Wo der Hammer hängt (im Kinderzimmer) 

von Andreas Klaeui

Avignon, 11. Juli 2008. Das Purgatorium ist der endliche Teil in Dantes Jenseitsvorstellungen, weniger Fegefeuer als eine Bergbesteigung: Sieben Stufen hat der Läuterungsberg, so viele, wie es Todsünden gibt, jede einzelne muss durchgebüßt werden bis zum irdischen Paradies auf dem Gipfel, der Vorstufe zum himmlischen. Eine Episode – und diesen Aspekt streicht Romeo Castellucci im zweiten Teil seiner Dante-Arbeit heraus. In seinem "Purgatorio" geht es ums ohnmächtige Warten, das Ausgeliefertsein, den Kampf gegen proteische Monster, einen Zustand wie in der Verpuppung oder im Traum.

Ein bürgerliches Interieur. Das Purgatorium ist ein Bungalow aus den siebziger Jahren, ein Traum vom wohnlichen Leben mit properer Küche, einladendem Esstisch, flauschigem Kinderzimmer, coolem Livingroom. Alles liebevoll und detailliert nachgebildet wie für einen TV-Episodenfilm. Ein Puppenstubenguckkasten: Jeder einzelne Raum nimmt die ganze Bühne ein. Geht es die Treppe runter in den Livingroom, schiebt sich das Kinderzimmer im Bühnenportal nach oben – das hat etwas Hyperrealistisches und zugleich Surreales, schon in dieser Szenografie ist eine Traum-Atmosphäre verortet.

Und Vater greift nach seinem Cowboyhut
Den leicht verschobenen Eindruck unterstützen kommentierende Übertitel, ironisch nehmen sie immer vorweg, was jetzt gleich geschieht und bezeichnen die Bühnenfiguren dabei stets als "Étoiles", Sterne, was aber auch Stars heißen kann. Es sind eine Mama und ein kleiner Junge, sie scheinen zu warten, einmal fragt der Junge: "Kommt er heute nach Hause?". Die Mama kocht, der Sohn macht Aufgaben und bekämpft im Kleiderschrank Monster.

Und dann kommt der Vater wieder; und der Hammer fällt. Die Übertitel führen den Familientraum fort, Sohnemann zeigt Papa seine Zeichnungen, sie lachen und machen Musik – auf der Bühne nimmt die Geschichte eine andere Wende. Papa will unbedingt seinen Cowboy-Hut, Mama weint, Papa zieht den Sohn ins Kinderzimmer. Eine Vergewaltigung. Die Hölle.

Castellucci erzählt das unglaublich eindringlich, immer in dieser gedämpften, lakonischen Albtraumtonlage. Wie der Vater nachher alles andere als erlöst aus dem Zimmer kommt und zum Klavier geht, wie sich der kleine Sohn erst mit einem Taschentuch den Mund abwischt und nachher dem Vaters auf den Knien sitzt, das wird nicht so schnell zu vergessen sein.

Ein Teufelskreis der Zerstörung
In verstörenden Traumbildern geht es weiter. Mit dem Blick aus dem Kleiderschrank im Kinderzimmer. Eine Reihe verschwimmender, amorpher Monster zieht vorbei, auch dies wieder in ganzer Bühnengröße, ein perverser Reigen unseliger Geister, in dem endlich auch die Vaterfigur wieder auftaucht, nun als Krüppel, und der mittlerweile erwachsene Sohn, der den Vater in spastischen Zuckungen nimmt.

Eine unendliche Geschichte, ein Teufelskreis der Zerstörung. Wie Castellucci dies hier inszeniert, immer an dieser Grenze zwischen Wachheit und Traum, zwischen Hier und Jenseits, das ist schon sehr eindrücklich – und von ganz anderer Qualität als der gotische Nervenkitzel des "Inferno". Als dritter Teil folgt "Paradiso", mit dem sich Castellucci Dantes "Divina Commedia" noch einmal unter einem ganz anderen Aspekt annähern wird: in der Église des Célestins, einer bis aufs Gemäuer leeren Kirche, bei Tageslicht. Grillengezirpe wird, so ist zu vernehmen, eine akustische Hauptrolle spielen, und, das vermuten wir jetzt einmal, auch jener Flügel, der im Inferno abgefackelt wurde und im "Purgatorio" eine ambivalente Rolle bekam, wird einer neuen Bestimmung zugeführt.

 

Purgatorio
von Romeo Castellucci nach Dante
Regie, Bühne, Licht, Kostüme: Romeo Castellucci, Musik: Scott Gibbons, Choreografie: Cindy Van Acker, Romeo Castellucci.
Mit: Irena Radmanovic, Pier Paolo Zimmermann, Juri Roverato, Davide Savorani, Sergio Scarlatella

www.festival-avignon.com

 

Mehr über Romeo Castelluccis Auseinandersetzung mit Dante in Avignon hier .

 

Kritikenrundschau

Die Liebe stehe im Mittelpunkt der ersten Woche von Avignon, bemerkt Joseph Hanimann in der FAZ (14.7.): Castelluccis freie Gedanken- und Bilderassoziationen zu Dantes "Göttlicher Komödie" in drei Teilen wirke trotz "schockhafter Pointen" so "schön wie belanglos".

 

In der Süddeutschen Zeitung (15.7.) schreibt Eva Elisabeth Fischer: die "höchst gegensätzlichen beratenden artistes associés", Valérie Dréville und Romeo Castellucci steckten mit ihren künstlerischen Profilen - Protagonistin des konventionellen Sprechtheaters sie, Verfechter eines "Theaters des Erleidens und der Bilder" er - ganz "prächtig" das "ästhetische Spektrum der vergangenen dreißig Jahre auf dem Theater" ab. Castelluccis "krude Bilderwelten" ließen es erst einmal nicht vermuten, aber er predige doch "Moral". Im "Purgatorio" erleiden Vater, Mutter, Kind den emotionalen Kältetod in einem italienischen Designer-Salon aus den siebziger Jahren. "Der von einer Geschäftsreise erschöpfte Vater führt den Kleinen nach oben, nachdem die wissende Mutter schluchzend den Raum verlassen hat. Man starrt qualvolle Minuten lang auf diese menschenleere Designer-Hölle, lauscht dem Ächzen, Stöhnen, Schreien des nicht sichtbaren Vaters und seines Sohnes." Während der Missbrauch lediglich als Hörstück gegenwärtig sei, stehe nur ein Wort zu lesen: "musique".

In der Frankfurter Rundschau (15.7.) schreibt Stefan Tigges: Im "Purgatorio" gelinge es Castellucci "die alptraumartigen (Schuld-)Motive zu verdichten, die Grenzen zwischen Realität und Imagination zu verflüssigen und die Aufmerksamkeit auf das Unsichtbare zu lenken". Ein Vater kehrt in die Designer-Wohnung heim. "Nachdem er ferngesehen hat, fragt der Vater seine Frau nach dem Cowboyhut, sie reagiert mit leisem Entsetzen. Der Vater geht in das für das Publikum nun unsichtbare Kinderzimmer, misshandelt seinen Sohn und setzt sich müde vor das Klavier im Wohnzimmer. Kurz danach folgt ihm der Sohn, setzt sich auf den Schoß des Vaters und erklärt ihm mit ruhiger Stimme, dass alles vorbei sei und er sich nicht beunruhigen müsse…  Jahre später kommt es zum Rollentausch: Der spastisch zuckende Sohn legt sich auf seinen mittlerweile verkrüppelten Vater."

 

 


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