Stahl auf Stahl

von Falk Schreiber

Hamburg, 22. März 2014. Ein Konzert. Neun Notenständer sind an der Rampe im Hamburger Thalia Theater aufgestellt, Bierkisten als Sitzgelegenheiten. Im Hintergrund ein Gebilde, das sich im Laufe des Abends als riesiges stählernes Schlagwerk entpuppen wird. Ein Trompetensignal hebt an. Das Ensemble betritt die Bühne, gekleidet in neutrales Schwarz, stellt sich in Position, lässt seine Instrumente erklingen: seine Stimmen. Es ist ein Textkonzert, die Partitur ist Sprache.

Im Westen nichts Neues

Luk Percevals Koproduktion zwischen Thalia Theater Hamburg und dem NTGent "FRONT" ist eine Collage aus Erich Maria Remarques "Im Westen nichts Neues", Henri Barbusses "Das Feuer" und Zeitdokumenten aus dem Ersten Weltkrieg. Sowohl Barbusse als auch Remarque beschreiben in ihren Romanen den Kriegsalltag 1914 an der Westfront und folgen dabei keiner Spannungsdramaturgie, sondern reihen Episoden aneinander. Dass Barbusse 1920 aus der Sicht eines französischen Soldaten schrieb und Remarque 1929 die Perspektive eines Deutschen wählte, ist dabei eher zweitrangig: Unter dem Krieg leiden beide Seiten – einem Krieg, dessen Sinn sie nicht verstehen und dessen Struktur sie nicht durchschauen.

front5 560 armin smailovic h© Armin Smailovic

Auf der Thalia-Bühne steht ein internationales Ensemble, die Texte sind Deutsch, Niederländisch, Französisch und Englisch – ein Sprachgewirr, das die Verwirrungen des Krieges verdeutlicht und dem Abend zugleich einen fragmentarischen Charakter verleiht. "FRONT" bietet eher Klangerlebnis, als dass eine Handlung vorangetrieben würde: Der Text ist eine Mischung aus tagebuchartigen Romanpassagen, Feldpost und assoziativen Gedankengängen, viel wird über die Rampe gesprochen, wenig agiert. Einzig Katelijne Verbeke darf als Mutter, deren Kinder nach und nach vom Schlachtfeld genommen werden, ein langsames Wahnsinnigwerden spielen.

"Allez!" Endlich Kampf

Die übrigen Darsteller – darunter Schwergewichte wie Bernd Grawert und Burghart Klaußner – üben sich hingegen in effektvollem Minimalismus und reihen monologisch Episode an Episode. Man hört vom Ekel im Schützengraben, von der kalten Bürokratie der Todesmeldungen, von Schmerzensschreien im Lazarett, und unmerklich baut sich im Hintergrund eine Geräuschkulisse auf, grollt der Donner im Bühnenbild. Bis ein befreiender Schrei ertönt: "Allez!" Endlich Kampf.

Wo sich die Inszenierung szenisch zurücknimmt, setzt sie auf die musikalische Ebene. Was die Schauspieler darstellerisch nicht zeigen können, legen sie in ihre Stimmen, bis man in den verschiedenen Idiomen eine Sprachmelodie zu hören glaubt. Einen Gesang, der grundiert wird durch den an- und abschwellenden Sound an Annette Kurz' Bühnenrückwand, deren Stahlplattenkonstruktion von Ferdinand Försch ausdauernd bearbeitet wird, mal knallend, mal schabend, einmal als ohrenbetäubendes Kreischen, Stahl auf Stahl. Das allerdings ist für dieses spröde Stück fast schon zuviel Effekt, schnell kehrt die Performance zurück zum Stolpern, zum Kriechen, zum unpathetischen Sterben.

