Presseschau vom 8. Juli 2010 - Gerhard Stadelmaier und Peter Kümmel über Romane und Repräsentationsnotstände auf heutigen Bühnen
Gegenwart statt Ohrensessel
1. Juli 2010. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung geißelt Gerhard Stadelmaier bei seinem traditionellen Ausblick auf die Spielpläne der kommenden Saison die Mode der Zeit: "In Frankfurt sind nur ungefähr zwanzig Prozent des Spielplans episch verseucht, an den Münchner Kammerspielen dagegen gut achtzig, im Berliner Gorki Theater an die neunzig Prozent. Den Bühnen scheint die Lust aufs neuere Drama ziemlich vergangen." Dabei handele es sich natürlich um Bequemlichkeit, denn: mit einem Stück sei man "immer in Gesellschaft: von fremden Leuten" und "immer in einer anderen Welt". Der Roman dagegen bietet den "Gemütsschutz des Ohrensessels", der "Schmökerer darf sich was wünschen". Bei den "richtigen neuen Stücken" diagnostiziert Stadelmaier einen "eindeutigen Schlag ins Exotische", egal ob es sich um die Probleme eines Bauherrn mit Handwerkern (Roland Schimmelpfennig) handelt, deutsch-ivorische Begegnungen (Gintersdorfer/Klaßen) oder um "schick resignierte Soziologen, die die Welt im Monopoly-Spiel beherrschen".
8. Juli 2010. In der Zeit berichtet Peter Kümmel heute ganzseitig über die aktuellen Theaterrepräsentationsnotstände, auf dass man sich am Ende des Texts dennoch fragt, was dieses Unbehagen am zeitgenössischen Theater eigentlich genau ist. Theater, sagt Kümmel jedenfalls, seien heute eher Callcenter, die sich eines Stückes annähmen, es mit trügerischer Verbindlichkeit verwalten. Als Theatergänger könne es einem deswegen leicht so gehen wie einem Anrufer beim Callcenter: Man ist verloren unter lauter Fremden; man irrt umher zwischen Leuten, die nicht verantwortlich sind.
Kümmel schlägt von hier den Bogen zu den Theatermachern, allen voran den Schauspielern: "Seit einer Weile ist im deutschen Theater häufig zu sehen, dass ein Schauspieler keine Figur mehr spielt, die Idee der Figur an sich ist out. Stattdessen geht es um Texte, aus welchen das Ensemble sich Figuren baut und durch die es sich seine Wege bahnt." Eine Standardsituation sehe im Theater deshalb zur Zeit so aus: "Fünf oder zehn Schauspieler verwalten gemeinsam ein Stück, einen Text, zu Neudeutsch eine Textfläche." Wechselnde Sprecher schlüpften mit trügerischer Verbindlichkeit in eine Situation, streiften eine Rolle über und wenig später wieder ab. Sie sind immer in Eile, denn sie haben mehrere Figuren zu betreuen.
Dann könne es geschehen, dass sich zehn Darsteller über einen Roman hermachen, manchmal höre man sie sogar die Seitenzahlen des Romans mitsprechen. Das Theater aber, so Kümmel, das seine Stoffe bei Romanlektüre und Filmstudien finde, das schaukele sich in die Bequemlichkeit, bestehende Kunst als Materiallager zu begreifen.
Der wesentliche Unterschied zwischen dem Epiker und dem Dramatiker bestehe darin, beruft sich der Text auf den von Goethe und Schiller gemeinsam verfassten Aufsatz "Über epische und dramatische Dichtung", dass der Epiker die Begebenheit als vollkommen vergangen vorträgt, und der Dramatiker sie als vollkommen gegenwärtig darstellt. "Das aktuelle deutsche Theater widerlegt diesen Befund", so Kümmel, "übt sich darin, eine Begebenheit auf der Bühne als nicht vollkommen gegenwärtig darzustellen, sondern sozusagen als halb vergangen." Das Postulat, Theater habe eine Begebenheit als "vollkommen gegenwärtig" darzustellen, sei damit außer Kraft. Aber das epische, also erzählende Theater, das ist für Kümmel eben auch das trügerische, das alles zu Vergangenheit erklärt, während das Dramatische sich mit Momenten befasst, die nicht erzählbar, sondern nur spielbar sind. Und im Spiel als etwas vollkommen Gegenwärtiges erscheinen.
