Theatertreffen 2015 – Eine Gastrokritik zu Thom Luz' Inszenierung von Judith Schalanskys "Atlas der abgelegenen Inseln"
Die Schmonzette ist zu stark karamellisiert
von Sophie Diesselhorst
Berlin, 4. Mai 2015. "Atlas der abgelegenen Inseln". Das Lokal ist schummrig und verraucht. Der erste Gang ist die Treppe hoch, denn die Gäste sollen sich auf mehrere Stockwerke verteilen. Sobald das geschehen ist, backen alle zusammen als nachträgliches Entrée ein akustisches Blätterteigteilchen, das in den hohen Fluren aufs schönste hallt und echot.
Die Servicekräfte sind klassisch gekleidet und unzuverlässig. Sie kommen und gehen hektisch und raunen bei jedem Vorbei-Huschen dienstfertig: "Ich bin gleich wieder da!" Manchmal stellen sie zwischendurch etwas ab, zum Beispiel eine kleine Harmonie aus sanften Paukenschlägen oder eine dezente Serenade, auf drei Geigen dahinpizzicatiert, grundiert von Posaunenhupern.
Primo: Tagliatelle aus Anekdotenschrot
Bevor es zu schaumig wird, folgen als Primo: Tagliatelle aus Anekdotenschrot. Sie sind lang und schwierig aufzugabeln. Außerdem fehlt eine Sauce. Wie um das zu kompensieren, reichen die Servicekräfte daraufhin eine lange Folge feingeschnitzter, hochdekorativer Exotismen.
Es gibt das Versprechen auf eine Nordische Seekuh, aber es wird nicht eingelöst. Überhaupt scheint man in diesem Hause auf die undeftigen Zwischengänge spezialisiert zu sein. Auch wird das Hauptaugenmerk eher auf die angemessene Servier-Temperatur als auf die raffinierte Würzung gelegt.
Dessert: Flageolett-Schmonzette
Ein mehrgängiges Dessert wird eingeleitet von Geigen, die ins Flageolett schmelzen, bevor sie abkratzen. Den Servicekräften gefriert indes das Lächeln in den ein wenig zu stark geschminkten Gesichtern. Die Schmonzette ist zu stark karamellisiert.
Was die Getränke angeht, so wird das Wasser live von Eisblöcken abgeschmolzen – ein bisschen viel Theater, das vielleicht von den fehlenden Gewürzen ablenken soll.
Als das Licht angeht und ein Rausschmeißer in Pagenuniform als Beispiel die Treppe hinab vorangeht, merken meine Begleitung und ich, dass uns irgendetwas zu Kopfe gestiegen ist und selbiger morgen schwer sein könnte. Eine Empfehlung kann deshalb nur zusammen mit einer Warnung ausgesprochen werden.
Zur Nachtkritik der Premiere von Atlas der abgelegenen Inseln in Hannover (9/2014)
Alles zum Theatertreffen 2015 gesammelt in der (mitwachsenden) Theatertreffen-Übersicht
meldungen >
- 30. April 2024 Ehrung für Ulrich Matthes
- 29. April 2024 Theaterneubau in Rostock begonnen
- 29. April 2024 Auszeichnung für Kurzfilmtage-Leiter Lars Henrik Gass
- 29. April 2024 Publikumspreis für "Blutbuch" beim Festival radikal jung
- 27. April 2024 Theater Rudolstadt wird umbenannt
- 26. April 2024 Toshiki Okada übernimmt Leitungspositionen in Tokio
- 26. April 2024 Pro Quote Hamburg kritisiert Thalia Theater Hamburg
- 25. April 2024 Staatsoperette Dresden: Matthias Reichwald wird Leitender Regisseur
neueste kommentare >
-
Interview Übersetzer*innen Konkret kritisieren
-
Interview Übersetzer*innen Sträflich wenig beachtet
-
Pygmalion, Berlin Aushalten oder lassen
-
Pygmalion, Berlin Muss das sein?
-
Zentralfriedhof, Wien Weder komisch noch grotesk
-
RCE, Berlin Ziemlich dünn
-
Zentralfriedhof, Wien Akku leer
-
Pygmalion, Berlin Clickbait
-
Die Möwe, Berlin Einspringerin Ursina Lardi
-
Hamlet, Bochum Zum Niederknien
nachtkritikcharts
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau
Komplette Kritik: https://stagescreen.wordpress.com/2015/05/06/wir-gestrandeten/