Oberhalb der Fronten

Perceval macht viel richtig mit dieser musikalisch-textlichen Installation. Er umschifft die im Antikriegsgenre lauernden Klippen der indirekten Heroisierung, indem er seine Figuren mit respektvoller Distanz führt. Selbst den eigentümlichen Themenstrang um eine Krankenschwester (Oana Solomon), der auf eine Art libidinöses Verhältnis zum Krieg hinweist, lässt er nicht ausspielen, sondern deutet nur an, dass es da etwas gibt, das sich nicht so einfach begreifen lässt.

Nur die Entscheidung, das Stück mit Belgiern und Deutschen zu besetzen und so die Schützengräben von 1914 in einer gewissen Authentizitätsverwirrung zu doppeln, ist nicht ganz glücklich, weil sie den Unterschied zwischen Angreifern und Angegriffenen ignoriert. Die Inszenierung ebnet hier historische Differenzierungen ein zu Gunsten einer Art allgemeinmenschlicher Leidensorchestrierung, das kann man ihr vorwerfen – aber vielleicht darf solch eine Entscheidung tatsächlich ein Regisseur treffen, der in Flandern geboren ist, seit Jahren aber hauptsächlich in Deutschland arbeitet? Ein Regisseur, dessen Biografie ebenso Grenzen überwindet wie diese Inszenierung?

Die Vielsprachigkeit jedenfalls bietet sich an, im Gedenkjahr 2014 einen parteienübergreifenden Eindruck vom Weltkrieg zu geben. Das auch mit Bundesmitteln geförderte "FRONT" wird durch Europa ziehen, unter anderem nach Brüssel, Belgrad und Sarajewo. Perceval bietet keinen Kommentar, er baut Stimmungen auf, Langeweile, Angst, Abstumpfung. "Wer hier nicht den Verstand verliert, muss zumindest das Gefühl verlieren", heißt es an einer Stelle. Im Schlussbild stehen sich Steven van Watermeulen und Bernd Grawert gegenüber und sprechen jeder für sich einen Monolog, zweisprachig, zu verstehen ist nichts. Langsam geht Katelijne Verbeke von Notenständer zu Notenständer und löscht nach und nach die Lichter, und dann, in der Dunkelheit, erklingt nurmehr eine Frage, ein Verlustschrei ohne Antwort: "Marie?"


FRONT
nach "Im Westen nichts Neues" von Erich Maria Remarque, "Le Feu" ("Das Feuer") von Henri Barbusse und Zeitdokumenten
Regie: Luk Perceval, Live-Musik: Ferdinand Försch, Bühne: Annette Kurz, Kostüme: Ilse Vandenbussche, Musik: Ferdinand Försch, Video: Philip Bußmann, Licht: Mark Van Denesse, Dramaturgie: Christina Bellingen, Steven Heene.
Mit: Patrick Bartsch, Bernd Grawert, Burghart Klaußner, Benjamin-Lew Klon, Oscar van Rompay, Peter Seynaeve, Steffen Siegmund, Oana Solomon, Katelijne Verbeke, Steven van Watermeulen, Gilles Welinski.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.thalia-theater.de

 

Kritikenrundschau

Auf Spiegel online (24.3.2014) nennt Anke Dürr die Textvorlage des Abends einen "dramaturgisch gut gemachten Zusammenschnitt". Perceval habe sichtbar viel Aufwand getrieben, um den Texten adäquate Bilder und Klänge zu finden. Am stärksten sei der Abend aber da, wo er sich ganz auf den Text konzentriere. Allerdings seien dann auch wieder nicht alle Textpassagen so stark – die beiden Frauenrollen etwa wirkten "wie nebenbei konzipiert". Katelijne Verbeke als flämische Bauersfrau bleibe in der Trauer um ihre Kinder auf das immer schriller zeternde Klageweib reduziert; "Oana Salomon als englische Krankenschwester muss viel Verständnis für ihren Geliebten zeigen, der sofort zurück ins Gefecht will, nachdem sie ihn gesund gepflegt hat – und darf dann nur noch verkünden, dass sie schwanger ist."

