Presseschau vom 8. September 2010 - Samuel Schwarz fordert im Tagesanzeiger, die Stadttheater aufzulösen und das Geld den Künstlern zu geben
Befreit euch aus veralteten Hierarchieformen!
8. September 2010. Die Idee, das Subventionssystem grundlegend umzukrempeln und Fördergelder direkt an Künstler zu vergeben, wird nicht nur von einigen nachtkritik-Kommentatoren diskutiert. Im Interview mit Alexandra Kedves im Zürcher Tagesanzeiger spricht Regisseur Samuel Schwarz davon, dass das holländische Modell für die Schweiz Vorbild sein könnte: "Man unterstützt nicht Häuser, sondern lebendige Teams mit eigenständiger, individueller Organisationsform. Sprich: Der Verteilschlüssel bei den Subventionen muss und wird anders aussehen."
"Stadttheater können mit der kreativen, effizienten Energie einer freien Gruppe nicht gut umgehen", resümiert Schwarz, "das liegt in ihrer Struktur; und deshalb haperts auch mit ihrer Kunst." Wenn die derzeitige Krise das Stadttheater zum Umdenken zwinge, sei das für alle ein Gewinn, "zuerst fürs Stadttheater selbst und für sein Publikum, aber auch für die Freien, die von den fetteren Subventionen mehr abkriegen würden".
Seine Gruppe 400asa versuche, Theater mit sozialer Ausstrahlung zu machen. Dazu gehören Skandal und Eventcharakter ebenso wie die rasche Reflexion aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen. "Ein riesiger, bürokratisierter Theaterdampfer kann das so gar nicht leisten. Er ist auch zu elitär, um nah am Kleinbürger zu inszenieren. Das schaffte im Stadttheaterbetrieb höchstens ein Schlingensief als Einzelerscheinung. Und diese Einzelerscheinung sollte dann als 'Hofnarr' das andere Mittelmass rechtfertigen." Die Gruppenförderung, die 400asa in Zürich bekomme, möchte er nicht loben: "Was wir betreiben, ist Selbstausbeutung. Wir Kreativen brauchen mehr Geld." Und das auch gerne auf Kosten der kuratierenden Dramaturgen und Intendanten, "die ihre ganze Legitimation nur aus Selektionsprozessen ziehen. Und die dann trotz ihrer hohen Löhne Spielpläne zusammenstellen, die wie ein Ei dem anderen gleichen."
Laut Schwarz wird bereits in Luzern heftig darüber diskutiert, ob man das Sprechtheater am Stadttheater auflösen und die Gelder an freie Gruppen verteilen soll. Und in Bern wird überlegt, ob in Zukunft vier Gruppen das Haus leiten oder ein kleines Ensemble, das aber offen ist für die lokalen Gruppen. Überleben werde jenes Theater, "das intelligentes Sprechtheater mit Eventcharakter bietet und das seine gesellschaftliche Anbindung nicht verloren hat. (...) Mit den vorhandenen Subventionen wäre im deutschsprachigen Raum mehr Vielfalt möglich."
Selbst offenere Häuser, wie etwa das Theater am Neumarkt, sieht Schwarz in einer veralteten Hierarchieform gefangen. "Warum es etwa an Theaterhäusern, die für die freie Szene geschaffen wurden, Intendanten und Dramaturgen braucht, ist mir und auch vielen anderen Theaterschaffenden nicht klar. Ich bin mir aber sicher, dass bald mehr Geld zu denen fliesst, die tatsächlich produktiv sind."
Mehr zu dieser Diskussion: Auch Matthias von Hartz und Tom Stromberg äußerten sich im Vorwege des von ihnen geleiteten Impulse-Festivals 2009 ähnlich. Auch sie beschrieben in ihrem Debattenbeitrag, dass die Anpassung der Kunst an die Notwendigkeiten der Institutionen im besten Fall das Überleben der Institutionen sichere, mit der Weiterentwicklung von Kunst jedoch wenig zu tun habe.
