Die Form bestimmt kein Bewusstsein

von Hartmut Krug

Leipzig, 5. Oktober 2013. Sechs mächtige, quaderhafte Säulen drehen sich im Halbdunkel, umspielt von Licht und Dunkel. Auf dem Boden malerisch Herbstblätter, Flitter rieselt, in der Luft Wind und Bert Wredes Musik, die immer wieder an diesem Abend den Figuren ihre Emotionen und Haltungen zuweist. Noch bevor das Stück beginnt und ein Wort fällt, streifen ein junger Mann und eine junge Frau zwischen diesen Säulen umher: er mit wuscheligen Haaren, barfuß im blauweiß gestreiften offenen Hemd über Schlabberhosen, sie adrett mit um den Kopf fixiertem Blondhaar im leicht schwingenden bunten Sommerkleid. Dieses erste, hinzuerfundene Bild zeigt den Prinzen und Emilia, sich suchend, kurz findend und dann verschwindend. So erklärt uns Enrico Lübbe gleich seine Sicht auf Lessings Stück und Figuren. Damit ist es das dritte Stück im dreitägigen Auftaktmarathon seiner neuen Intendanz, nach Othello und Grillparzers Des Meeres und der Liebe Wellen, in dem sich Paare verfehlen.

emilia galotti 03 560 rolf arnold uBeeindruckende Optik: Flitter, Licht und Schatten © Rolf Arnold

Lessings "Emilia Galotti" gehört zum Kanon unserer Bühnen, auch wenn nur noch selten genauer begründet wird, was es und seine Figuren uns heute zu sagen haben. Es sei denn, man nimmt sie heraus aus ihrem historischen Korsett. Lessings Tragödie von 1772 um das Bürgermädchen, das gegen den feudalen erotischen Besitzanspruch des Prinzen nur um ihren eigenen Tod zu retten ist, ist in den letzten Jahrzehnten immer wieder neu gelesen worden. Der Prinz ein Machtmensch, der seine Gelüste auslebt, Emilia ein zartes Bürgeropfer, das war die Ausgangslage. Dann wurde nicht nur im Prinzen die Liebe, sondern auch in der am Tage ihrer geplanten Hochzeit (um den Preis des Todes ihres Bräutigams) auf das prinzliche Lustschloss entführten Emilia die Gefährdung durch erwachende Sinne und Sinnlichkeit entdeckt. Seitdem wurden alle möglichen Liebes- und Leidkonstellationen durchinszeniert, wobei der ehrstolze Vater des nunmehr mal wundersam naiven, mal entflammbaren oder gar erotisch selbstbewussten Mädchens, der seine Tochter nur retten kann, indem er sie umbringt, von der tragischen zur traurig-komischen, auf jeden Fall aus ferner Zeit stammenden Figur wurde.

Sauberer Eindeutigkeitswert

Bei Enrico Lübbe kommen die Figuren aus keiner Zeit, sondern aus der Bilderwelt des Theaters. Achtzig Minuten dauert seine Fassung eines Textes, der vier Stunden dauern könnte. Damit ist sie so kurz wie Michael Thalheimers Version (2001, Deutsches Theater), mit der sie auch sonst manches gemeinsam hat. Meinte jedenfalls meine Sitznachbarin in den Beifall hinein. Womit sie nicht ganz unrecht hatte, denn auch Lübbe hat die Figuren und die Geschichte blankgescheuert und die Figuren auf ihre Handlungen reduziert.

Doch wo Thalheimer die Figuren von innen heraus entwickelte, aus ihren widersprüchlichen Haltungen und widerstreitenden Gefühlen, und damit ihren existentiellen Kern freilegte, werden bei Lübbe den Figuren alle Affekte als Effekte von außen angeheftet. Mit Musik, Licht, Ton und viel Atmosphäre. Damit bekommen sie einen sauberen Eindeutigkeitswert, auch wenn im Programmheft das Gegenteil behauptet wird. Und: Der Schauwert dieser Aufführung ist durchaus groß, auch wenn der Erkenntniswert eher klein bleibt.