Eine Figur zu erschaffen, plädiert Kümmel, heißt aber: sich ihr zur Verfügung zu stellen und sie durch sich hindurchtönen (personare) zu lassen. Es bedeutet: ein Wesen zu erfinden, das nur in Platons Augenblick lebt. Fazit: Wer nicht den Willen hat, diese Wiederbegegnung zu erleben, sollte gar nicht erst anfangen mit dem Theater.
Mehr zum Thema Romane auf der Bühne? Nachtkritiker Stefan Bläske hat den Argumenten Gerhard Stadelmaiers noch einmal auf den Zahn gefühlt.
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die erfordern alle drei auf unterschiedliche art eine schauspielerische arbeit, die herr kümmel am deutschen theater vermisst.....ich kann die auch kaum noch irgendwo finden......ich kenne viele schauspieler die es sehr bedauern das sie ihren beruf nur noch als werkzeug einer regie-idee ausüben können. mir persönlich geht das auch so, ich empfinde das als verkümmerung, verarmung. ich treffe auch regelmässig zuschauer die sich da was anderes wünschen.
wenn also schauspieler, zuschauer und kritiker ein ähnliches problem beschreiben gibt es dieses problem möglicherweise tatsächlich?
ich kenne viele leute, die die arbeit von jürgen gosch in diesem zusammenhang als regelrechte erlösung empfunden haben.
Man muss Platon produktiv weiterdenken: Gerade weil und insofern das Theater niemals die reine Idee abbilden kann (und wie funktioniert denn dieses "Hindurchtönen"? Das ist doch ohne den Schauspielerkörper gar nicht zu denken), eröffnet sich hier die Möglichkeit, auf die Kontingenz des Seienden zu verwiesen. Ideen materialisieren sich nicht in unveränderbaren Tatsachen, sondern Tatsachen verweisen auf Ideen, auf Pläne "des Menschen". Diese Pläne können und müssen in wechselnden Situationen und Kontexten umgezeichnet werden. Vielleicht geht es hier also weniger um den Begriff der "Repräsentation" von Vergangenem als vielmehr um Begriffe wie "Anschauung", "Imagination" und "Darstellbarkeit" von Vergangenem, welches sich im Gegenwärtigen als gemeint oder nicht mehr gemeint erkennt.
Aber der authentische Matsch, der trennt dich von diesem Spiel. Wenn du da drin steckst, dann spielst du nicht mehr. Dann steckst du da drin. Aber ich bin ja nicht so, wenn du gern im Matsch badest, so Kontaktimprovisation im Tanz oder so, dann kannst du das von mir aus auch gern weiterhin so machen. Hauptsache, du wirst nicht vom Regisseur dazu gezwungen, weil der diesen Matsch nämlich immer nur sehen, aber nicht selbst körperlich spüren will.
Mit anderen Worten und mit Verlaub: Vorne rum fromm und hintenrum Fromms. Natürlich schaut ein Regisseur oftmals nur zu, aber der Punkt ist für mich, dass er das dann auch über seine Arbeit mitreflektieren muss, was bei Pollesch auf jeden Fall passiert. Und nicht nur da, auch in Friederike Hellers "Gutem Menschen von Sezuan" sehe ich das zum Beispiel, diese Reflektion der eigenen Produktionsbedingungen - siehe Jule Böwe als Regisseur Bertolt Brecht bzw. als Regisseurin Friederike Heller (?).
Warum hier immer nur Pollesch als "neoliberaler Künstler" (was meinen Sie eigentlich damit?) bezeichnet wird und alle anderen nicht, das verstehe ich nicht. Welcher Künstler ist denn im aktuellen politisch-ökonomischen Kontext, in welchem der Künstler bzw. der Kreative als Vorbild für die neoliberale Selbstvermarktung gilt, nicht neoliberal?
Zudem könnte man sich zur Abwechslung ja auch mal fragen, ob die Befreiung nicht vielleicht auch in der Beschränkung liegen könnte.
