Gegen die Fliehkräfte

14. August 2023. Weg von den Nummern und Attraktionen, hin zu Stücken, in denen Akrobatik oder Jonglage nurmehr darstellende Mittel unter anderen sind: So könnte man die Entwicklung des zeitgenössischen Zirkus beschreiben. Ein Blick auf die jüngste Sparte der Darstellenden Künste, anlässlich des Berlin Circus Festivals.

Von Elena Philipp

"bitbybit" von Movedbymatter & Collectif Malunés beim 9. Berlin Circus Festival © Collectif Malunés

14. August 2023. Als neue Sparte sucht der zeitgenössische Zirkus seit einigen Jahren auch in Deutschland Aufnahme in den Kreis der förderungswürdigen Darstellenden Künste. In Frankreich, Belgien oder Skandinavien, aber auch in Canada ist er längst Teil des Künste-Kanons. Im Zuge der 68er begannen Artist*innen, die nicht aus Zirkusfamilien und den zugehörigen Wanderunternehmen mit Zelt, Wagen und Tieren stammten, an der Schnittstelle von Zirkus und Theater zu experimentieren. So entstand der "Nouveau Cirque", wie Tim Behren, Mirjam Hildbrand und Jenny Patschovsky in einer Publikation für das Kölner CircusDanceFestival schreiben. In den 1980er Jahren wurden in Frankreich, Belgien oder Kanada staatlich anerkannte Zirkus-Hochschulen gegründet. Künstler*innen, die keine Verbindung zu den traditionellen Strukturen hatten, konnten sich in dem Bereich professionalisieren.

Ein absurdes Universum        

Das Startdatum für den zeitgenössischen Zirkus wiederum ist in der in Deutschland bislang unbekannten akademischen Disziplin der Zirkuswissenschaften eindeutig gesetzt: 1995 inszenierte der Choreograph Josef Nadj mit dem Abschlussjahrgang am Centre National des Arts du Cirque (CNAC) in Châlons-en-Champagne das Stück Le Cri du Caméléon, das einen stilistischen Wandel einläutete. "Damals waren die Zirkusformen vor allem von theatralen Mitteln und narrativen Dramaturgien geprägt. Das dramatische Erzählen war in Frankreich ein Weg, um Legitimität und Anerkennung in den Darstellenden Künsten zu erreichen", sagt Tim Behren, der als ausgebildeter Akrobat die Kompanie Overhead Project leitet und 2019 das Kölner CircusDance Festival gegründet hat. "'Le Cri du Caméléon' überführte die Fiktion ins Chaotische und erklärte Virtuosität zur absurden und eigenartigen Regel eines fiktionalen Kosmos auf der Bühne. Ab dann löste sich der Zirkus von narrativen Dramaturgien und überschritt die Grenzen zu anderen Sparten wie Medienkunst, Tanz oder Bildende Kunst." Eine Entwicklung, die viele Institutionen aufmerksam verfolgen.

Die Ruhrfestspiele haben seit Olaf Kröcks Intendanzstart 2018 eine Sektion für Zirkus, das internationale Festival Tanz im August zeigt schon lange Kooperation zwischen Choreograph*innen und Zirkusautor*innen, wie sie in Frankreich oder Benelux gängig sind. Ergebnis der Hybridisierung und des spartenübergreifenden Arbeitens sind Stücke jenseits von Nummern und Attraktionen, mit einem durchgehenden dramaturgischen Bogen. In ihnen sind Zirkusdisziplinen wie Akrobatik oder Jonglage nurmehr darstellende Mittel unter anderen, um gesellschaftliche Verhältnisse zu spiegeln, relevante Diskurse aufzugreifen oder auf existenzielle Fragen abzuheben.

"Humans 2.0" von Circa in der Sektion "Neuer Zirkus" bei den Ruhrfestspielen 2023 © David Kelly

Ein für mich prägendes Beispiel bei Tanz im August war "Nos limites" (2013) von Mathias Pilet und Alexandre Fournier mit dem Choreographen Radhouane Al Meddeb. Mit klassischer Partnerakrobatik verhandeln Pilet und Fournier Themen wie Solidarität mit Schwächeren, Kooperation und Hoffnung. Pilet benutzt über weite Strecken seine Beine nicht und wird von Fournier getragen, gezogen und in die Luft gehoben. Obwohl die Assoziation der gelähmten Beine mit Blick auf das ableistische Ideal des durchtrainierten, hoch funktionalen Akrobatenkörpers problematisch erscheinen kann, ist "Nos limites" ein dramaturgisch hervorragend gearbeitetes Duett von anrührender Aufrichtigkeit.