Vorstellen als Ausstellen

Wir erleben ein sehr schön designtes Vorführtheater. Meist stehen die Darsteller an der Rampe und stellen ihre Figuren erst vor und dann aus. So schwärmt der Prinz zu Beginn vom Auge Emilias wie ein verliebter Pennäler (Ulrich Brandhoff gibt den Liebenden wie ein Theaterzitat) hinein ins Publikum statt zu Marinelli. Der Maler Conti: gestrichen. Der Rat Conti: gestrichen. Dessen Part übernimmt Marinelli (Michael Pempelforth als schleimiger Anzugträger), wenn er zur Unterschrift unter ein Todesurteil auffordert. Doch dem "recht gern" des Prinzen folgt nichts weiter, denn dieser scheint so genug charakterisiert.

emilia galotti 05 280 hoch rolf arnold uDer Prinz (Ulrich Brandhoff) und Emilia (Anna Keil)
© Rolf Arnold
Das Vorstellen der Figuren als ein Ausstellen bestimmt die Inszenierung. Da tanzt der Vater mit an den Körper gepressten, aber beweglichen Armen vor Begeisterung ob der (Aufstiegs-)Hochzeit seiner Tochter, und wenn die verstoßene Orsina (enorm intensiv und konzentriert: Bettina Schmidt) ihren anklagenden Erkenntnismonolog hält, steht sie wie eingefasst in sich selbst vor dem Publikum. In Lübbes Inszenierung erhalten die Schauspieler ihr Darstellungsrecht zugewiesen, und sie nutzen es. Es ist ein ansehnliches Ensemble, dem man durchaus immer wieder gern zuschaut. Nicht, weil man etwas über Menschen erfährt, aber viel über Theater-Theater. Es gibt auch manche Regieeinfälle: Bei der Auseinandersetzung zwischen Marinelli und dem Bräutigam Appiani zwingt dieser den sich anfangs heftig wehrenden Marinelli lange in eine Kussumklammerung, bis Marinelli das Begehren heftig erotisch erwidert, worauf Appiani ihn zu Boden stößt und ausspuckt… Nun ja.

Wohlfühltheater des Irgendwie

Anna Keils Emilia ist vor allem sehnend verwirrt und als Zentrum fast eine schöne Leerstelle. Kaum steht der Prinz hinter ihr, streckt sie die Hand in die Luft zu ihm hin, ist angerührt, scheint zu begehren. Dieser Emilia passiert etwas, aber mit ihr passiert nichts. Sie ist und bleibt einfach eine Spielfigur. Ihr ängstliches "Auch meine Sinne sind Sinne" habe ich weder gehört noch gesehen. Und was uns diese Figur heute erzählen kann, bleibt offen. Dass sie sich in der schlussendlichen Wiederholung der Eingangsszene, jetzt belebt von heftigem erotischen Gerangel, erschießt, erschließt sich nicht aus der Entwicklung einer Figur.

Es ist ein merkwürdiger, vom Publikum deutlich gern angenommener Abend. Der Kritiker hat es nicht leicht, denn Licht, Ton, Bilder, Schauspieler sind mehr als ansehnlich. Doch alles ist allzu äußerlich schick. Was mir die Geschichte und ihre Figuren heute bedeuten sollen, bleibt im Irgendwie. Auf der Bühne löst sich alles auf, wird alles klar, aber warum und wohin, bleibt offen. Es ist eben Vorführtheater, bei dem sich ein Stadttheaterpublikum durchaus wohlfühlen kann. Weil es überhaupt nicht gefordert wird.

 

Emilia Galotti
von Gotthold Ephraim Lessing
Regie: Enrico Lübbe, Bühne: Hugo Gretler, Kostüme: Michaela Barth, Musik: Bert Wrede, Dramaturgie: Torsten Buß, Christin Ihle, Licht: Carsten Rüger, Ton: Alexander Nemitz.
Mit: Anna Keil, Denis Petkovic, Henriette Cejpek, Ulrich Brandhoff, Michael Pempelforth, Jonas Fürstenau, Bettina Schmidt, Maximilian Pekrul, Jonas Steglich.
Dauer: eine Stunde, zwanzig Minuten, keine Pause

www.schauspiel-leipzig.de

 

Hier die Nachtkritik zu Enrico Lübbes Leipziger Eröffnungs-Marathon mit Monster Trucks "Who's there", Dieter Boyers UA von Kathrin Rögglas "Lärmkrieg" und Christoph Mehlers "Othello". Und hier die Nachtkritik zum zweiten Eröffnungsabend mit der Uraufführung von Wolfram Hölls "Und dann" und Franz Grillparzers "Des Meeres und der Liebe Wellen".

