Schlussdiskussion mit der Theatertreffen-Jury - ein Bericht
"Der Volksfeind, der hat was!"
von Esther Slevogt
Berlin, 20. Mai 2012. Zum Schluss natürlich die Frage: wozu das Ganze? Da trat die Rentnerin ans Mikro, um der Jury zu danken, dass sie nur noch so schlechte Stücke auswählen würde. Früher, ja, da habe man für den Mai schon gar keine Opernkarten mehr bestellt, um das Geld voll in Karten für das Theatertreffen zu investieren. Jetzt sei das Geld in der Haushaltskasse knapp. Aber das Treffen lohne eh nicht mehr.
Und Peter Raue, Rechtsanwalt und Vorschwimmer im Haifischbecken der Berliner Kulturlobbyisten, konnte nur seine Fassungslosigkeit angesichts nicht-deutschsprachiger (und auch noch freier!) Theaterproduktionen wie Hate Radio und Before Your Very Eyes in der diesjährigen Auswahl zu Protokoll geben, als stünde der Untergang der Theaterkultur nicht nur bevor, sondern habe sich bereits vollzogen. