Nach Moskau! Nach Moskau! − Festivaleröffnung mit Frank Castorfs Drei-Schwestern-Deutung
Drei am Ziel
von Thomas Irmer
Moskau, 25./26. Mai 2010. "Was für eine unruhige Nacht!" Als der Satz nach zweieinhalb Stunden, kurz vor der Pause, im nicht ganz ausverkauften Mossowjet-Theater vor knapp 1000 Zuschauern fällt, gibt es Szenenapplaus. Der Selbstkommentar von Frank Castorfs Interpretation der "Drei Schwestern" zur Eröffnung des Internationalen Tschechow-Festivals gehört eigentlich in die all-bekannte Welt der Generalstöchter, die sich aus der Provinz am Ural nach Moskau zurücksehnen. In diese hat Castorf eine von Tschechows weniger bekannten, düsteren Erzählungen szenisch einmontiert. "Die Bauern" handelt von der Rückkehr einer Familie in ein verkommenes Dorf, nachdem der Vater seinen Job als Kellner im Hotel "Slawischer Basar" hat aufgeben müssen und das Leben in der Stadt zu teuer geworden ist.
Kurz: die einen sehnen sich immer nach Moskau, die anderen kommen gerade von dort. Erstere empfangen Offiziere im Salon, letztere finden sich im ländlichen Lumpenproletariat wieder. In beiden Geschichten gibt es einen nächtlichen Brand als katastrophischen Hintergrund und vorrevolutionäres Zeichen an der Wand.
Vom Landei zur Zarin
Bert Neumanns Bühne setzt die Schauplätze beziehungsreich nebeneinander: Rechts die gezimmerte Veranda, links ein schon auseinanderfallendes Holzhäuschen, aus dem die Rohheiten der Mushiks per Live-Video auf eine grobgerasterte LED-Tafel übertragen werden. Und darüber, beziehungsweise dahinter der schöne russische Birkenwald. Keine echten Stämme, wie seinerzeit an Peter Steins Schaubühne, sondern Birkenwald grob, auf einer Plane aufgehängt.
Erwartungsgemäß setzt sich Castorf mit der Rezeptionsgeschichte auseinander, speziell mit der langen Nachwirkung von Tschechows Uraufführungsregisseur Konstantin Stanislawski, dessen Methode der psychologischen Einfühlung in abgerundete Figuren in Deutschland noch einmal in den achtziger Jahren in Peter Steins klassizistischen Tschechow-Aufführungen an der Schaubühne zur Blüte kam. Ein Ideal, dem hierzulande erst durch sein ganzes Gegenteil, die Castorfsche Schauspieler-Entfesselung, die unumschränkte Herrschaft streitig gemacht wurde.
Für die Besetzung hat Castorf einen Teil seiner legendären Family zusammengebracht. Kathrin Angerer spielt die ungeliebte Schwägerin Natascha, die sich vom Landei zur bio-bewussten Überfürsorglichkeitsmutter mit wenig Interesse für die Nöte anderer aufschwingt. Am Ende – der vierte Akt wurde selten so ausführlich auserzählt und weitergesponnen – hält sie sich sogar für eine Zarin. Auch ihre drei Schwägerinnen Silvia Rieger (Olga), Jeannette Spassova (Mascha) und Maria Kwiatkowski (Irina) drohen in diesem fortgeschrittenen Stadium des Abends in den Wahnsinn abzudriften, wenn sie wie drei schwarze Furien immer wieder den berühmten Schlusssatz herausschreien: "Wenn man es nur wüsste!"
Der leicht slapstickhaft angelegte Werschinin Milan Peschels hat sich da wohlweislich aus dem Staub gemacht. Ein schönes Wiedersehen außerdem mit Bernhard Schütz als Tschebutykin, der seine Probleme mit Tusenbach hat. Lars Rudolph kann beim russischen Publikum punkten, wenn er diesem versichert, dass er zwar einen deutschen Namen habe, aber garantiert kein Deutscher sei.
Konter gegen Gefühligkeit
Überhaupt ist die Stimmung zunächst recht heiter und die Rezeptionskritik nicht allzu offensiv oder gar aggressiv mit einbezogen. Die insgesamt viereinhalbstündige Inszenierung lädt sich nach einem geradlinig übersichtlichen "Drei Schwestern"-Einstieg erst castorfsch auf, wenn das Spiel vom Salon in die Gosse wechselt. Hier trägt Trystan Pütter (im Parallelstück der glücklose Spieler Andrej) Lenin und Stalin auf der Brust tätowiert (im Gulag bei Kriminellen ein beliebtes Motiv), und Bernhard Schütz als ebenfalls üppig tätowierter Ossip terrorisiert in der für solchen revolutionären Schwung viel zu engen Hütte alle Unterschichtler mit einer roten Fahne.