Kritikenrundschau

"Theater. Es ist zurück im Schauspiel Leipzig, wie Enrico Lübbe auch in seiner famosen Inszenierung von Gotthold Ephraim Lessings 'Emilia Galotti' bewies", schwingt Irene Bazinger sich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (7.10.2013) zu einer Hymne auf. "Sechs mächtige Säulen auf der leeren Drehbühne sowie raffinierte Lichtregie ließen die Figuren schmächtig und wie Getriebene erscheinen." Nicht nur Verführung sei hier die wahre Gewalt, sondern vor allem die höfische Elite, verkörpert durch den Prinzen von Guastalla. "Obwohl ihn Ulrich Brandhoff wie einen ewigen Waldorfschüler barfuß in Hippiekleidern daherschlenzte, brach er mit Michael Pempelforth als schneidigem Marinelli dem von Denis Petkovic gespielten Vater Emilias nach allen Regeln des Amtsmissbrauchs und der Rechtsbeugung das Rückgrat." Die "gekonnt verdichtete Aufführung" ende "in verzweifelter Dunkelheit".

"Dies war ein Abend ohne schauspielerische Höhepunkte, der einen aber fast nostalgisch berührt, wie feines altes Stadttheater", schreibt Helmut Schödel in der Süddeutschen Zeitung (7.10.2013) über des Intendanten Einstand als Regisseur.

Und Stefan Petraschewsky meint im MDR: "Enrico Lübbe beherrscht seine Theatermittel. Allerdings ist sein effektvolles Theater auch ein effektheischendes Theater. Ein – böse gesagt – Designertheater." Bei dem das Miteinander, das Interagieren auf der Strecke bleibe.

"Motive, Pflichten, Gefühle – sie überlagern und widersprechen sich in den Figuren", schreibt Dimo Riess in der Leipziger Volkszeitung (7.10.2013). Eine Komplexität, die die kompakte Inszenierung kaum ausarbeite. Selten, dass sie von der Linie der Reduktion abweiche, dem Text einen Gedanken hinzufüge. "Dennoch geht ein ansprechender, atmosphärisch dichter Theaterabend über die Bühne." Insgesamt überzeugten die Darsteller, steche vor allem
Bettina Schmidt als verschmähte Gräfin Orsina mit einem "auch sprachlich fokussierten" Auftritt heraus.

Lübbe biete auf der großen Bühne eine intensiv-spannungsvolle Aufführung, so Ute Grundmann in der Sächsischen Zeitung (7.10.2013). Hugo Gretlers Bühnenbild sei eindrucksvoll, "auf der Drehbühne grauschwarze Pfeiler, die sich mal wie Bäume im Wald drehen, in denen der Prinz sehnsüchtig herumläuft", wie Pfeiler der Macht stünden sie im Raum, "und um die geht es in diesem Spiel, das schnörkellos und präzise auf nur ein Ziel gerichtet ist: Emilia von ihrem Bräutigam zu 'befreien' und sie zu verführen".

Reinhard Wengierek schreibt auf Welt Online (7.10.2013) zu "Othello", "Des Meeres und der Liebe Welllen" sowie zu "Emilia Galotti" resümierend und zusammenraffend: Dreimal die "Himmelsmacht Liebe, zerbrochen von den Verhältnissen, den Mitmenschen". Dreimal "Psycho- und Politthriller in einem", dreimal "Schauspielerfutter satt". Drei "aufstrebende, hoch begabte Regisseure", aber "noch keine große Leistung". Dreimal "rabenschwarze Bühne", meist "statisch agierenden Spieler" unter "gleißenden Lichtkegeln in der Black-Box" mit "stark gestrafftem Text". Dreimal überwiegend "Rumsteh-Rede-Antwort-Theater", das "Defizite an schauspielerischer und sprachlicher Intensität" auch noch ausstelle. Dreimal "minimalistisches Abstraktionstheater", comichaft reduziert aufs Nachbuchstabieren des Plots. Alles "allgemeinverständlich, aber wirkungsschwach". Wohl aus "lauter Angst", dem zuletzt "ziemlich beschädigten Publikum" etwas anzutun und als "wilder Aufbrecher" dazustehen, habe man sich "so mutlos wie fantasiearm und rückgratlos" durch die Texte gelabert.

Torben Ibs schreibt in der tageszeitung (8.10.2013), Enrico Lübbes "Emilia Galotti" entpuppe sich als "uninspiriertes Steh- und Sprechtheater". Zumeist stünden die Schauspieler an der Rampe und sprächen den Text "frontal nach vorne, um hin und wieder in ekstatischen Gefühlsausbrüchen zu enden". Nach 90 Minuten sei "der Spuk vorbei und die Frage im Raum: Warum das alles?"

 

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