Bankrottbereite Lebensdistanz

von Dorothea Marcus

Avignon, 8. Juli 2007. Während es in Deutschland seit einigen Jahren eine Renaissance des katholischen Dichters Paul Claudel gibt, war er in Frankreich nie von den Bühnen verschwunden: Die Regisseurin, Schauspielerin und Leiterin des Pariser Théâtre de l'Aquarium Julie Brochen hat für das 61. Festival von Avignon "Der Tausch" inszeniert, das frühe und in Deutschland kaum gespielte Stück eines hitzigen 25-jährigen, der als junger Diplomat 1893 nach New York kommt.

Als ein Jahr später die erste Version von "Der Tausch" erscheint, ist laut Claudel "Amerika darin die 5. Person". Die anderen sind Marthe und Louis Lane, Anfang 20, seit sechs Monaten verheiratet, die bitterarm in einer Art europäischem Niemandsland irgendwo am Meer leben – und das reiche amerikanische Paar Thomas Pollock und Lechy Elbernon, die den Atem der neuen Welt, Frivolität und Verführung in die kleine Welt der Europäer bringen.

Die bodenständige Marthe möchte nichts weiter, als ihrem Mann zu Diensten sein, von Amerika hat sie nur in Büchern gelesen, doch sie wird Faustpfand in einem Spiel, das Hollywood-Filme wie "Ein unmoralisches Angebot" vorwegzunehmen scheint: denn Thomas Pollock begehrt sie so sehr, dass er ihrem Mann viel Geld bietet, damit der sie verlässt – und damit es noch leichter wird, verführt ihn seine eigene Frau.

Marthe findet sich verstoßen, ihre kleine Welt und moralische Orientierung brechen zusammen: Amerika, das Land der Träume, lässt ihre Werte implodieren. Zum Schluss wird Louis Lane von seiner neuen Liebhaberin Lechy erschossen auf ein Pferd gebunden – während das Vermögen von Thomas in Flammen aufgeht. Doch natürlich ist es nicht so banal: Paul Claudel spielt mit Lebenskonzepten, testet Leidenschaften aus, und hat sich selbst ganz klar als der verführbare Louis Lane gesehen.

Akkordeon und Spitzendeckchen
Vor sechs Jahren hatte Julie Brochen bereits einmal die Marthe gespielt, unter der Regie von Jean-Pierre Vincent. Nun ist sie Regisseurin und Marthe gleichzeitig. Im Zelestinerkreuzgang in Avignon weht der Mistral den Weihrauchduft bis in die letzte Stuhlreihe hoch, das Bühnenbild ist eine zwischen zwei Riesenplatanen gespannte Leine, auf der ein Perserteppich und Spitzendeckchen hängen.

Weil für Claudel alle vier Figuren "eine einzige, viergeteilte Seele" sind, und man im Theater "nicht verstehen, sondern sich überwältigen lassen soll", hat Julie Brochen den Abend als Musikstück angelegt, in dem die Sprache zelebriert, aber auch getanzt und gesungen wird – und der Musikskulpteur Frédéric Le Junter mit selbst gebauten Instrumenten, bizarre Eisentonnen, Baumaschinen oder Windmaschinen im Bühnenbild, einen steten Klangteppich erzeugt: quietschende Türen, melancholisches Hauchen, flimmernde Akkordeonklänge.

Louis Lane (Antoine Hamel) ist ein somnambuler, erstarrter Junge, der sich mit leicht vom Körper gestreckten Armen von den Amerikanern verhexen lässt und eher auf höheren Befehl in eine Ehe geschlittert scheint, die ihn mit ihrem Absolutheitsanspruch überfordert. Julie Brochen ist als Marthe ein kleines Mädchen mit naivem Blick und Gesten, die immer mehr zur großen, metaphysisch Leidenden und großen Liebenden wird: als Lichtpunkt alleine auf schwarzer Bühne, ringt sie mit der neuen Orientierungslosigkeit – und schafft es trotzdem, ihrem amerikanischen Verführer zu widerstehen.

Cooler Kapitalist
Thomas Pollock wird brillant von Fred Cacheux gespielt: eigentlich ein schmächtiger junger Mann mit weinrotem Hemd und Jeans, wird er auf der Bühne nur durch seine aufsehenerregende, gewaltig modulierte Stimme und den coolen Sprachrhythmus zum lässigen Kapitalisten und selbstgefälligen Präriecowboy, bellt kurz sein "well" in den Nachthimmel, ebenso erfolgsgewohnt wie bankrottbereit, mit einer zynisch-überlegenen Lebensdistanz und gut doppelt so alt wie Marthe – die er offenbar nur haben will, weil sie noch an etwas glaubt.

