Außenwelt zuverlässig abgedichtete Theater-Wirklichkeit geschaffen habe.

"Das alles ist ein Theater der Dekoration" und sei schön anzuschauen, so Hartmut Krug in der Sendung "Kultur heute" beim Deutschlandfunk (19.4.2013). Doch ist der Abend aus Sicht dieses Kritikers auch "schrecklich routiniert" und erreicht deswegen nicht Faszination und Kraft früherer Wilson-Abende - "weil man die leere Künstlichkeit von Wilsons gespreizten Figuren allzu gut kennt und weil viel unmotiviert choreographierte Beweglichkeit auf der Bühne herrscht. So werden die zweieinhalb Stunden des bunten Abends doch recht lang."

"Vielleicht ist es die Geschichte von Peter Pan, die Robert Wilson schon immer inszenieren wollte und die er in allen Stücken, die er stattdessen inszenierte, suchte", mutmaßt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (19.4.2013). "Aber wie das manchmal passieren kann, wenn sich ein langgehegter Wunsch endlich erfüllt – das Resultat ist häufig etwas flau und schal und keineswegs so beglückend wie in der Phantasie." In groben Zügen gehe es durch das turbulent-kuriose Stück. "Es wird gut gesungen und getanzt und – wenn auch ziemlich illustrativ – Theater gespielt, ohne die synthetische Kindlichkeit, die der texanische Regisseur diesmal zelebriert, überwinden zu können." Man sehe den technischen Aufwand, höre die akustischen Raffinessen, seien sie von der Tonspur oder von der Live-Band, bewundere die kollektiven Anstrengungen – "allein es fehlt der Glaube an diese Aufführung, die sich nicht bloß mit Oberflächenglanz begnügt, sondern ihn überdies eher routiniert als leidenschaftlich aufbereitet."

Wilson stelle ein Stück auf die Bühne, das sich nur als original Wilson beschreiben lasse, mit all seinem Slapstick und Surrealismus, seiner Lichtkunst und den typischen schrillen Soundeffekten, ist Rüdiger Schaper im Tagesspiegel (19.4.2013) begeistert. Er reiße die Tür weit auf ins Unbekannte. "Eine Märchenerzählung wird entrollt, so grausam, so dunkel, so unterhaltsam." Der zweieinhalbstündige Abend im BE werde zum bejubelten Triumph, weil die Band im Graben hellwach aufspiele, weil alle hervorragend intonierten. "Robert Wilson hat den Eingang wiedergefunden, nach einigen flauen Versuchen." Er habe seinen Zauber wieder, seinen Witz, die leichte Schwere. "Auch wenn er Altersmilde zeigt."

"Es gäbe einiges wegzuinszenieren, zu problematisieren gar in diesem in Deutschland gern als süßer Disney-Quark abgehandelten Stoff", meint Manuel Brug in der Welt (19.4.2013). Doch das zweite große, weil abgründig viktorianische Weltliteratur-Opus über Kinder, aber eigentlich nicht für diese, gereiche am Berliner Ensemble nur zur regelmäßig wiederkehrenden Unterhaltungssauce der oberflächlichen Art. "Robert Wilson, der schon Lewis Carroll und seiner "Alice im Wunderland' alle Zähne gezogen hatte, verwandelt nun James Matthew Barries "Peter Pan oder Das Märchen vom Jungen, der nicht groß werden wollte" in einen harmlosen Bilderbogen, wo es klappert und klimpert, fiepst und piepst; luxuriös und herrlich anzusehen, aber ohne jede tiefere Bedeutung." Ein trotz nur zwei Stunden Spieldauer irgendwie länglicher Abend, der sich spreize und angesichts des hier betriebenen Aufwands umso mehr kalt und unbeteiligt lasse.

"Die nummernhaft beleuchtete Peter-Pan-Welt im BE reißt nichts auf, sie illustriert Oberflächen und füttert das willige Publikum mit Hochglanzunterhaltung", schreibt Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (19.4.2013). "Dafür ist das Personal des Stücks mit weißen Puppengesichtern geschminkt, deren Züge − wilsonüblich − immer ein bisschen fieser sind als fies und deren Sturmfrisuren ein bisschen schiefer sind als schief und deren Songs ein bisschen klamottiger klingen als klamottig: Kein gewöhnliches Varieté also – Edelvarieté." Das Anbiedernde dominiere diesen 'Peter Pan', obwohl Wilson das Stück mit scharfen Schnitten auf sein Handlungsgerüst skelettiert habe und Pans Fantasieland genauso wie das Darling’sche Bürgerkorsett als zwei Schattenreiche derselben Manie vorstelle: des Sich-gegenseitig-besitzen-wollens.

 

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