Die Cadela Força Trilogie, Kapitel I - HAU Berlin
F*** Catharsis
16. Juli 2023. Mit einer brasilianischen Passionsgeschichte endet das Festival Theater der Welt in Frankfurt und Offenbach. Carolina Bianchi berichtet von Vergewaltigungen und Femiziden – und setzt sich im ersten Teil ihrer "Cadela Força"-Trilogie wohl selbst unter den Einfluss von K.O.-Tropfen.
Von Michael Laages
16. Juli 2023. Fünfzehn Jahre liegt dieses Drama zurück – Giuseppina Pasqualino di Marineo, die sich als Künstlerin Pippa Bacca nennt, bricht 2008 am 8. März, dem Weltfrauentag, aus Mailand auf zu einer riskanten Reise. Mit der Freundin Silvia Moro will sie ein Zeichen für den Weltfrieden setzen – und im weißen Kleid einer Braut per Anhalter durch alle Länder der zehn Jahre zuvor vom Bürgerkrieg verwüsteten Balkan-Region reisen. Gorizia im italienischen Friaul ist eines der ersten Ziele, später will Pippa Bacca etwa nach Tuzla in Bosnien-Herzegowina oder in die bulgarische Hauptstadt Sofia; Slowenien, Kroatien und Serbien liegen auch an der Route. Letztes Ziel soll Jerusalem sein. Nach einem Streit in Istanbul trennen sich die Wege der beiden Künstlerinnen, Bacca reist allein weiter – und wird von einem, der sie mitnimmt, vergewaltigt und ermordet.
Traumatisiertes Erzählen
Dies ist die erste Geschichte, die die brasilianische Performerin und Regisseurin Carolina Bianchi erzählt; eher als Vortrag, als "lecture performance" mit Mikrophon am Tisch; die Bilderwand hinter ihr zeigt Bacca auf dem Weg der Braut in Weiß; "Brides on tour" hieß das Projekt. Zuvor aber hat Bianchi schon schlimmes Teufelszeug getrunken: "Goodnight Cinderella" heißt ein K.O.-Pulver, das in ihrem Herkunftsland Brasilien Frauen verabreicht wird, damit sie müde werden und leichter zu vergewaltigen sind durch die Männer beim Fest. Wenn der Drink wirkt, sagt Bianchi, werde sie sich irgendwann auf den Tisch legen und einschlafen. Das ist die zweite Basis-Geschichte; und sie ist mehr oder weniger glaubhaft; Bianchi legt sich halt tatsächlich zur dramaturgisch richtigen Zeit hin, und wenn sie später wieder aufwacht, nach dem szenischen Teil mit der Gruppe Cara de Cavalo (Pferdegesicht), wirkt sie so wackelig, als habe sich der Körper tatsächlich noch nicht ganz erholt.
Immerzu aber hat sie weiter erzählt, zuerst allein am Tisch, dann in projizierten Texten – von anderen Performance-Frauen hat sie berichtet, die den Schmerz des eigenen Körpers zum Thema machten und machen (wie etwa Marina Abramovic); aber auch vom Massenmord in der mexikanischen Grenzstadt Ciudad Juarez oder vom Fußballtorwart Bruno, der im Rio-Club "Flamengo" zum Star wurde und dessen bestialischer Mord an einer Kurzzeitfreundin die brasilianische Öffentlichkeit lange beschäftigt hat; auch auf ziemlich perverse Weise – denn Bruno, der Killer, wurde zwar verurteilt (und sehr früh wieder freigelassen), er mutierte widerwärtigerweise aber auch zum medialen Popstar.
Brasiliens zutiefst machistische Gesellschaft ist generell geprägt durch einen extrem hohen Anteil an Femizid-Fällen, durch Morden also an Frauen, nur weil sie Frauen sind; die Gesellschaft ist übrigens ebenso rassistisch – die Zahl getöteter junger Schwarzer ist hier ebenfalls so hoch wie nirgends sonst. Aber darum geht es nicht an diesem Abend – wie besessen und traumatisiert präsentiert und analysiert Carolina Bianchi eine Weltpassionsgeschichte des Femizids.
Kunst hilft nicht
Zusätzlich reflektiert der Text aber immer wieder auch die Frage danach, ob es eigentlich eine angemessene Sprache geben könne für diese allgegenwärtige Ungeheuerlichkeit und ob sie eventuell gerade in der Kunst zu finden sei – nichts da, sagt Bianchi wieder und wieder: Kunst hilft nicht. Dieser Schaden, wie Frauen ihn erleiden, ist nicht zu reparieren.
Schon im ersten Teil (der mit Texten aus dem "Inferno" in Dantes "Göttlicher Komödie" beginnt und vier ebenso dramatischen wie allegorischen Botticelli-Bildern von der mörderischen Jagd auf eine Frau) mochte Bianchi sich nicht abfinden mit Pippa Baccas demonstrativer Naivität – aber die Geschichte vom Tod der Anhalterin im Brautkleid ist nun mal zum zentralen "Trigger" geworden für dieses erste Kapitel der "Cadela Força"-Trilogie; "Schlampen-Power" wird der Titel in Frankfurt übersetzt, das Wort "cadela" ist im brasilianischen Portugiesisch extrem sexuell konnotiert: als "läufige Hündin".
