Hurra, wir lieben noch

von Reinhard Kriechbaum

Salzburg, 17. August 2014. Laut Mozart/Da Ponte waren es allein in Spanien eintausendunddrei Frauen. In Inflationszeiten muss es sparsamer hergehen: Bei Ödön von Horváth sind fünfundzwanzig Frauen hinter jenem Don Juan her, der dem Ersten Weltkrieg entronnen ist. Andreas Kriegenburg, der Ödön von Horváths "Don Juan kommt aus dem Krieg" auf der Halleiner Pernerinsel inszeniert hat – seine erste Regiearbeit für die Salzburger Festspiele – schickt deren neun ins Rennen.

Aber auch, wenn man die Damen an den Fingern beider Hände abzählen kann, ist das zu viel für einen, der geläutert daher kommt, als Suchender. Als Suchender speziell nach der Einen, die keinen seiner Briefe aus dem Feld beantwortet hat. Bei ihr fühlt er sich tief in Schuld. Dass sie längst gestorben ist, wissen wir, das Publikum, nicht aber der Titel-Antiheld, der querfeldein getrieben wird von all denen, die noch amouröse Rechnungen mit ihm offen haben. Und von all den Gegenwarts-Hungrigen, die sich Zukunft erwarten von und mit Don Juan.

Im Feld, da ist der Mann noch was wert

Wie die Lemuren tauchen sie auf, krempeln sie den Vorhang ein Stück hoch, der ihnen dann in etwa so in die Hände fällt wie dieser fast bockig da stehende Don Juan (da trägt er sogar noch Helm und Gasmaske). Ein Kriegslied haben die Frauen auf den Lippen. "Im Feld, da ist der Mann noch was wert" oder "Der Soldat allein ist der freie Mann" heißt es da. Sie glauben sehr genau zu wissen, aus welchem Holz ein Mann geschnitzt sein soll. Auch wenn ihnen dieser da, den auf der Pernerinsel Max Simonischek spielt, eher in der sägerauen, ungefassten Variante entgegen kommt.

donjuan 560 monika rittershaus uSägerau unter Feldpostkarten: Max Simonischek als Don Juan mit Olivia Grigolli als
einer von neun Frauen © Monika Rittershaus

Andreas Kriegenburg lässt die Spielfläche total offen. Das Bühnenbild hängt am Plafond: Es sind tausende an Schnüren aufgefädelte Feldpostkarten. Ziemlich am Beginn klettern die Frauen auf Stehleitern, um diesen und jenen Satz-Fetzen zu erheischen. Dieser Theatermann ist bekanntlich nicht verlegen um suggestive Bildlösungen (manchmal am Rande zur Plattheit). Wie fern die echten Männer sind, wird sofort sonnenklar, auch wenn es beständig schneit aus den großen Walzen, die offen über der Szene sich drehen wie bedrohliche Maschinenwerke.

Liebestollen Lemuren

Aber da ist ja das Mannsbild. Es steht für das Manns-Bild, das sich die Frauen von einem Mann machen. Die schwarzen Kleider werden sie sogleich ablegen, zugunsten jener raffinierten Kostümkreationen, die sich Andrea Schraad ausgedacht hat. Kleider und Kleidchen, die schnell gelüftet sind. Aber die Gesichter dieser liebestollen Lemuren bleiben (zu) weiß, die Lippen (zu) rot geschminkt. In Ernst Tollers "Hinkemann" haben wir bei diesen Festspielen ja schon einen quasi untoten Heimkehrer erlebt. Mit Toller könnte die Ödön von Horváth'sche Damenwelt kollektiv ausrufen: "Hurra, wir leben noch", oder umgemünzt: "Hurra, wir lieben noch"! Aber eben ausgehungert, mit hoffnungslos deformierten Lebensperspektiven.