So erhält der Abend seine These nach Heiner Müller: "Dass Marx und Engels das Lumpenproletariat aus der revolutionären Bewegung ausgegrenzt haben, war die Grundlage der stalinistischen Perversion."
Solcherlei in Moskau im Castorf-Stil vortragen zu lassen ist kühn und etwas anachronistisch zugleich, denn die einzige revolutionäre Bewegung heute ist das Kapital, und das grenzt das Lumpenproletariat ganz selbstverständlich aus der Gesellschaft aus, ohne darüber lange nachdenken zu müssen.
Bärbel Bolles subproletarische Babka sinniert, eine Ikone in der Hand, dass "früher" – zu Zeiten der Leibeigenschaft – doch alles besser gewesen sei. Für das Publikum war dieses zweifache Einsprengsel als Konter gegen die Gefühlsseligkeit der Sehnsuchtsschwestern spürbar eine Überraschung und für den Veranstalter vielleicht die Art interpretatorischer Provokation, die er von Castorf erwartet hatte. Eine solche Montage würden sich russische Regisseure, die mit Tschechow auch schon alles mögliche gemacht haben, jedenfalls nicht wagen.
Schwarze Aussichten, grün angestrichen
Von Tschechows Erzählung gibt es eine nur in der Gesamtausgabe vorliegende erweiterte Fassung, in der die Witwe mit der minderjährigen Tochter Sascha (Maria Kwiatkowski) nach Moskau zurückkehrt. Dort wird Sascha nur als Prosituierte überleben. Castorf setzt diese "Ergänzung" neben den grotesk ausfabulierten vierten Akt - und kommt damit irgendwie in der Gegenwart an: die einen sorgen sich um Bio-Produkte für ihre Kinder, die anderen haben welche, die anschaffen gehen müssen. Das Traurige ist ja, dass Castorfs Tschechow-Doppel dafür sogar stimmig ist.
Wie immer war die Premiere in Moskau der erste geschlossene Durchlauf, und auf dem Weg zu den Wiener Festwochen und dann, nach dem Sommer zum Heimspiel in der Volksbühne werden wohl einige Akzente und auch schauspielerische Kabinettstückchen noch stärker ausgearbeitet werden. Auf jeden Fall hat Castorf seine russische Linie von Sorokin, Dostojewski und Bulgakow nach längerer Pause mit einer wichtigen Arbeit fortgesetzt.
Wie gut sie wirklich ist, wird sich wahrscheinlich erst zeigen, wenn die Unruhe nach einigen Vorstellungen vollkommen eingerichtet ist. In Moskau jedenfalls hatten sich die Zuschauerreihen im Mossowjet-Theater weit nach Mitternacht überraschend wenig gelichtet, und die sitzengeblieben waren, spendeten freundlichen Applaus.
Nach Moskau! Nach Moskau!
nach Anton Tschechows "Drei Schwestern" und der Erzählung "Die Bauern"
Regie: Frank Castorf, Ausstatter: Bert Neumann, Licht: Lothar Baumgarte, Musik: Sir Henry, Dramaturgie: Sebastian Kaiser.
Mit: Kathrin Angerer, Bärbel Bolle, Margarita Breitkreiz, Michael Klobe, Maria Kwiatkowsky, Bernhard Schütz, Milan Peschel, Trystan Pütter, Silvia Rieger, Lars Rudolph, Mex Schlüpfer, Sir Henry, Jeanette Spassova und Harald Warmbrunn.
Eine Koproduktion der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz mit dem Internationalen Tschechow Theater Festival, den Wiener Festwochen und dem Goethe-Institut Moskau.
Offenlegungstatbestand: Thomas Irmer ist auf Einladung der Berliner Volksbühne im Auftrag von 3sat nach Moskau gereist.
{denvideo http://www.youtube.com/watch?v=I6l2hFI-no0}
In der Süddeutschen Zeitung (27.5.2010) schreibt Sonja Zekri: "Am Ende war das Mossowjet-Theater nur noch halb voll, aber viele derjenigen, die bis zum Schluss geblieben waren, hatten das Gefühl, einem Ereignis beigewohnt zu haben." Und sie zitiert einen begeisterten Zuschauer: "So gut hat Tschechow lange keiner verstanden." Frank Castorfs (für Volksbühnen-Verhältnisse "gemäßigte") Inszenierung zeige den "idyllischen Stillstand der Provinz" als "hysterischen Zirkus", die drei Schwestern seien "blasierte Loser": "Kein Fall für den Artenschutz mehr, sondern Sitcom-Stoff." In den ersten Szenen der "Bauern" hingegen triumphiere der "Sozialkitsch", mit dem Castorf die "sehr russische Frage" nach dem glücklicheren Leben auf seine Weise stelle. Das Verhältnis russischer Theatermacher zu ihren Klassikern sei ja "affirmativ bis zur Atemnot". In der Tat kenne Russland "kein Regietheater", man nähere sich den Texten "auf Knien". Eine Klasssikerzertrümmmerung wie sie der Schriftsteller Vladimir Sorokin in seinem Buch "Der himmelblaue Speck" vorschlage, sei ein "Einzelfall". "Viele Russen fühlen sich der Dekonstruktion nicht gewachsen. Andere sehnen sie herbei."