Und dass die Pollesch-Schauspielerinnen Marionetten seien, diese Annahme speist sich doch ebenso aus einem reinen Ressentiment, oder etwa nicht? Meines Wissens sind die Pollesch-Schauspielerinnen in gewissem Maße an der Textproduktion mitbeteiligt. Und auch im Sprechen gibt es ganz klar wahrzunehmenden Differenzen - nehmen Sie zum Beispiel Christine Groß gegenüber Fabian Hinrichs gegenüber Volker Spengler usw. Die sprechen den Text doch alle anders. Und da zeigt sich die individuelle "Lust am Text":
"Der Text hat eine menschliche Form, er ist eine Figur, ein Anagramm des Körpers? Ja, aber unseres erotischen Körpers. Die Lust am Text wäre nicht reduzierbar auf sein grammatisches (phäno-textuelles) Funktionieren, so wie die Lust des Körpers nicht reduzierbar ist auf das physiologische Bedürfnis." (Roland Barthes)
Und zum Schluss noch eine Frage: Meinen Sie wirklich, dass Sie nur einen Geist besitzen? Sind Sie immer mit sich identisch? Ich würde das verneinen, weil das von den Situationen und Kontexten abhängt, in denen ich mich bewege. Und das ist dann beinahe schon Theater-Spiel.
Was hat Herrn Kümmel das Theater nur so vergellt? Es ist das Übliche, wir kennen es schon aus den Warnungen von Gerhard Stadelmaier vor der bevorstehenden „episch verseuchten“ Theatersaison. Kümmel redet von Gegenwart, steckt aber selber tief in der Vergangenheit. Früher war bekanntlich immer alles besser. Der Schauspieler schlüpfte noch stellvertretend für uns in die „vielen Arten des Menschseins“. Den Versuch, den Zuschauer aus seiner Passivität heraus zu holen, scheint Kümmel nicht zu kennen. Für ihn setzte Max Reinhardt 1905 Meilensteine mit seinem Berliner „Sommernachtstraum“. Reinhardt als der moderne Regisseur, der mit hoher Kunst und einer speziellen Schöpferkraft für „das Anfüllen von wartendem Raum“ gesorgt hat. Die Bühne heute ist Kümmel wie „...ein mächtiges Innen, das ein komplementäres Außen gar nicht mehr braucht: ein Endlager.“ „...ein sich entleerender, seine Insassen verdauender, ausscheidender Raum.“ Ein einziger Verdauungsapparat also, Buch oben rein, eigener Regisseursaft dazu, unten kommt der Extrakt raus. Wenn das wirklich so einfach wäre. Ich glaube, Kümmel verwechselt da die Ausscheidung mit dem eigentlichen Nährstoff, der vom Regisseur aus dem Buch gesaugt wird und im anschließenden Verdauungsprozess, nachdem der nicht benötigte Teil wieder ausgeschieden wurde, als Extrakt die Bühne füllt. Hier wäre das Reflektierte, das dem Regisseur und dem Schauspielensemble so wichtig erscheint, das es dem Zuschauer gezeigt werden muss. Beispielhaft dafür vielleicht Kriegenburgs „Prozess“ in München oder Bachmanns „Zauberberg“ und „Ödipus auf Kuba“ eine Homo-Faber-Version von Arnim Petras am Gorki-Theater in Berlin. Und ganz nebenbei stehen da auch Schauspieler aus Fleisch und Blut auf der Bühne, die genug Können und Willen haben, für diese „Wiederbegegnung“ mit sich selbst. Dass das Vorhaben nicht immer gelingt, ist das Risiko, das z.B. Frank Castorf immer wieder eingeht, der „große Schmerz“ zu scheitern und nicht der „kleine Schmerz“ ein fertiges Bühnewerk zu nehmen und es vom Blatt zu inszenieren.
Für Kümmel liegt die Rettung der Schauspielkunst im Augenblick. „Dieses unfassbare Wesen, der Augenblick, liegt zwischen der Bewegung und der Ruhe als in keiner Zeit seiend.“ sagte Platon. Der Augenblick ist trügerisch, er stellt auch nur eine Illusion dar, wenn man ihn festhalten will. Nehmen wir Fausts Vision „Zum Augenblicke dürft ich sagen: Verweile doch, du bist so schön! Es kann die Spur von meinen Erdetagen nicht in Äonen untergehn. Im Vorgefühl von solchem hohen Glück, genieß‘ ich jetzt den höchsten Augenblick.“ Ein Augenblick ist nicht klar definierbar, er ist ein ästhetisch ganz unterschiedlich fassbarer Moment im Leben eines Menschen und wird leider immer sofort zur Vergangenheit. Natürlich kann man versuchen das darzustellen. Wie man in den Zeitebenen eines Romans springen kann, geht das natürlich auch in einem Theaterstück, Faust oder Per Gynt zum Beispiel. Man muss den Augenblick mit einem Inhalt füllen und so wird er gegenwärtig. Das Abbild eines Augenblicks ist eine temporäre Illusion wie eine Fotografie. Der platonische Augenblick ist abstrakt und nicht per se gegenwärtig. „Die Zeit ist das bewegte Bild der Ewigkeit.“ Mit Platon hat sich Kümmel auch eher einen schauspielfeindlich eingestellten Fürsprecher zu Hilfe genommen, gerade was das Drama betrifft. Platon wollte den Schein vom Sein trennen. Nietzsche bezeichnete Platons nahezu epische Dialogdichtung sogar als langweilig. Soweit will ich gar nicht gehen, Platons Gastmahl ist sicher große Dichtung mit einem tiefen philosophischen Kern.