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welche freie gruppe ist denn bitteschön "näher am kleinbürger" (was immer das heissen soll)?
es gibt kein einziges stadttheater, das es sich leisten könnte sich auf eine so winzige elitäre szene zu konzentrieren wie die freien gruppen.
die gegenwärtigen probleme im stadttheater kommen doch daher, dass sie versuchen so zu tun als wären sie off-theater und dabei ihr publikum vergessen.
Wo ist der Unterschied - und was sind die bösen, starren "Strukturen", die angeblich Kreativität am Stadttheater verhindern? Sind es verbindliche Abgabetermine für die Werkstätten? Oder festgelegte Probenzeiten? Oder der Umstand, dass am Abend gespielt wird? Je professioneller Theaterarbeit ist, desto mehr muss daran organisiert werden. Desto mehr wird vom Künstler verlangt, dass er sich selbst, seine Arbeitsabläufe und sein Material organisiert. Das ist die Mindestanforderung, die an jeden Theaterschaffenden gestellt wird - ob im Stadttheater oder in der freien Gruppe.
Das einzige, wovon sich die "freie" Szene sich noch befreien muss, sind starre Ideologien und gefährliche Vorurteile, die vollkommen unreflektiert in die Öffentlichkeit posaunt werden und für die Theaterkultur insgesamt großen Schaden anrichten.
Danke für den Kommentar. Man kann es nicht mehr hören: Stadttheater langweilig, freie Gruppe super. Die meisten Zuschauer erreicht immer noch das olle Stadttheater. Und es wird auch weiterhin lernen vom Freie-Gruppen-Denken. Und so geht es immer weiter. Bis Klein-Erna-Freie-Gruppen-Heini angekommen ist im Stadttheater. Wohl bekomm's! Oder eben auch nicht. Das Stadttheater wird's überleben.
Totgeweihter Unsinn kommt aus diesen Apparaten, ständig morbider Ausfluss. Darauf könne auch die Stadtväter verzichten. Sucht nach einer neuen Auswahl und Vergabestruktur!!!
An den Stadttheatern vermisse ich seit Jahren das Abrufen des kreativen Potentials – stattdessen dominiert das professionalisierte Abspielen eingeübter Gesten von Akteuren, die sich am bildungsbürgerlichen Mainstream abmühen müssen, um manchen Denkfaulen das Lesen von Romanen zu ersparen.
Allerdings würden sich freie Gruppen mit einer öffentlichen Bezuschussung auch zwangläufig dem Publikumsgeschmack anpassen, sonst wären sie nur auf elitäre – oder phasenweise kleinbürgerliche – Gruppen kapriziert, die nicht den erhofften Zulauf garantieren. Das würde ihnen auf Dauer den Geldhahn abdrehen und sie wären leider dahin gedrängt, nicht am Auditorium vorbeizuspielen und moderates, allgemein zugängliches, dem Bildungsbürger halbwegs vertrautes Theater zu fabrizieren.
@123 etliche der auführungen von denen sie sprechen sind regelmässig ausverkauft. wieso also will das "niemand?" sehen - wer ist dieser niemand von wem sprechen sie? ein paar sachliche argumente würden ihre polemik wesentlich nachvollziehbarer machen.
Ja !
Verteilungskämpfe anzetteln, genau: das bringt garnichts !!
Und das mit den Spielplänen landauf-landab, das kann einfach auch nicht so stehen bleiben. Ich befinde mich gerade in Chemnitz: die
Spielzeit ist überschrieben mit "Wolken-Heim"; es gibt zahlreiche Stücke der "Neuen Dramatik", und das finden Sie nicht nur in Chemnitz, mal ganz zu schweigen von Köln, denn das lobt "123" in
der Regel: Stadttheater für Köln, damit hat Frau Beier gepunktet.
Theater des Jahres und Frau Blomeier ist da jetzt auch hin ...