In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (27.5.2010), in der Frank Castorfs Arbeiten ja sonst nicht so beliebt sind, berichtet Kerstin Holm sehr angetan von der Premiere. Castorf habe sich, wie er in Moskau erklärte, zunächst "gesträubt" in Russland Tschechow zu inszenieren. Doch dann habe ihn der "unbarmherzige Naturwissenschaftlerblick auf den Menschen" doch gereizt, "der in den Scheindialogen der drei Schwestern einen Abgrund von Grausamkeit bloßlegt". "Unter der Gefühligkeit zeitgenössischer Tschechow-Lektüren, gegen die der Autor schon zu Lebzeiten kämpfte, wollte Castorf seine 'amerikanische' Härte hervorholen. Dazu fährt er gleichsam die Kamera zurück in eine zersplitterte Totale." Silvia Rieger, Jeannette Spassowa und Maria Kwiatkowsky seien als die drei Schwestern "harte, wie aus einem Hopper-Gemälde entsprungene Schönheiten", Sir Henry als Kulygin flössen die "Worte weich und unpersönlich aus dem Mund" "als gehörten sie zu einer Partitur minimalistischer Musik". Das "Nicht-Drama auf dem Podest" sei "mit eckigen Gesten, stummfilmtauglichem Mienenspiel, heftigen Schreiausbrüchen" choreographiert, was einen Journalisten im Publikum "an den Ton der Wehrmacht" erinnerte. Der "begeisterte" Theatermacher Andrej Spiridonow habe bekannt, dass er die Deutschen beneidete, da deren Schauspieler "sich im Text verbrennen" könnten "wie bei uns einst Wladimir Wyssotzki". Heute sei an russischen Theatern ja "eine neckisch ironische Spielweise leider fast obligatorisch". Auch die fast positive Sichtweise auf die "Bauern" unterscheide Castorf von den russischen Kollegen, "die diesen Text lieber als eindimensional brutale Drogen- und Kriminalitätshölle inszenieren". Nach der Premiere hätte die "Profikritik" von "Formverlust" gesprochen, "doch Verlegerin Irina Prochorowa, die Zarin der intellektuellen Szene, erblickt in dem Werk einen funkensprühenden Splitterspiegel nicht nur der russischen Zustände".
Christian Esch in der Berliner Zeitung (27.5.2010) winkt hingegen etwas ab. Vom Zertrümmern verstünden die Moskauer durchaus selbst etwas (gut, vielleicht nicht auf der Bühne...) und eine gespaltene Gesellschaft würde man tagtäglich live erleben, dazu brauche man eigentlich nicht ins Theater zu gehen. Der Kraft der "eigentlichen Hauptfigur", Natalja Iwanowa, der aufstiegssüchtigen Schwägerin, gespielt von Kathrin Angerer als "unbedarfte, machtgeile Schlampe", will aber auch er sich nicht entziehen: In den (von Dostojewski übernommenen) Worten, in denen sie vom "Gottesträgervolk" tönt, hört er "den puren Faschismus". Natalja stelle auch das Bindeglied zum "Bauern"-Text dar, den Bert Neumann auf der linken Seite der Bühne "in einer niedrigen, baufälligen Hütte" angesiedelt hätte. Rechts hingegen "parliert" "auf hoher, lichter Terrasse das Milieu von Provinzadel und -militär". Die Unterteilung in links das "Subproletariat, wie es bestenfalls im Dienstleistungssektor in die schon unanständigen Verrichtungen abrutscht, und rechts – faschistoide Bioladen-Eltern" würde natürlich "nicht recht aufgehen" – "aber es wäre ja auch nicht Castorf, wenn alles aufgehen würde und müsste".