Kümmel meint da wohl eher das Dramatische Theater des Aristoteles, in dem der Schauspieler eine Figur darstellt, die ihn durchdringt und die dann widerhallt, die Emotionen in uns erzeugt. Das ist aber das typische Einfühlungstheater, wie langweilig. Ein Wesen das nur in Platons Augenblick lebt, ist zwar zeitlos, die Zeit seht still, wirkt aber auch statisch, wie ein von Peter Stein auf einen Stuhl gefesselter am Bühnenboden festgenagelter Klaus Maria Brandauer als blinder Ödipus, es verfehlt das Gegenwärtige, in einem Zwischenreich festsitzend, ist toter Raum.
Herr Kümmel, kommen Sie aus der Höhle raus, legen Sie sich in einer mondlosen Nacht auf den Rücken und schauen Sie in den Sternenhimmel, erkennend, das ein Augenblick unendlich sein kann und eben nicht alles in einer Figur darstellbar ist.
Und deshalb sage ich: Spielen, spielen, spielen. Das ist alles und alles weitere folgerichtig.
Der Augenblick ohne die Einbindung in ein Geschehen ist nichts. Der Augenblick hat nur seine Bedeutung als Bindeglied zwischen dem Gewesen und dem Noch-nicht. Eine Kette von Augenblicken wäre sozusagen der bewegte Ablauf des Gegenwärtigen. In diesem Zusammenhang erhält der Augenblick seine Aufladung mit Bedeutung.
Ich halte die Gedanken von Kümmel durchaus für diskutabel. Aber Sie, werter Stefan, legen momentan alle Betrachtungen von Akteuren aus der Theaterbranche in das Sommerloch, egal ob Stadelmaier/Bondy/Stein/Kümmel, und wer sich da bald noch zu irgendwelchen Themen äußern mag.
Letztes Jahr hatte das angegreiste Duo Hochhuth/Peymann noch ein Erbarmen und sorgte für Unterhaltungsstoff, der dann durch Kehlmanns teilweise bizarre Salzburg-Rede weiter Nahrung erhielt. Wenn das auf Nachtkritik so lahm weitergeht, können die Redakteure den Laden bis September schließen, weil ohnehin kaum was passiert.
Und was machen Sie jetzt, Stefan, da Sie und Ihr Kompagnon aus Kiel wegen vorübergehender Einstellung des Ballsportbetriebs die Leuchtkraft Ihres Geistes auf andere Themen kaprizieren müssen? Ich weiß nicht, vielleicht herrscht momentan in Ihrem Blog ein spektakuläres geistiges Treiben.