Wenn diese Frauen – im Programmheft firmieren sie wirklich nur als "und die Frauen" – sich also ins neue Leben stürzen, ist das eine mehr als bizarre Angelegenheit. Genau da setzt Kriegenburg an, das führt er vor in einer Bilderrevue, die sich leicht einkochen lässt aus den buntscheckigen Szenengirlanden der Vorlage. In einem Raum, der keine Wände und Türen kennt, sind immer alle da, können beobachten, sich einmengen. Da herrscht Dauer-Turbulenz, weil die Szenen tollkühn verschnitten sind.

Stimmliche Kammermusik und Karikatur

Kriegenburg setzt ganz entscheidend auf die Musik – auf jene der Sprache wie auch aufs Sound-Design (Wolfram Schild, Martin Sraier-Krügermann), das sich nachdrücklich einprägt. Was für vokale Zirkusnummern verlangt Kriegenburg von den neun Darstellerinnen, von der Mickeymousestimme bis zum orgelnden Alt die gesamte Skala. Da werden Dialogteile in rasender Folge wiederholt, Wörter bleiben bei gewissen Konsonanten stecken. Stimmliche Kammermusik steigert sich gelegentlich zum grellen Getöse. Dazwischen bizarre Szenen, etwa ein Opern-Karaoke.

Der starken, grellen, karikaturhaft überdrehten Bildwelt steht eine mindestens so turbulente Hörwelt gegenüber. Viele Sentenzen kommen marktschreierisch daher, aber dazwischen weiß Andreas Kriegenburg, Theaterpraktiker wie wenige, auch in Sekunden zu beruhigen. Dann stehen da plötzlich Menschen, die das Mensch-Sein irgendwie verlernt haben – oder (wie es Don Juan einmal formuliert) "nicht dran erinnert" werden wollen.

donjuan3 560 monika rittershaus uMatratzentest: Don Juan (Max Simonischek) mit liebestoller Lemuren-Frau (Elisa Plüss)
© Monika Rittershaus

Bravourös schlagen sich "die Frauen", die ja nicht nur schauspielern, sondern auch ihre eigenen Requisiteurinnen sein müssen. Von einer Rampe hinter der Spielfläche werfen sie einander Requisiten und Gewänder zu. Markante Szenen – viele. Aber das Lob muss dem Team als Ganzem gelten: Sonja Beißwenger, Olivia Grigolli, Sabine Haupt, Traute Hoess, Elisa Plüss, Nele Rosetz, Janina Sachau, Natali Seelig, Michaela Steiger. Jede Einzelne für die jeweilige(n) Rolle(n) wunderbar gecastet.

Uncharmant und unbeholfen: Don Juan

Und Don Juan? Völlige Nebenfigur, betont Andreas Kriegenburg im Programmheft-Interview. Unbeholfen steht er da, uncharmant gibt er sich. Max Simonischek hat da durchaus seine Probleme, sich zurückzunehmen. Einmal redet es sich so richtig in Rage, wenn es darum geht, dass Krieg ein Produkt der Lüge ist. Da geht man weit über Ödön von Horváth hinaus.

Hoffnungslos in der Kälte bleibt Don Juan bekanntermaßen zurück. Kriegenburg setzt da noch eins drauf, jede der Frauen hat ihren finalen Auftritt und schmeißt ihm noch weißes Pulver um die Ohren, und dann zerren sie noch Eisblöcke auf die Bühne, um dem Idol wohl ein recht eisiges Grab zu bereiten, in dem er sich doch wohlig warm fühlt. Letztes optisches Spektakel einer bild- und tonmächtigen Aufführung, die hinter all der Betriebsamkeit dann freilich eine fokussiertere Interpretation vermissen lässt. Um die stiehlt sich Andreas Kriegenburg herum – aber damit ist er vielleicht der literarischen Vorlage so fern nicht: Auch Ödön von Horváth zeigt uns ja Leute. Die quasi sich selbst verloren haben im Krieg.