Castorf wolle Tschechow "den bösen Humor zurückgeben, der auch sein eigener ist". Für Barbara Petsch von der Wiener Presse (13.6.2010) ist das durchaus schlüssig, zeige Tschechows Stück doch "die ungeheure passive Aggressivität wohl erzogener Leute". "Stundenlang" könne man von den "raffinierten, witzigen, hintersinnigen und perfiden Vernetzungen schwärmen, die Castorf zwischen den beiden Plots spinnt", müsse jedoch vor allem die "grandiosen" Schauspieler würdigen, "die nicht nur turnen und deklamieren müssen, sondern das auch in mehreren Sprachen, sogar in Russisch. Wie köstlich muss diese Aufführung in Moskau gewirkt haben!" Die Energie der Schauspieler, "ihre körperliche Artistik" seien "erstaunlich und eine Attraktion für sich". Angerers Natalja sei ein "wahrhaft hinreißendes Biest". Sie verkörpere die "moderne russische Frau, wie man sie auch in Wien jetzt oft sieht (...): ein Wesen, das sich stets seinen Vorteil krallt". Castorfs Theater "fordert, strengt an, quält, provoziert - aber nicht auf billige Weise." Es irritiere, "nicht nur wegen des vehement bizarren Spektakels, auch wegen der ausgeprägt linken Perspektive". Seine Inszenierung zeige "die Schattenseite der heiteren Konsumwelt".
Im "High-Level-Kreisch-und-Stöhn-und-Schrei-Kosmos" wähnte sich Caro Wiesauer vom Kurier (13.6.2010). Vier Stunden lang sehe man "Schwestern und Bauern zu, wie sie in ihrem Schicksal, dem Warten auf ein besseres Leben, gefangen sind". Man müsse diesen Abend, "auch wenn man Castorfs Arbeit prinzipiell zugetan ist, nicht uneingeschränkt mögen", da "der lautstarke Einsatz der natürlich grandiosen Schauspieler keinen Rhythmus, keine Melodie finden will und sich im anstrengenden, akustischen Brei verliert: Was ist wichtig, was aufregend, was nebensächlich oder langweilig? Egal, raus damit, und mit Gebrüll!" Weder wisse man genau, was uns das Ganze heute sage, noch, warum es so lang dauere. Mögen könne man die Arbeit hingegen dafür, dass in ihr "zwischen den Sprechorkanen (...) leise und umso hinreißendere Szenen versteckt" seien.
Castorf entdecke, "am stumpfen Ende der Geschichte angelangt", die "prekarisierten bürgerlichen Intellektuellen als Erben des von Marx und Engels verachteten Lumpenproletariats", schreibt Uwe Mattheiss in einem Festwochen-Zwischenfazit für die tageszeitung (14.6.2010). "Ihr Räsonieren im Stillstand aller Bewegungsmomente von Geschichte entmaterialisiert sich zu reiner emotionaler Energie. Ein Theater, dem in aller Virtuosität die Form schwindet." Castorfs Dialektik gelange "ans Ende der Kunst, ohne dafür ein befreites Leben einzutauschen".
Eine "Herausforderung" ist die Vierstundenproduktion für Ulrich Weinzierl von der Welt (14.6.2010) in jedem Fall. Die "Drei Schwestern" mit den "Bauern" zu verschneiden, sei "kein übler Einfall" - "vergebliche Hoffnung" auf Rettung durch Großstadt hier wie dort. "Des ungeachtet erreicht unser Verzweiflungsschielen nach dem Notausgang bis zur Pause die Dringlichkeit unwiderstehlichen Zwangs." Das "fortwährende Gebrüll des Nervensägentrios" der drei Schwestern in ihrem "russischen Dreimäderl-Irrenhaus" sei "unerträglich. Wer jetzt nicht taub wird, wird es nimmermehr. Ideal für Hardcore-Mitglieder der Castorf-Gemeinde." Im zweiten Teil werde man dann versöhnt. Selten habe sich "Castorfs Methode der Dekonstruktion derart kristallklar" gezeigt. "Was der Kaputtmacher zerdeppert hat, fügt er wieder zusammen. Aus den Scherben entstehen die alten Figuren mit neuen, gefährlich scharfen Zacken." Das "Raubtier Castorf, der Hammerphilosoph des deutschen Theaters", sei "noch nicht in Rente".
Castorf-Theater müsse "krass" sein, erläutert Barbara Villiger Heilig in der Neuen Zürcher Zeitung (14.6.2010). "Welchen Stoff auch immer er sich vorknöpft, handeln seine Inszenierungen seit längerem ausschliesslich vom Menschen als Hysteriker, obsessiv und repetitiv." Er lasse die "Schauspieler seiner ehemaligen Sturmtruppe (...) stundenlang unsere Ohren zudröhnen". Den Moskau-Abend verkaufe Castorf, der gerade seinen Chefdramaturgen hinausgeworfen habe und als "gewiefter Geschäftsmann" besser für sich selbst sorge als für sein "schwer in Schieflage geratenes Haus", als "Uraufführung", "obwohl es sich lediglich um eine Collage" zweier Texte handele, die "nach Regietheater-Manier" mit "dialektischem Anspruch" gegeneinander geschnitten würden. Dank Bert Neumann wirke "das Happening immerhin wie eine Bühneninstallation voller Glanz und Glamour". Darin werde "gesprochen bzw. gerufen und geschrien", und zwar "so überlaut, dass man schleunigst weghört und anlässlich der ununterbrochen die Kostüme wechselnden Damen ins Optische ausweicht". "Melancholie" beschleicht die Kritikerin, denn "Castorfs Theater genügt sich mittlerweile selber vollauf". Es kapsele sich ab und verzichte darauf, "mit der Restwelt zu kommunizieren".
