Ricercar - François Tanguys barockes Ornamenttheater
Der Wunderkammer entsprungen
von Dorothea Marcus
Avignon, 19. Juli 2008. Um neun Uhr morgens in Avignon ins Theater zu gehen, hat etwas Bizarres. Langsam kriecht die Sonne über die gotischen Mauern, der Himmel ist azurblau, einige Feiernasen stolpern noch durch die Straßen. Man selbst geht dagegen in eine dunkle, heruntergekommene Schule, in der Zikaden vom Band zirpen und setzt sich vor ein Bühnenbild voller Stellwände mit Jalousien, das sich weit nach hinten öffnet und schiefe Lampen, Tische, Stühle ineinandergeschachtelt hat. "Ricercar" heißt das Stück, das Wort bezeichnet einen barocken, kontrapunktischen Musikstil, der - im Gegensatz zur Fuge - unterschiedliche Melodien ohne thematischen Zusammenhang vereint.
Damit ist schon viel über das Stück gesagt: es ist eine auf- und abschwellende Kollage aus Texten von Dante, Kafka, Büchner, Robert Walser, Villon, Ezra Pound, Goethe, Federico Fellini und vielen anderen. Eine Art Hörstück, in dem die Musik von Berg, Scarlatti, Verdi, Beethoven, Hanns Eisler braust, während sich das Bühnenbild ständig verschiebt und weißgeschminkte Frauen in barocken Kleidern oder Männer in grauen Anzügen in wechselnden Kombinationen die Textfragmente rezitieren, manchmal auf typische französisch-deklamatorische Weise, manchmal legen sie auch jeden Firlefanz ab und sprechen still, leise und konzentriert.
Musikalisch das Gegenteil der Fuge
Das ist zunächst ermüdend inhaltsarm, wirkt wie typisch französisches Ornamenttheater. Aber wenn man sich einmal darauf eingelassen hat, entwickelt es tatsächlich den faszinierenden, befremdlichen Sog eines Gesamtkunstwerks. Regisseur François Tanguy leitet schon seit fast 25 Jahren in Le Mans, im Norden von Frankreich, das "Théâtre du Radeau" in einer alten Autofabrik, inszeniert dort eher selten ("Ricercar" ist in den 25 Jahren erst seine vierzehnte Produktion) und ist zwar schon in der ganzen Welt und auf großen Festivals, aber noch nie nach Avignon eingeladen worden.
Möglicherweise ist sein Kommen diesmal auch nur der Tatsache geschuldet, dass er in "Ricercar" so viele Dante-Texte verwendet hat, schließlich ist Castelluccis Inszenierung der "Göttlichen Komödie" eine Art Leitmotiv der 62. Festivalausgabe. Laut Programmheft befragt Tanguy unermüdlich "die Möglichkeiten des theatralischen Erzählens". Kunst ist für ihn weder Kommunikation, Neugier noch Zerstreuung, sondern ein "Zusammensein, um einen Ort und eine Zeit zu besuchen".
Körper tanzen, Maschinen stampfen, Schattenspiele zucken
Die Zeiten und Orte auf der Bühne ändern sich jedenfalls ständig. Die Wände verschieben sich zu immer neuen labyrinthischen, fantastischen Räumen, Laubbäume biegen sich im Wind, Regen prasselt, Körper werden hin- und hergetragen, machen ein paar Tanzschritte, Maschinen stampfen zum Brausen der Musik, Schattenspiele zucken, während die Schauspieler stille, vergessene, fast unverständliche Texte von Einsamkeit und Konzentration sprechen.
Da geht Lenz durchs elsässische Gebirge, sitzt Robert Walser im Café und beobachtet sich selbst beim Beobachten einer Tanzveranstaltung, wird dumpf Goethes "Erlkönig" intoniert, beschreibt einer seinen Blick in die Landschaft - die Bühne hat sich gerade in ein kaltes, graues büroähnliches Gebilde verwandelt - unterhalten sich Figuren aus Fellinis "8 ½" und Pirandellos "Riesen im Gebirge" angeregt über die Liebe und darüber, dass einer von ihnen eine Nadel verschluckt hat.
Frühmorgendliche Meditation
Eine Hör- und Sehkollage, eine bizarre Zeremonie, in der Momente entstehen und wieder vergehen, absichtslos, rein assoziativ und schwebend und doch auf diffuse Weise schön und poetisch, man kann sich hineinfallen lassen und eigenen Gedanken nachgehen. Theater als Meditationsanreiz - eine Richtung, die in Deutschland auf jeden Fall nicht so oft zu sehen bekommt. Vielleicht würde man sie auch durch und durch ablehnen wegen ihrer esoterisch aufgeblasenen Inhaltsarmut, wäre es nicht so ein schöner, frischer, azurblauer Sommermorgen in Avignon.
Ricercar
von François Tanguy und dem Théâtre du Radeau
Regie, Licht, Bühne: François Tanguy, Ton: François Tanguy, Marek Havlicek.
Mit: Frode Björnstadt, Laurence Chable, Fosco Corliano, Claudie Douet, Katia Grange, Jean Rochereau, Boris Sirdey.
www.festival-avignon.com
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