Mit Grandezza und Ruhe reagiert er auf sein brennendes Haus, bekehrt vom Zynismus zur Absolutheit der Bäuerin Marthe. Unfreiwillig komisch dagegen ist zuweilen das betont Dämonische des Vamps Lechy Elbernon (Cécile Péricone), der sogar ein kleines rotes Teufelshörnchen ins schwarze Haar gefärbt wurde: sie singt rhythmisch zur Musik über die unwahre Wahrheit des Theaters, spuckt echtes Feuer, gibt chargenhaft eine enthemmte, gebrochene Whisky-Schlampe – auch die choreografischen Körperverrenkungen von Louis Lane zeigen wieder einmal, wie nahezu unmöglich eine Grenzüberschreitung von Tanz und Schauspiel ist.

Multidisziplinäre Textoper
In Claudels Stück hat man oft eine Kritik an einem, vom Kapitalismus geprägten Menschenbild gesehen, das den Einzelnen nur noch als Ware konsumiert. Dem setzt Claudel hier noch einmal die alte europäische Spiritualität entgegen. Gleichzeitig erzählt "Der Tausch" aber auch von der Faszination, die Amerika auf den jungen Dichter ausgeübt hat. Die junge Regisseurin jedoch interessiert sich letztlich kaum für Amerika: sie macht ein Stück über die Macht und Schönheit der französischen Sprache daraus, eine multidisziplinäre Textoper, die zelebriert wird wie ein Gedicht: Amerika wird einverleibt.

Sprachfeiern versprechen auch die anderen Stücke dieser 61. Ausgabe des größten Theaterfestivals der Welt, etwa "Der unbekannte Akt" des französisch-schweizerischen Dramatikers Valère Novarina, der im großen und mythischen Ehrenhof des Papstpalastes einen phonetisch-poetischen Wort- und Bewegungszauber inszeniert. "Der Akt ist jungfräulich, selbst wenn er wiederholt wird", ist auch das sprach- und theatergläubige Motto des diesjährigen Festivals, gedruckt auf Programmheften und Festival-T-Shirts. Es scheint gut anzukommen: "Eine Rückkehr zu den Wurzeln", jubelt die lokale Presse, nachdem endlich wieder ein Franzose, der Regisseur Frédéric Fisbach, der kuratierende Künstler ist – nachdem Thomas Ostermeier, der Antwerpener Orgienfabrikant Jan Fabre oder der Kleinteil-Choreograph Joseph Nadj das Festival in den letzten Jahren in große Diskussionen stürzten.

 

Der Tausch
von Paul Claudel
Inszenierung: Julie Brochen, Bühne: Frédéric Le Junter, Kostüme: Sylvette Dequest.
Mit: Fred Cacheux (Thomas Pollock), Cécile Péricone (Lechy Elbernon), Julie Brochen (Marthe), Antoine Hamel (Louis Lane).

www.festival-avignon.com

Kritikenrundschau

In der Neuen Zürcher Zeitung (16.7.2007) lässt Marc Zitzmann kein gutes Haar an dem Festival: "Der Auftakt der Jubiläumsausgabe enttäuschte. Statt neuen Bluts boten Frankreichs Theatermacher bloss alte Kamellen. Das Festival d'Avignon schaut älter aus denn je." Als "dröge, eindimensionale Kopfgeburt" fällt Novarinas Sprachspiel "L'acte inconnu" durch: "Was manche als Novarinas Sprachvirtuosität feiern, entpuppt sich schon bald als ein T(r)ick, eine manierierte Masche, die es dem Autor erlaubt, läppische Wortspielchen, Neologismen von bedingter Originalität, ermüdende Aufzählungen und erzwungene Paradoxien quasi am Laufmeter zu produzieren." Julie Brochens "L`Echange" sei irritierend reibungslos geraten: "Das Darsteller-Doppel wirft sich die Tiraden zu wie Pingpongbälle, und man spürt, dass jeder bereits auf das nächste Stichwort wartet, ohne den Spielpartnern zuzuhören." (unsere Kritik hier) Einzig Frédéric Fisbachs Inszenierung von Jean Genets "Paravents" suche eine "Darstellungsform jenseits der ausgetretenen Pfade" und schien dem Kritiker einigermaßen gefallen zu haben.

 

Kommentare  
Avignon 1
Interessante Kritik der Aufführung. Habe sie als Link in meine Seite http://festivalavignon.free.fr/echange.htm aufgenommen.
Die letzten Jahre halte ich trotz Diskussionen künstlerisch für sehr gelungen. Ob man dies von Fisbach auch für das internationale Publikum sagen kann, muss sich noch zeigen. Vigier
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