Das ekstatische Gefühl von Leichtigkeit

Grundlegende Fragen des Menschseins stellt auch Yoann Bourgeois. In "Celui qui tombe", das 2016 zu Tanz im August eingeladen war, stemmen sich die Tänzer*innen auf einer immer schneller rotierenden Plattform gegen die Fliehkräfte. In wechselnden Konstellationen versinnbildlichen sie räumlich Erfahrungen wie Einsamkeit, die Angst vor dem Absturz oder den Umgang mit Momenten der Gefährdung, aber auch den Zusammenhalt in einer Gemeinschaft und das ekstatische Gefühl von Leichtigkeit. Yoann Bourgeois, der als Choreograph von Musikvideos für Harry Styles, Coldplay und Selena Gomez oder von Modeschauen für Louis Vuitton mittlerweile in der Populärkultur gelandet ist, forscht in seinen Bühnenstücken am Moment der Schwerelosigkeit zwischen Aufstieg und Fall, im Englischen "suspension".

Gleichgewicht – oder Balance – als eine Kategorie der Mechanik ist eine der grundlegenden phsyikalischen Gegebenheiten, die Artist*innen virtuos nutzen. Diese Fähigkeiten eignen sich auch Künstler*innen anderer Sparten gerne an, wie der Künstlerische Co-Leiter des Berlin Circus Festival Josa Kölbel erzählt: "Wim Vandekeybus oder Anne Teresa de Keersmaeker nehmen viele Eindrücke aus dem Zirkus auf. Viele der Künster*innen ihrer Kompanien sind ehemalige Artist*innen, die die Möglichkeiten des akrobatischen Körpers nutzen, um auf der Bühne mehr Ausdrucksmöglichkeiten zu haben, ohne explizit Saltos zu machen." In Deutschland kommt der spartenübergreifende Zugriff auf den Zirkus mittlerweile an, sagt Kölbels Festival Co-Leiter Johannes Hillinger: "Auch René Pollesch oder Florentina Holzinger arbeiten mit Artist*innen."

Zunehmend ist der zeitgenössische Zirkus also präsent. Im März 2023 wurde er durch die UNESCO als eigenständige Form der Darstellenden Kunst in das immaterielle Kulturerbe Deutschlands aufgenommen. Der Bundesverband Zeitgenössischer Zirkus (BUZZ) arbeitet seit 2011 an einer kulturpolitischen Integration in bestehende Förderprogramme. "Eines der ersten Neustart-Programme während der Pandemie war ein eigener Fördertopf für Zirkus und Theater im öffentlichen Raum. Das wirkte wie ein Ventil, das sich öffnet: Zum ersten Mal konnten Künstler*innen unserer Branche sich auf strukturelle Fördermittel bewerben", sagt Anke Politz, die 2. Vorstandsvorsitzende des BUZZ und Künstlerische Leiterin des Berliner Chamäleon Theaters, das sich auf Neuen Zirkus spezialisiert hat. "Zeitgenössischer Zirkus ist eine gute Einstiegskunst für Menschen, die eher Angst haben, in ein Theater zu gehen", so Politz. "Ein Zirkuszelt, der öffentliche Raum oder eine freie Spielstätte wirken zugänglicher, lockerer. Wir bringen ein Publikum, das sich öffnen möchte, in Kontakt mit den Darstellenden Künsten."

Der Saal des Chamäleon Theaters in Berlin © Lucia Gerhardt

Die Nachfrage zieht ein neues Angebot nach sich: Zahlreiche Festivals haben sich in den letzten Jahren gegründet – das schon genannte CircusDanceFestival in Köln, das Atoll Festival am Karlsruher Tollhaus oder das Zirkustheater-Festival am Societaetstheater Dresden. Im November zeigen unter dem Titel "Zeit für Zirkus" mehr als 30 Spielorte in zwölf deutschen Städten ein Wochenende lang entsprechende Programme. Und die Berliner Festspiele experimentierten während der Ägide des spartenoffen denkenden Ex-Intendant Thomas Oberender kurz mit einer Programmschiene für Zirkus, die von Josa Kölbel und Johannes Hilliger kuratiert wurde. 2015 riefen die beiden als Pioniere dann das Berlin Circus Festival ins Leben.

Eine Einstiegsmöglichkeit in die Darstellenden Künste

Auf dem Gelände des Tempelhofer Feldes errichten der ehemalige Trapezkünstler und der Eventmanager, die sich aus Schulzeiten kennen, jeden August mit einem professionellen Team zwei Zelte und eine Outdoor-Bühne, um zehn Tage lang internationalen Zirkus zu präsentieren. Wie auch Anke Politz vom Chamäleon Theater sehen Josa Kölbel und Johannes Hillinger zeitgenössischen Zirkus als eine Einstiegsmöglichkeit in die Darstellenden Künste: "Der Erstkontakt ist im zeitgenössischen Zirkus leichter möglich als bei anderen Kunstformen", sagt Johannes Hillinger. "Das seit jeher begeisternde Element der Akrobatik fasziniert die Menschen auch weiterhin.“ Stetig wächst das Publikum, 2023 ist das Berlin Circus Festival mit einem ausverkauften ersten Wochenende gestartet. Die Karteneinnahmen sind wichtig, aber Kölbel und Hillinger erhalten für ihre Unternehmung eine der seltenen öffentlichen Förderungen, die es in Deutschland für Zirkuskunst bislang gibt: Vier Jahre lang, bis 2027, gibt es Geld aus der spartenoffenen Förderung für Festivals und Reihen des Berliner Senats.