"Das Sozialdrama der verarmten Bauern und die tief sitzende Sinnlosigkeitsempfindung des Bürgertums zu Ende des 19. Jahrhunderts haben in diesem Castorf-Theater der klassischen Schule nur mehr als miteinander operierende Zitate Platz", meint Margarete Affenzeller vom Standard (14.6.2010). Hier werde "kein Drama behauptet, sondern mithilfe exzentrischer Spielfiguren (die Schauspieler wirken zuweilen wie Puppen) eine geschichtliche Scharfstellung vollzogen, die das Unbehagen einer Wendegesellschaft, das revolutionäre Vorglühen durchscheinend macht". Das Ganze erreiche dank des "in vieler Hinsicht noch immer einzigartigen Volksbühne-Ensembles (...) ordentlichen Witz" und bleibe sogar "in arg zugerichteten Slapsticknummern mit traumwandlerischer Sicherheit eine ernsthafte, stimmgewaltige Auseinandersetzung mit den gesellschaftsphilosophischen Nöten des Ostens; Dostojewski und Heiner Müller immer mitgedacht".
"Triumph! Oder? Ja, doch: Triumph." Das vermeldet Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (18.9.2010) anlässlich der Hauptstadt-Premiere. Es sei in der Volksbühne schon "lauter, intensiver, gefährlicher, finsterer und lustiger" zugegangen, "aber schöner kann es eigentlich nie gewesen sein". In der Spannung zwischen "Plapper-Adel" und "Stammel-Schicht" sei "Musik: hier Sattheit und Bauchspeckprobleme (...); hier Liebesklagen und Potenzprobleme, da Inzest und Prostitution". Der thematische Bogen umfasse die "gescheiterte sozialistische Revolution" ebenso wie "die malträtierte Demokratie im heutigen Russland, das in eine diktatorische Oligarchie zurückdriftet". Dabei steige das Ensemble seit langem einmal "wieder hinauf, in den Grenzbereich zum Wunder, sucht mit neuer, weiser Bedacht die Entäußerung (...). Man sieht, wie sie die Situationen genießen". Sie alle ließen "alte Zeiten aufleben" und die "längst aufgegebene und unbegründete Hoffnung" wieder aufkeimen: "nämlich ob vielleicht doch einfach alles immer so weiter gehen kann, wie es war. Zumindest noch bis 2013."
Bei Christine Wahl vom Berliner Tagesspiegel (18.9.2010) hinterlässt der Abend "gemischte Gefühle". "Erwartungsgemäß" entdecke Castorf im Stück "das Gegenmodell zur Einfühlungsrezeptionslinie von Konstantin Stanislawski bis Peter Stein: die böse Komödie, die Klamotte" und zeige, dass Tschechow "durchaus zur Sitcom taugt". Diese "gezielt brüllende Hysterie" liege auch "gut über dem jüngsten Volksbühnen-Durchschnitt". Dem "einst legendären Ensemble" schaue man gern zu. "Über die Dringlichkeit, das Einfühlungstheater als fundamentales Tschechow-Missverständnis zu entlarven", könne man allerdings durchaus streiten. Glücklicherweise trete "dieses Spiel mit der Tradition" im Laufe des Abends zugunsten der "Drei Schwestern"-"Die Bauern"-Verknüpfung in den Hintergrund - wobei "Sozialaufsteigerin Natalja als eine Art symbolisches Bindeglied fungiert". Leider werde man jedoch "lange Zeit das Gefühl nicht los, dass die Übermalung eher Behauptung bleibt", erst im "gedankenschärferen" zweiten Teil werde sie "auch dramaturgisch einleuchtend". "Jenen berauschenden diskursiven Überschuss, der sich in den großen Castorf-Arbeiten durch geniale Rollen- und Figurenüberblendungen wie von selbst herstellte, erreicht dieser Abend nicht."
Lesen Sie außerdem die Presseschau vom 9. Juni 2010 zu dem Interview mit Frank Castorf, das er dem Berliner Tagesspiegel gegeben hat und in dem er u.a. über Tschechow und seine Inszenierung spricht.