Ich finde den Artikel durchaus auch sehr interessant und ich will Kümmel ja gar nicht grundsätzlich widerlegen, obwohl er für mich nicht plausibel darlegt, wie er zu dieser These mit der unbedingten Gegenwart im Drama kommt. Er reißt da meiner Meinung nach etwas aus dem Zusammenhang. Er hätte genau so bei der Poethik des Aristoteles fündig werden können, der wäre Platon zumindest zeitlich näher. Goethe und Schiller geht es in erster Linie darum, die Grenzen der Gattungen Epos und Tragödie aufzuzeigen. Dazu listen sie erst einmal auch die Gemeinsamkeiten auf. Die Einheit und Entfaltung der Handlung sowie den rein menschlichen, persönlichen Gegenstand der Handlung. Dazu dienen ihnen als Beispiele die Elias als epische Dichtung und die attischen Tragödien. Sie stellen sich dann vor, wie ein Rhapsode und ein Mime die jeweilige Gattung vor Publikum vortragen würde. Der Epiker eben als vollkommenen vergangen und der Dramatiker als vollkommen gegenwärtig, da der Mime eben unmittelbar präsent ist und durch Mimesis bestimmte Gefühle ausdrückt. Jetzt langweile ich wahrscheinlich wieder alle, aber das ist der einzige Punkt auf den Kümmel sich stützt. Ich verweise hier noch auf einen kleinen Briefverkehr von Goethe mit Schiller hin, man kann ihn unter http://www.uni-due.de/lyriktheorie/texte/1797_goethe.html nachlesen. Selbst Goethe stellt dort schon eine Vermischung der Genres fest. Er klagt aber eher über das sich "…zur Darstellung des vollkommen Gegenwärtigen" Hindrängende in den Romanen der damaligen Zeit. Beispiele sind dafür die Briefromane und da hat er ja an dieser Tendenz mit seinem Werther selbst mitgewirkt. Im Umkehrschluss versucht er dann mit seinem Aufsatz zu verhindern, dass solcher Art Romane auf die Bühne kommen. Sein Werther eignet sich aber meiner Meinung nach vortrefflich dafür. Zum Beispiel Jan Bosses Inszenierung am Gorki, komisch schon wieder das Gorki, das episch verseuchte Theater also nach Stadelmaier.
Schiller leuchtet durchaus ein was Goethe will, er relativiert das aber auch wieder etwas, indem er an Goethe zurück schreibt: "Die Dichtkunst, als solche, macht alles sinnlich gegenwärtig, und so nöthigt sie auch den epischen Dichter, das Geschehene zu vergegenwärtigen, nur daß der Charakter des Vergangenseyns nicht verwischt werden darf. Die Dichtkunst, als solche, macht alles Gegenwärtige vergangen und entfernt alles Nahe (durch Idealität), und so nöthigt sie den Dramatiker, die individuell auf uns eindringende Wirklichkeit von uns entfernt zu halten und dem Gemüth eine poetische Freyheit gegen den Stoff zu verschaffen." Letztendlich haben beide mit ihrem Postulat die Genres zu trennen, versucht eine Idealisierung vor zu nehmen. Das ist aber wie den Augenblick in einer Fotografie einzufangen, ein Paradox. Man kann nun feststellen, wenn man will, ob Goethe und Schiller das in ihren Werken geglückt ist. Der Vollständigkeit halber sei noch auf Schillers "Über die tragische Kunst und Über das Pathetische" (1792) hingewiesen. Das würde zum Vorwurf passen, den Kümmel gegen Rimini Protokoll vorbringt, ein Theater ohne Figuren (Daimler-Benz Hauptversammlung) zu sein und die historische Wahrheit der poetischen vorzieht.
Herr Kümmel versucht sich aus dem Aufsatz von Goethe und Schiller ein neues Postulat zu basteln. Dazu führt noch Platons Augenblick ein. Einen so hoch philosophischen Begriff, an dem sich nicht nur Platon im Parmenides, sondern auch Kierkegaard, Heidecker, Foucault und andere Philosophen versucht haben. Der Augenblick als Ausgangspunkt des Verstehens ja, aber als die absolute Darstellung des Gegenwärtigen, das ist auch nur eine Idealisierung, ein rhetorischer Kunstgriff. Letztendlich ist Kümmels Essay ein schön geschriebener polemischer Seitenhieb nicht nur an den Schauspieler an sich, sondern an den Regisseur, der den Darsteller so teilnahmslos vergangen aussehen lässt. Es bleibt aber alles eine unbewiesene Grundsatzthese. Die Genres werden sich trotzdem weiter vermischen und auch Herr Kümmel wird den Roman nicht von der Bühne verdrängen können.
Dennoch bleiben Fragen, Theater als Spiegel der Gesellschaft, das war immer so und ist nicht immer erbauend. Ändern kann man die Gesellschaft selten, Theater könnte dennoch manchmal mehr als ein Abbild sein.
Wenn dieser Wunsch von Herrn Kümmel, nebenbei auch des Autors dieser Zeilen, ein wenig auf der gegenwärtigen Bühne stattfände, das wäre schön.
Ist ja nur ein Spiel.