Don Juan kommt aus dem Krieg
von Ödön von Horváth
Regie: Andreas Kriegenburg, Kostüme: Andrea Schraad, Licht: Stefan Bolliger, Sounddesign: Wolfram Schild, Martin Sraier-Krügermann.
Mit: Sonja Beißwenger, Olivia Grigolli, Sabine Haupt, Traute Hoess, Elisa Plüss, Nele Rosetz, Janina Sachau, Natali Seelig, Michaela Steiger, Max Simonischek.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.salzburgerfestspiele.at

 

Ödön von Horváths Don Juan kommt aus dem Krieg sah nachtkritik.de zuletzt im Oktober 2013 am Berliner Ensemble, inszeniert von Luc Bondy.

Kritikenrundschau

Wenig hat Hartmut Krug in dieser Inszenierung vom Kriegsheimkehrer Don Juan erfahren, wie er in der Sendung "Kultur heute" beim Deutschlandradio (18.8.2014) zu Protokoll gibt. Was szenisch im Einzelfall noch unterhaltsam sein könnte, "verdrängt leider insgesamt jeden deutlichen Versuch einer Antwort auf die Frage, was der Kriegsheimkehrer wirklich versucht, um wieder irgendwo anzukommen." Auch die ausgestellte Fülle "von oft inhaltlich überflüssigen kabarettistischen Effekten" ermüden den Kritiker. Selbst das vielstimmige Vorlesen aus Soldatenbriefen vereint sich für ihn lediglich "zu einem unverständlichen Chor der Wörter".

Hedwig Kainberger schreibt auf dem Internet-Portal der Salzburger Nachrichten (19.08.2014): Für die "verheerende Seelenleere" finde Kriegenburg "eine mächtige, ungeheuer detailreiche Bildsprache", Kainberger feiert sein "stupendes Können, einen Text in eine Komposition aus Szene, Rhythmus, Bild und Raum zu übersetzen". Die "Scheidung von Frauenwelt und Männerwelt sowie die deshalb für Frauen nötige - oft nicht ersehnte – Emanzipation" bildeten die Basis für Horváths Geschichte und Andreas Kriegenburgs Inszenierung. Doch auch Kriegenburg erzeuge mit diesem schwierigen Stück "keinen Erzählsog", aber "seine intelligente, oft ins Groteske kippende Form verscheucht alles Sentimentale".

Barbara Petsch schreibt in der Wiener Presse (19.8.2014): Deutlich zu bemerken gewesen sei in Salzburg, dass der "Kulturkampf", wie "realistisch man Horváth inszenieren soll", andauere. Begeisterter Applaus und Buhs bei der Premiere, anschließend lebhafte Diskussionen. Kiegenburg zeige: "Nach dem Krieg ist vor dem Krieg, die Hyäne Mensch ist durch das Grauen nicht besser geworden". Das sei zwar deprimierend und "brachial unsentimental", decke sich aber mit Horváths Ansicht." Das Asoziale werde "sehr kühl und künstlich, aber auch sprachlich virtuos und hoch musikalisch vorgeführt". Angesichts des Grauens von Kriegsschauplätzen in aller Welt wirke "diese Kreation manieriert, dekadent und selbstbezogen auf den elfenbeinernen Turm Theater". Als ein Stück Bühnenkunst über "Lebenslügen und die Täuschungen der Geschlechter untereinander betrachtet, wirkt sie aber saftig, originell, interessant und wohlkomponiert".

Margarethe Affenzeller schreibt im Wiener Standard (19.8. 2014): Kriegenburg erzähle die Geschichte "als mechanisches Schauermärchen". Das "puppenhaft steife Agieren" der Figuren sei aber "eine Crux", weil es das Geschehen zunehmend weiter weg rücke. Es gelinge nicht, "das Menschliche hinter der Schreckstarre spürbar zu machen". Kriegenburg ziele auf das Bild "einer Gesellschaft im Zustand ihrer Leblosigkeit", kein schlechter Schlüssel, um Horváths "schwierig zu verbildlichendes Drama zu knacken". Doch die Mechanik bleibe "leeres Tun, das nicht glaubwürdig ineinandergreift". Einzelnes "steckt hier voller Poesie", doch zu einer Gesamtheit finde der Abend nicht.