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Anmerkung der Redaktion:
Dass Theater freiberuflich tätige Journalisten einladen, sie zu einem Gastspiel zu begleiten, ist übliche Praxis. Eine absolut unübliche Praxis ist es, solche Einladungen offenzulegen wie wir es tun.
nikolaus merck
„Die Bauern“ dagegen sind „das Elend, der Dreck, das russische Dorf, der Muschik, der Schmutz.“ Und das ist dann Komik wie bei Tolstoi und Dostojewski, nur das Tschechow das ganz ohne Romantisierung brutal und trostlos beschreibt. Der Muschik ist immer schuld. „Wir sehen das Elend, aber im Hintergrund ahnt man bei Tschechow ein Wetterleuchten der radikalen Veränderung, die das 20. Jahrhundert dann heimgesucht hat, die Oktober-Revolution.“ Das liegt vor allem am Atheismus Tschechows, der sich gegen seinen religiösen Vater behaupten musste, meint Castorf. „Es gibt keinen Gott, es gibt nur Sinnlosigkeit.“ Das ist die Modernität von Tschechow.
Trotzdem wird er sich wieder Dostojewski zu wenden und im nächsten Frühjahr „Der Spieler“ inszenieren, wegen des göttlichen Prinzips außerhalb der Menschen, das uns Westlern so fremd ist. Also die Russen lassen Castorf wohl nach wie vor nicht los, nur das aus dem Castorf-Prinzip auch keiner wirklich schlau wird. Gott bei Dostojewski oder Atheismus bei Tschechow, Castorf bleibt ein Suchender.
Suchen muss er sich auch einen neuen Chefdramaturgen, denn Stefan Rosinski, der ihm ja mehr oder weniger vor die Nase gesetzt wurde, hat er entlassen. Gestörter Betriebsfrieden, keine brauchbare Spielplangestaltung, versuchte „feindliche Übernahme“, das ist schon Starker Tobak und nun muss Castorf selber ran und vielleicht gibt es ein Wiedersehen mit einigen alten Volksbühnenepigonen und Leander Haußmann.
Einen O-Ton Frank Castorfs zu seiner Inszenierung können Sie auch finden in einem Beitrag von "Die Stimme Rußlands", der etwa 20-minütig ist (zT. mit Zitaten von Stoppard und Perceval, aber auch bedeutende Biographen kommen zu Wort) zum Thema "Das internationale Tschechow-Festival eröffnete die Inszenierung eines deutschen Regisseurs"; ua. finden sich dabei auch Striche zur Aufnahme des Stückes durch das Moskauer Publikum.
htpp:// german. ruvr.ru/radio _broadcast/ 400 3546/9159885
Lieber Stefan: mit "Wir Westler" haben Sie -einigermaßen analog zu meinem "BRD II"
schon einen Ausspruch getan, dem nachzugehen wäre, denn das sehe ich als "Elb- und Ostseeslave" schon noch irgendwie als nicht ausgemacht; ebensowenig für ausgemacht halte ich den "Atheismus" bei Tschechow - ich habe da schon ganz andere Sachen zu gelesen im Slavischen Seminar der Kieler Uni und werde bei Gelegenheit darauf zurückkommen. Auch das Referenzdatum Oktoberrevolution halte ich für angreifbar, denn gerade der "Shiwago-Zeitraum" zwischen dem ersten Aufstand und dem Ausbruch der Revolution, flankiert von dem Übergang von Tschechow zu Gorkij oder eben jenen Dostojewskijdramatisierungen zu den "Karamasows" und den "Dämonen" , scheint mir da sehr viel naheliegender zu sein.
"Die Stimme Rußlands" kannte ich zuvor auch nicht, aber immerhin hat "Google"
die Zusammenstellung "Tschechow/Religion" so beantwortet, daß ich nicht lange suchen mußte, um an diesen Beitrag zu gelangen, der ua. ja auch von den ersten Moskauer Reaktionen auf die Inszenierung handelte (und da war seinerzeit die
Quelle, die nachtkritik de. angezapft hatte, nicht ergiebiger): das mit dem Castorf-
Interview halte ich für einen Glücksfall, und es wäre ja auch schön gewesen, wenn nachtkritik de. das aufgegriffen hätte und "geschaltet" (wenn das nicht aus irgendeinem Grunde unmöglich war, ist).
Das mit dem "Atheismus" von Tschechow wird bestimmt irgendwann hier wieder eine Rolle spielen; Stefan fragte ja mehr nach der Linie in den Castorf-Arbeiten !