"Der Abend ist ein Erlebnis aus Stimmen und Klängen, kein Handlungsablauf definiert ihn", schreibt Armgard Seegers im Hamburger Abendblatt (24.3.2014). Und trotzdem fühle man sich mitgenommen ins Kriegsgeschehen, ins allgemein menschliche Leiden. Perceval und sein multinationales Ensemble realisierten Stimmung und Atmosphäre von Einsamkeit und Verzweiflung, Bürokratie und Ausgeliefertsein. "Sie zeigen den Menschen als ein von mechanischen Gewalten getriebenes Etwas." Nüchtern und klar begegne die Inszenierung den bewegenden Zeitzeugnissen. "Merkwürdig, wie so ein düsterer, unheimlicher Abend zur Erhellung beitragen kann."

Im Zusammenklang von Sprachgewalt, apokalyptischen Geräuschen, die an den Metall-Sound der „Einstürzende Neubauten“ erinnern, und Bildprojektion gelängen "sicher eindrucksvolle Höhepunkte", schreibt Harald Gillen in der Nordsee-Zeitung (24.3.2014). Auf die Dauer der pausenlosen, zweistündigen Spielzeit freilich wirke die abstrahierende Gestaltung "eher wie eine abgehobene Fernsicht auf die in den Romanen gemachten erschütternd konkreten Erfahrungen".

"Eine nachtschwarze, lautstarke Totenmesse" hat Christine Dössel für die Süddeutsche Zeitung (24.3.2014) gesehen. Als Erzählung bleibe das Ganze bruchstückhaft, "ohne narrative Großrahmung". Als "Frontaltheater" sei es eine "Schmerzattacke auf unseren Humanismus". "Es ist aber auch ein manchmal fast ein wenig zu 'heilig' geratenes Requiem, ein Memento Mori von betörender Klanggewalt."

"Nichts wird hier wirklich gezeigt", sagt Michael Laages im Deutschlandfunk (23.3.2014). Sehr oft bleibe unklar, wer gerade spricht. "ES spricht; besser: ER. Der Krieg." Aber gerade weil sie sich so gründlich allem vordergründigen Spiel verweigere, könne Luk Percevals Inszenierung "überall zum Fanal von und für heute werden". Und so sei dies auch ohne alles "Theater" ein großer, bewegender Abend. "Er kann auch zutiefst traurig stimmen – angesichts der Beiläufigkeit, mit der gerade im Augenblick allüberall wieder nach dem Krieg gefragt wird; und manchmal ganz so, als wäre er nur ein weiteres Mittel der Politik."

"Front" zeige, was der Krieg mit denen macht, die in vorderster Front kämpfen, so Simone Kaempf in der tageszeitung (25.3.2014). Der Abend schieße aber "in seinem Mitteleinsatz weit über das Ziel hinaus". Er gerate "zum Kraftakt in düsterer Mollstimmung, die auf halber Strecke ins Monotone kippt. Man nimmt dem Abend die ernst gemeinte Trauer über das Leid ab, aber weniger Überwältigungsfuror wäre mehr gewesen."

"Front" vermeide die Peinlichkeit der fröhlichen Kriegsdarstellung in aller Ehrfurcht, so Peter Kümmel in der Zeit (27.3.2014). "Perceval will nicht darstellen, wie Soldaten von Kugeln getroffen werden; ihm geht es um den Moment, da die Kugel sich durch die Luft bewegt und die Menschen auf ihren Einschlag warten". Ein Impuls sei dem Abend anzumerken: zu unterrichten über die Verlorenen, den "unbekannten Soldaten" erstehen zu lassen. Auf die Moral des Abend können sich alle Völker verständigen können, "bei denen das Stück demnächst zu Gast sein wird, und das ist ein Problem des Abends: Man spürt so sehr den frommen Wunsch, der aus ihm spricht. Man will auch ästhetisch keine Fehler machen."

 

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