Martin Lhotzky schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (19.8.2014): Den Regisseur scheine, "hoffentlich nicht nur ob seines Namens" [hohoho - jnm], besonders "der Kriegsaspekt" an dem Drama "angesprochen zu haben. Er mache daraus ein "Puppentheater" mit "Kasperlauftritte, die noch nicht einmal zum Grand Guignol" taugten. Die neun Damen müssten in "gestelztem Ton den Text und tiefsinnige Ergänzungen wie: „Alle lügen!" aufsagen, albern kichern oder Worte und Sätze dermaßen falsch betonen, dass ein Kalauereffekt entsteht." Schlimmer noch, die Darstellerinnen bewegten sich "teils wie Marionetten". Simonischek sei ein "fescher Kampl" und tatsächlich, "irgendwie passend", eine "bloße Projektionsfläche". "Zwei ziemlich vergeudete Stunden".

Christine Dössel findet es in der Süddeutschen Zeitung (19. August 2014) sehr "befremdlich", wie "abgewrackt" der verruchte Don Juan bei Max Simonischek daherkomme: "als seelischer und stimmlicher Schlaffi" ohne Charisma. Simonischek spiele seine Attraktivität "seltsam weg" und verflüchtige sich manchmal schier in der Rolle. Man könne darüber nachdenken, was die "expressionistisch überzeichnete Weiberschar", die sich wie "dumme Hühner" aufführe, an diesem Kerl fänden, man könne es aber, auch bleiben lassen und sich der Hörspektakel-, Bilder- und Schaulust hingeben, die diese Inszenierung so schauermärchenromantisch bis an die Kitschgrenze" bediene. Das sei "alles hochartifiziell, um nicht zu sagen: artifiziös". Unterschätze aber das "Grauen des Krieges", und das, "was der Krieg mit den Geschlechtern und den Herzen anrichtet".

Karin Cerny schreibt in der Welt (19.8.2014), das Stück sei als Passionsweg zu lesen, von einem der aus dem Krieg heimkommt und den Tod in sich trägt. Um ihn herum tobe ein Frauenensemble, das bei Horváth "irritierend sprunghaft" gezeichnet sei. Zwischen Emanzipation und Unterwerfungsdrang liege nur ein Augenzwinkern. Kriegenburg lasse die Frauen "ihre Röckchen lüften und permanent singen". Das sei "putzig anzuschauen", eine "Tragödie aus dem Geist der Puppenkiste". Zwei Stunden "aufgekratztes Spektakel", ohne Entwicklung, zudem mit einem Frauenbild voll Klischees. Kriegenburgs "eigenwillige Poesie, die gern auf Künstlichkeit setzt", gehe indes nicht auf. Es bleibe wie "nicht ganz jugendfreies Kindertheater".

Dirk Pilz in der Neuen Zürcher Zeitung (19. August 2014) schreibt: Bei Kriegenburg wirke alles so, als sei das Gestern [der Krieg, die Weltgeschichte] zu einem "einzigen schreckensgrossen Bild zusammengeschmolzen". Horváths Don Juan ist hier kein Verführer, er ist ein Verwickelter. Die Frauen seien Halbtote, Gespenster, ihre Worte wirkten wie ausgeborgt, zusammengeschraubt aus Werten und Weltanschauungen. Am Ende holen sie "Eisblöcke auf die Bühne, setzen sich Schutzbrillen auf und hacken auf das Eis ein, als wollten sie den Mann und die Geschichte gleichermassen aufknacken. Aber sie finden nichts." Alles schön gedacht und schön ausstaffiert, das füge sich mit Musik und Gesang zu "einem betörenden Bildertheaterrausch. Aber wozu?" Eine "grosse, aufwendige Kunstwillensanstrengung, durchaus beeindruckend, prickelnd, von salonfähiger Schwermut durchsetzt." Früher hätte man gesagt: Eine Überpinselung des Schreckens mit Schönheit.

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