Da ich letztlich auch die meisten Anregungen von tschechischen (Chytilova, Jires, Menzel, Forman ...), polnischen (Wajda, Kieslowski, Kawalerowicz), russischen (Tarkowskij), jugoslawischen (Kusturica ...) Filmen her oder eben von den russischen Schriftstellern und Religionsphilosophen (Karsavin, Berdjajew, Schestow, Solowjow, Bulgakow, Arseniev, Florenskij, Florowskij) erhalten habe, die mir etwas bedeuten, füge ich mich persönlich nicht "kampflos" dem Diktum, ein "Westler" zu sein, obschon ich selbst die Parallele BRD I (89/90), BRD II (09/10) aufmachte.
Immerhin liefert der Beitrag der "Russischen Stimme" mindestens den Hinweis darauf, daß über Tschechow seit über 100 Jahren auch sehr viel Blumiges und Vergötterndes gesagt und geschrieben worden ist, in der Biographie es aber nicht
an Platonow-Affinitäten fehlt !
Was Tschechow freilich einzigartig erscheinen läßt, ist die Art, wie er weder Proselyten macht, noch selbst einer ist.
Für Dostojewskij (siehe "Tagebuch eines Schriftstellers") war die Gretchenfrage
"Wie hältst Du es mit der Religion ?" noch ganz zentral (siehe "Menschen von damals"), und er rühmte es Belinskij als Gespür nach, diese Frage auch eingangs jeder weiteren Erörterung über den "Sozialismus" zu stellen, denn dieser sei ein
Kind der Wissenschaft, und die Wissenschaft der Todfeind der Religion.
Daß der Arzt Tschechow diese Todfeindschaft keineswegs weiterführte, sondern die höchste Blüte eines Realismus zuwege brachte , der aber untergehen müsse (Gorkij) , wurde des öfteren herausgestellt; andere (der Bericht erwähnt jenes
Mandelstam-Wort: "Hätte man den Schwestern doch sogleich drei Tickets gegeben, das Drama wäre vorbei ...") sahen eher artistische Dekadenz.
Keiner zog Tschechow entschieden in sein Lager: kein Tolstoi, kein Mereschkowskij, kein Gorkij, kein Revolutionär, kein Religiöser, kein anderer Symbolist -aber gerade für Belyi eröffnete sich hinter dem Werk Tschechows das Religiöse, in etwa im Sinne des Zitates, mit dem die Rowohlt-Monographie zu Tschechonte endet:
"Wir arbeiten unermüdlich für andere, und wenn unsere Stunde gekommen ist, werden wir drüben, jenseits des Grabes sagen, daß wir gelitten und geweint haben, daß unser Leben bitter gewesen ist. Gott wird sich unser erbarmen und uns wird
ein helles, schönes, köstliches Leben erwarten, wir werden uns freuen und gerührt und mit einem milden Lächeln auf unsere heutigen Leiden zurückblicken... Und wir werden uns ausruhen."
Eine sinnentleerte Veblödelung des Stückes. Alle Figuren mit derselben Klamaukgestik und dem eintönigen Einheitsgeschrei. Die Schwestern und ihre Schwägerin haben anscheinend noch Lachgas inhaliert und quäcken sich durch die Rollen wie Daisy Ducks ohne jede Gestaltung und Entwicklung der Charaktere.
Sicher ist es leichter die Figuren ohne jede Idee zu veralbern als sie ernst zu nehmen und etwas neues, modernes, zeitgemäßes und spannendes zu inszenieren.
Kann Castorf offensichtlich nicht, sondern immer nur mit den ewig gleichen abgedroschenen Regiegags die wir jetzt schon aus jeder seiner "Inszenierungen" kennen, durch die Lande ziehen.
"Gestaltung und Entwicklung der Charaktere" kann ich Ihnen kurz ausmalen, auch wenn Sie das garnicht wollen.
zB. Kulygins resignative Liebe zu seiner untreuen Frau, nichts davon zu sehen, sondern nur durchgehend ein englisch sprechender Clown.( Hat hier anscheinend Tschechow sehr ernst genommen der Herr Castorf, Sie dürften die Drei Schwestern das erstemal gesehen haben, wenn Sie das glauben).)
zB.Nataljas Wandlung von der Landpomeranze zur Haustyrannin nicht zu sehen sondern nur durchgehendes Einheitgeschrei.
zb.Cebutykins gescheitertes Leben und seine Resignation, nichts zu hören ,steht nur an der Rampe und schreit seinen Text ins Publikum.
Und so weiter,gilt für alle Rollen.
Auch die Kombination mit den Bauern bringt eigentlich nichts, ausser pseudointellektueller Selbstdarstellung des Hr. Castorf.
PS: Bin in der Pause gegangen, weils mir einfach zu schlecht war.
zu STEFAN: Genau "Wenn man es nur wüsste", ob das jetzt das erhoffte Comeback der Volksbühne ist. Vielleicht ist diese Arbeit ja nicht nur ein (wie gesagt) großartiges singuläres Ereignis, sondern gleichzeitig ein Initial für Kommendes...