Täte ich, das Licht meines Geistes auf andere Gegenstände kaprizieren, ganz gewiß nicht 1. als Kompagnon Stefans, 2. nicht gar so notdürftig, wie es sich in Ihrem "Müssen" andeutet, mehr so aus Neigung als aus Pflicht, jedenfalls zur Zeit noch.
Die Verbindung zu den Spielplanäußerungen Herrn Stadelmaiers liefert freilich (vor Stefan) schon nachtkritik de. mit jenem
"In die gleiche Kerbe".
Es ist mir allerdings nicht völlig klar, ja, mir erscheint so eine Verbindung auch eher beliebig, warum das nicht ebensogut zusammen mit den Ausführungen von Herrn Schmidt zur "Skala" in Leipzig, sprich in Verbindung mit dem Terminus "handlungsähnliche Strukturen", diskutiert werden könnte, ganz ohne jetzt irgendeine "gleiche Kerbe" aufzumachen, die ich nicht notwendig sehe (zumal ich an anderer Stelle selbst "Die Philosphie der Person" heranzog, gewissermaßen als Verortung meinerseits all dessen, was ich an verschiedenen Theaterformen bislang so kennengelernt habe und eben auch auffaßte als gewissermaßen parallelläufiges Geschehen zum im Sturma-Buch "Projekt einer Philosophie der Person" Genannten).
Für mein Dafürhalten treffen Sie selbst mit dem Beispiel der Möwe-Inszenierung Goschs sehr gut Stadelmaier dort, wo er eben gerade Stadelmaier ist und diese vermeintlichen "Kerben" eher fern ...; das ist, denke ich, nicht unwichtig, um Sommerlöcher zu meiden, schließlich richtet sich zB. Stadelmaier mit einigen seiner Äußerungen gegen Tatbestände, die nun wahrlich auch von ganz anderen Leuten, die nicht im Verdacht stehen, hier in eine Kerbe zu hauen, angemahnt werden: Bei Romanen und ihren Adaptionen, AXOLOTL und FEUCHTGEBIETE lassen grüßen, bei Klassikern, Rezitations- und Liederabenden etcpp. geht es doch nur allzuoft um die Quote, was nicht vollends unverständlich ist, gelegentlich, wie zB. beim aktuellen "Moby Dick", sich durchaus als komplexe Gratwanderung darstellt: Ist ja auch nicht gerade etwas Anderes als etwas Leichteres und musikalisch Frisches zu erwarten oder gar gesundheitlich unbedenklich zu frequentieren an allerlei Sommertheaterabenden: Wer weiß, vielleicht wird es heute am Abend in Wellingdorf, und es ist schon ein Ereignis, daß dort Theater hingezogen ist jetzt in dieser Form, ähnlich zugehen wie in Dessau, das man jetzt nicht allzusehr geißeln sollte ob der Sommertheater-Panne: es wird ja gerade in Dessau auch eine ganze Menge versucht !
Und ich selbst werde jedenfalls nach "Moby Dick" wirklich bis zum besagten September "Theaterferien" machen, ganz ohne jegliche Gewissensbisse vermutlich und das nicht, weil ich jetzt noch nen fünften Raskolnikow abgäbe irgendwie- an Ostseestrand, Badeseen in Schleswig-Holstein und/oder im Oderland ...: vielleicht ist es ja auch nicht immer wichtig, daß etwas diskutabel ist, wenn es nur recht eigenerfahrlich darstellbar nur wird: "Man" mag das esoterisch nennen, wenn zu Rohmers 4 Jahreszeiten die deutschen Titel die jeweiligen Verbindungen zu bestimmten Formen sprachlichen Verkehrs nahelegen, wobei der "Sommer" dann wohl die performative Jahreszeit wäre, da dieser in jenen deutschen Titelgebungen für sich selbst steht im Gegensatz zu "Frühlingserzählung", "Herbstgeschichte", "Wintermärchen" ..., mir leuchtet dergleichen schon ein und eröffnet den eigenen "Versuch über die Jahreszeiten"; es ist nicht schlimm, wenn der in meiner "Kaffeerunde" am Heimatort seinen Platz findet: derlei Runden finden sich auf solcherlei Art zusammen: und das erfahre ich gerade in diesem Jahr als weitere
Bereicherung. Ihr Schüler nicht minder als Stefans "Kompagnon",
mit freundlichen Grüßen, AZ !.