Geht dabei nicht darum, das Lob von "123" einzukassieren, nur um den
schlichten Hinweis, daß ich in den knapp 11 Monaten hier auf Nachtkritik nicht zum ersten Mal auf diese sehr holzhammerhafte Zeichnung
des Stadttheaters stoße, auf die Gefahr allenthalben, freie Szene und Stadttheater gegeneinander auszuspielen ...: Das nimmt dann schnell den Verlauf, der hier schon von anderen Teilnehmern skizziert wurde: Frau X oder Herr Y profiliert sich öffentlich als Kritiker des Stadttheatersystems und greift dann statt in Fördertopf A in Fördertopf B , aus Fördertopf C fließt dann bei Rückkehr ins Stadttheater das Doppelte etcpp. ... .
Nur einen solchen Fall, und diejenigen, die Futter gegen das Schauspiel überhaupt suchen, werden fündig !!
Ein Signalwort wie "Event" reicht mir im Text vollends hin, um an den länger als sehr kurzfristigen Erfolg abrupter Umwälzungen zu
zweifeln; da ist der Hinweis von § 12 allemal beherzter: Öffnet zB. das Kleist-Theater in Frankfurt (Oder) wieder, zeigt, daß "Ihr" das ohne Stadttheaterstruktur hinbekommt, argumentiert das an, gerade im Kleist-Jahr die Chance dazu: so könnte ich dieses Ansinnen nachvollziehen, würde es zu unterstützen suchen wohl !
Für mich ist dagegen noch nicht einmal ausgemacht, ob die "Reibung" in der Stadttheaterstruktur zwischen nicht-künstlerischen und künstlerischen Beschäftigten bzw. dieser Gruppen und dem Publikum
nicht manchmal sogar das Salz in der Suppe sind, ja, beinahe zu den Rezeptionsbedingungen von jetzigem Theater zu zählen sind.
Genügend Aufpreise für persönliche Beratung (Bahn) bzw. keine KassiererInnen stattdessen Computerkassen, das kennen wir doch alle: wollen wir das auch noch im Theater ??
Vielleicht ist der Apparat so, daß alles, frei nach Schernikau, ich sah ja gerade am 9.9. "Schernikau Sehnsuchtsland" von Portofolio im LOFFT, was verstanden werden soll, dreimal gesagt werden muß (ist es außerhalb des Theaters zudem anders ??), aber schön, daß wir uns das leisten, deimal sagen zu lassen, zuhören und auch harren lernen !!
Im übrigen zeigte sich bei der LOFFT-Leipzig-Premiere der dreiseitigen (sehenswerten !) Annährung an Ronald M. Schrnikau auch ein gewisses Off-Dilemma, das "wir" nicht unter den Tisch fallen lassen sollten: der Zuschauerraum war besetzt lediglich zu einer Stärke eines mittleren Deutsch-LKs, bei einer Leipzig-Premiere (zum Leipzigexstudenten Schernikau) -von "üblichen Verdächtigen", die ich auch sonst schon sah, wenn ich mal zu einem beliebigen Zeitpunkt dort in ein Theater gegangen war ...-.
An dieser Stelle noch vielen Dank, Herr Heinrich, für die Urlaubwünsche ! aus Zwickau liebe Grüße AZ
Insofern ist Schwarzens Interview doppelzüngig, hat er sich soch selbst in Bern als Intendant beworben, doppelzüngig auch, weil Stadtheater nicht Stadttheater ist und weil es immer auf die konkreten Menschen und das Team ankommt, er entfacht in reichen Ländern wie der Schweiz und Deutschland eine falsche Debatte und fördert Verteilungskämpfe in wohlhabenden Verhältnissen, das ist dumm und deutsch bzw. schweizerisch, rebellisch ist es nicht und emanzipatorisch schon gar nicht: scheinbar basis-populistisch, mehr nicht. schade für einen, der vorgibt brecht und marx verstanden zu haben: the beat goes on.
Und das ist ja noch selbstironisch, bei Samuel Schwarz dagegen klingt das eher wie die Lust eines Sadisten, der davon ausgeht, dass sich die von ihm "willkürlich" gequälten Schauspieler auch noch dafür bedanken. (...)
http://www.novo-argumente.com/magazin.php/archiv/novo108_108