In diesem Jahr liegt der Länderschwerpunkt des Festivals auf den Niederlanden. Bei den Kurzstücken, die zum Auftakt auf der Freiluft-Bühne laufen, zeigt Luuk Brantjes mit dem Solo "Lone" einen Tanz mit dem Schleuderbrett. Dieses sehr klassische Zirkusgerät, auch Teeterboard oder koreanische Plane genannt, betrachtet Brantjes, der derzeitigen Hinwendung des zeitgenössischen Zirkus zum Transhumanismus und den nicht-menschlichen Akteur*innen entsprechend, eher als Gefährten denn als Objekt. Ein Gegengewicht auf dem Sprungbrett macht eine*n menschliche*n Partner*in obsolet. Zeitweise auf eine Drehscheibe aufgesetzt, ermöglicht das Schleuderbrett Brantjes etliche Balancefiguren mehr als nur die gesprungenen Klassiker des Nummernzirkus wie Salto oder Schraube, die der Niederländer zum Abschluss jedoch auch zeigt. Spielerisch wirken die Erkundungen, Brantjes verleiht seiner Disziplin einen poetischen Touch.

Trapez und Teeterboard auf dem Berlin Circus Festival © Elena Philipp

Mit krachigem Humor agiert hingegen Júlia Campistany. Die katalanische Trapezkünstlerin beweist in "It Happens" ein Talent zum Clown: Bei einer einleitenden Tanznummer öffnet sich ihre Wickelhose, dann rutschen die Holme der Trapez-Querstange auseinander und lassen die Katalanin in einer waghalsigen Pose in zwei Metern Höhe am Seil hängen. Das Publikum ist, nach anfänglichen Momenten der Unsicherheit, ob die Pannen intendiert sind, schnell auf Campistanys Seite. Denn natürlich sind auch in "It Happens" etliche klassische Trapezkunststücke zu sehen, eingesponnen in den flapsig inszenierten Widerstreit von Scheitern und Gelingen, peinlichem Misslingen und strahlendem Können.

Der maximale Effekt

Sympathische Nahbarkeit stellen in "bitbybit" die Brüder Simon und Vincent Bruyninckx her – und offerieren zugleich ihre makellosen artistischen Fähigkeiten. "Jaws of Steel" nennt sich die Disziplin, bei der zwei Akteur*innen ihr eigenes Gewicht vor allem mit der Kraft ihrer Nackenmuskeln halten. Ein Gebiss, das in der Form der Mundhöhle des Artisten entspricht, hilft bei der Kraftübertragung; in die daran befestigten Lederbänder können mit Karabinern Seile oder andere Geräte eingehakt werden. Die Bruyninckx-Brüder messen sich so im Tauziehen, sie nutzen die Verbindung ihrer Körper über das Seil aber auch für akrobatische Hebungen und Schwebefiguren – und gen Schluss hängt einer der beiden aus der Kuppel des Zelts, in einer ähnlich auf Tapsigkeit und Versehen inszenierten Nummer wie bei Júlia Campistany.

Durch Zwinkern und Lächeln unterspielen die Performer, dass die Darbietung durchaus auf maximalen Effekt zielt. Der zwischen Spannung und Entladung oszillierende dramaturgische Aufbau von "bitbybit" erzeugt die klassische Rezeptionshaltungen des Zirkus – "Ah"-Rufe, kollektives Luftanhalten, Erleichterung, wenn ein Kunststück gelingt. Daneben tritt eine emotionale Ebene, wie sie dem Anspruch des zeitgenössischen Zirkus entspricht. "bitbybit" erzählt, ähnlich wie "Celui qui tombe" von Yoann Bourgeois, mit artistischen Mitteln von Verbindung und Konkurrenz oder Nähe und Abstand. Humor ist ebenfalls ein Inhaltsstoff: Kurze Pausen nutzen die Performer, um eine Verbindung mit dem Publikum aufzunehmen. Sie lachen erleichtert oder zeigen mit entschuldigendem Schulterzucken die absurd riesigen, mit Spucke verklebten Gebissteile, die sie sich dann wieder in den Mund schieben.