Beides sind Geschichten Ausgegrenzter, Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben, weit weg von ihrer Mitte, weit entfernt davon, Bedeutung zu haben. Auf der einen Seite, die vaterlose Generalsfamilie mit gesellschaftlichen Ambitionen, aber versauernd in der Provinz. Auf der anderen das untere Ende der Gesellschaft, gescheitert in Hauptstadt und gestrandet auf dem Lande. Sie teilen ihr Sehnsuchtsziel: Moskau! Moskau heißt, mittendrin zu sein, teilzuhaben, zu leben.
Es ist eine nachvollziehbare und kluge Gegenüberstellung, die Castorf versucht. Auf der rechten Seite der Bühne die Veranda des Landadels, auf der Linken die Bruchbude der Unterschicht. Hinter ihnen eine riesige Fototapete, einen Wald darstellend, das ländliche Gefängnis, aus dem beide Gruppen ausbrechen wollen. Doch selbst als die Tapete fällt, offenbart sie nicht die Freiheit, nicht die bessere Zukunft, sondern nur Leere. Es sind letztlich Scheinleben, die hier geführt werden, die im Verlauf des Abends politischer werdenden Zukunftsdebatten bleiben Theorie, Als den Protagonisten der Bauern ihr Samowar weggenommen wird, versucht die alte Babka, einen Protest anzuzetteln. Doch nein, eine Revolution will hier keiner.
So zwingend das klingt und sich zunächst auch anlässt, so wenig gelingt es Castorf und seinem Ensemble, bestehend aus nicht wenigen alten Mitstreitern - hervorzuheben sind hier vielleicht Jeannette Spassovas hysterisch-melancholisch-verzweifelt-herrische Mascha, Kathrin Angerers proletenhafte Natalja, Milan Peschels hilflos-verbockter Werschinin, Lars Rudolphs verletzlich-unsicherer Baron und Sir Henrys imposante Kulygin-Karikatur - dies über vier Stunden durchzuhalten.
So können die Drei Schwestern nie aus ihrem anfänglichen Slapstick ausbrechen. Die stilleren, verzweifelteren Töne werden weggewischt, für sie ist kein Platz im cholerischen Dauergebrüll. Und auch die Balance zwischen den beiden Textquellen stimmt nicht. Die Bauern sind letztlich nicht viel mehr als ein Kommentar, ein Anhängsel, kein ebenbürtiges Pendant. Und so landet am Ende doch wieder alles bei den Drei Schwestern, an diesem Abend, der die vielschichtige Virtuosität des Beginns nicht halten kann und über weite Pasagen doch zu eindimensional und plakativ bleibt. Ein guter Saisonauftakt, in dem jedoch noch deutlich mehr gesteckt hätte.
http://stage-and-screen.blogspot.com/
Die Slapstickeinlagen, vor allem von Maria Kwiatkowsky (das hutwackelnd-nickende, grenzdebile Zuhören der Kinderprostituierten Sascha) und Trystan Pütter (der Kinderwagensport von Andrej Prosorow), reissen einen immer mal wieder aus dem drohenden Schlaf. Und Kathrin Angerer als Natalja Iwanowna spielt die herablassend-ideologische, aristokratisch-salonkommunistische Thesenschleuder, welche von der drohenden "Materialisierung" eines großen (des russischen) Volkes schwadroniert, tatsächlich ganz wunderbar herrisch. Ansonsten, ficken im S/M-Studio (laut Castorf im Programmheft) ist auch nur stalinistisch, also Unrecht.
"Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better."
Und zudem dachte ich an folgende Passage aus Slavoj Zizeks "Auf verlorenem Posten":
"Die 'spezifisch kommunistische Geduld' ist nicht nur das geduldige Warten auf den Augenblick, in dem die radikale Veränderung plötzlich in der Weise einer 'emergenten Eigenschaft', wie es in der Systemtheorie heißt, hereinbricht; es geht auch um die Geduld, Schlachten zu verlieren, um am Ende den Sieg zu erringen (wir erinnern uns an Maos Slogan 'von Niederlage zu Niederlage zum Sieg').
Haben Sie nicht gespürt, welche Energie durch diese Schimpftirade freigesetzt wurde? Das könnte doch etwas anstoßen, im Hinblick auf die (damals dann auch tatsächlich erfolgte Oktober-)Revolution. Das ist nicht das leere "theoretische" rote-Fahne-Schwingen, sondern das ist der aktive Widerstand, welcher aus der alltagspraktischen Erfahrung von Ungerechtigkeit und Missständen im Hier und Jetzt erwächst.