Tanz um Gewalt und Verführung
Bis zum Einschlafen der Protagonistin offeriert der Abend neben sehr viel eindrucksvoll sortiertem Dokumentar-Material nur ein optisches Rätsel – unter Bianchis Tisch ist schon ein aufgeschüttetes kleines Grab zu sehen. Sobald sie auf dem Tisch liegt, ändert das Ensemble die Szene komplett – räumt die Leinwand ab und zieht die schwarze Schutzhülle von einer Luxus-Limousine, die in der Tiefe der Bühne lauert wie ein gefährliches Tier; auch weitere kleine Grabstätten ziehen die Spielerinnen und Spieler auf die jetzt schwarz ausgeschlagene Bühne. Sie salben sich allesamt mit Zitronensaft und Alkohol und entfesseln Szene um Szene ein schmerzhaftes Spiel um Gewalt und Gewalttätigkeit, eine Art dunkle Messe aus Rätsel und Ritual. Bianchi liegt derweil zwar vorn und schläft (möglicherweise), als reflektierende Künstlerin bleibt sie mit Texten aber immer präsent.
Jetzt spielt auch das Auto mit, eine der Akteurinnen macht die Kühlerhaube zur Bühne eines Tanzes um Gewalt und Verführung; eine von Bianchis Phantasien erzählt von einer Autofahrt, die in Vergewaltigung und Mord endet. Dann wird die schlafende Bianchi in den Kofferraum gepackt, und die Live-Kamera verfolgt die Frauen im Auto, das schließlich zum Gefängnis wird, in das tödliche Abgase geleitet werden … Optisch kommt Bianchi dem Horror schon sehr nahe, von dem sie erzählen will. Aber, wie schon gesagt: auch Kunst bietet weder Lösung noch Ausweg. "Fuck Catharsis" steht da, wo sonst am Auto das Nummernschild ist.
Inferno kämpfender Körper
Schließlich gibt’s aber doch noch das Gegenbild: Bianchi wird aus dem Kofferraum geholt und auf die Frontpartie des Autos gelegt, das nach vorne gerollt wird; und die Frauen des Ensembles nehmen per Mini-Kamera eine Intra-Uterin-Inspektion vor an der Protagonistin. Auf Blumen betten sie sie danach, beschwören sogar Liebe, Energie und Kreativität; mit wie wenig Zuversicht auch immer. Und wenn Bianchi schließlich erwacht, darf sogar ein Mann ihr einen vielleicht gar nicht so schlimmen Traum erzählen …
Das szenische Potenzial dieses zweiten Teils, mit der überaus starken Gruppe der acht Spielerinnen und Spieler aus Brasilien, reisst die zuvor doch ziemlich akademische Femizid-Passion hinüber ins Inferno kämpfender Körper. Und das ist ja erst der erste Teil der Trilogie. Im Frankfurt-LAB, einer Spielstätte des Künstlerinnen- und Künstler-Hauses Mousonturm, hat das Festival Theater der Welt in Frankfurt und (sehr wichtig!) auch auf der anderen Main-Seite in Offenbach jedenfalls ein spektakuläres Finale bekommen. Und ob der "Goodnight Cinderella"-Drink nun wirklich gewirkt hat, ist gar nicht mehr wichtig.
Die Cadela Força Trilogie, Kapitel I: Die Braut und Goodnight Cinderella
von Carolina Bianchi & Cara de Cavalo
Konzept, Text, Dramaturgie und Regie: Carolina Bianchi, Dramaturgische Begleitung und Mitarbeit: Carolina Mendonca, Technische Leitung und Musik: Miguel Caldas, Bühne: Luisa Callegari, Licht: Joao Rios, Video: Montserrat Fonseca Llach, Kostüme: Tomás Decina, Luisa Callegari, Carolina Bianchi.
Mit: BlackYva, Larissa Ballarotti, Carolina Bianchi, Jose Artur Campos, Joana Ferraz, Fernanda Libman, Chico Lima, Rafael Limongelli und Marina Matteus.
Deutschlandpremiere am 15. Juli 2023
Dauer: 150 Minuten, keine Pause
www.theaterderwelt.de
Kritikenrundschau
Aus Avignon berichtet Laura Cappelle in der New York Times (12.7.2023) von starken Emotionen als Reaktion auf Bianchis Aufführung. Diese verarbeite ein eigenes Erlebnis, und ihre Verletzlichkeit sei erschreckend nacherlebbar, nachdem sie ihren betäubenden Cocktail getrunken habe und bewusstlos geworden sei. Besonders die Szene der quasi forensischen vaginalen Untersuchung findet die Kritikerin verstörend, auch wenn sie der Aussage der Inszenierung entspricht: "Sometimes there is no safe space to be found from trauma", manchmal findet sich kein sicherer Ort, der vor dem Trauma schützt.
"In einer Art Ritual scheint [das Performer-Ensemble] die bösen Geister von sexueller Gewalt und Hass austreiben zu wollen“, schreibt Annette Stiekele im Hamburger Abendblatt (13.7.2023). Die Arbeit der 27-Jährigen sei einerseits der Versuch der eigenen Erinnerung und Traumabewältigung. Andererseits ist es der im Artikel zitierten Bianchi wichtig, nicht nur autobiografisch über sich selbst zu sprechen, sondern "eine künstlerische Sprache zu finden, um über diese Gewalt zu reden und sich dem Nebel der Erinnerung anzunähern". Der "zutiefst verstörende" Abend, der im August beim Internationalen Sommerfest auf Kampnagel gastiere, lasse in Avignon niemanden kalt, bilanziert Stiekele.
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