"Bello!" von Fabbrica C beim Berlin Circus Festival © Davide Garrone

Selbstironisch agieren auch die sechs Akrobat*innen und der Schauspieler in "Bello!" der italienischen Kompanie Fabbrica C. In klassischer Partnerakrobatik steigen sie einander auf den Rücken, lassen sich im Kreis schwingen oder springen Salti auf die Schultern ihrer Kollegen. Die Nummernfolge heißt hier "eine Sammlung von Kurzgeschichten". In den Texten, die Giacomo Martini spricht, geht es um Absurditäten des Alltags und subtile Brutalität – die Ärgernisse des Schlangestehens in einem Feinkostladen, die flüchtige Begegnung mit einer selbst im Dunkeln des Kinos schönen, aber unerreichbaren Frau, einen Welpen auf einem Volksfest, der mehr Aufmerksamkeit erhält als ein hilflos auf dem Boden liegender Mann. Zur Story vom dicht gedrängten Anstehen verknoten die Artist*innen ihre Leiber zu Glieder-Knäueln, bei der Frage des (un)gesunden Abstands zur Welt bauen sie einen drei Menschen hohen Turm. Trotz der offensichtlichen Anstrengung, Text und Aktion aufeinander zu beziehen, wirken die Ebenen hier nur lose verbunden. Das erweist sich auch in den lustigen Einlagen – ein Tanz in rosa Tutus oder Ohrfeigenduelle im Rahmen einer Modenschau –, die mit keinem Text korrespondieren und sich nicht zu einem inhaltlichen Ganzen fügen.

Nicht immer also kann der zeitgenössische Zirkus mit seinem eigenen Anspruch mithalten. Aber sehenswert sind die Inszenierungen dieser "Einstiegskunst" in jedem Fall. Noch bis zum 20. August gibt das Berlin Circus Festival einen Einblick in den zeitgenössischen Zirkus, eine neue Sparte, die sich im Kreis der Darstellenden Künste auch in Deutschland zunehmend etabliert. Und von deren Publikumsorientierung sich die Stadt- und Staatstheater, die ihre Zuschauer*innen derzeit neu entdecken, sicher einiges abschauen können.

 

Lone
Von und mit Luuk Brantjes (NL)
Konzept: Luuk Brantjes, Künstlerische Beratung: Benjamin Richter, Musik/Komposition: Joel Roxendal, Koproduktion: Perplx
Mit: Luuk Brantjes
www.luukbrantjes.com

It Happens
La Campistany (CAT)
Konzept und Regie: La Campistany, Musik/Komposition: Rémi Lebocey, Zé Malandro, Júlia Campistany, Licht: Arjan Hendrickxs, Kostüm: Ana C., Outside eye: Griselda Juncà, Tomeu Amer
Mit: Júlia Campistany, Zé Malandro
www.lacampistany.com

bitbybit
Movedbymatter & Collectif Malunés (FR/BE)
Konzept: Simon Bruyninckx, Vincent Bruyninckx, Kasper Vandenberghe, Regie: Kasper Vandenberghe, Dramaturgie: Matthias Velle, Musik: Dijf Sanders, Bühne: Sébastien Renaud
Kostüme: Johanna Trudzinski, Licht: Olivier Duris, Benjamin Eugène, Ton: Anthony Caruana, Sofia Zaïdi, Outside eye Choreographie: Esse Vanderbruggen, Produktion: Movedbymatter & Collectif Malunés
Mit: Simon Bruyninckx, Vincent Bruyninckx
www.collectifmalunes.be

Bello!
Fabbrica C (IT)
Regie und Kreation: Francesco Sgrò, Dramaturgie: Jean-Michel Guy, Choreographische Begleitung: Teresa Noronha Feio, Akrobatische Begleitung: Davide Visintini, Theatrale Begleitung: Luca Quaia, Produktion: Cordata F.O.R und Fabbrica C in Zusammenarbeit mit Flic Circus School
Mit: Britt Timmermans, Mario Kunzi, Tijs Bastiaens, Camille Guichard, Vittorio Catelli, Antonio Panaro, Giacomo Martini
www.fabbricac.it

www.berlin-circus-festival.de

 

 

 

Kommentare  
Zeitgenössischer Zirkus: Kurios
Kurios ist das schon. Während im Theater die Dekonstruktion, die Zerschlagung der Fabel, die Fragmentierung als Ausweis der Modernität gelten, geht der Zirkus, der in dieser Hinsicht Avantgarde sein könnte, den umgekehrten Weg. Zugleich beweist dieser interessante Überblick, dass es andere als innerkünstlerische Gründe sind, die die Evolution bedingen. Auch hier gilt, dass materielle Interessen die vorgeblich ästhetischen Entscheidungen bestimmen. Das kann man ja hinnehmen. Man sollte dann aber nur vorsichtig sein, ehe man zu wissen vorgibt, was unserer Gegenwart gerecht wird und was veraltet sei.
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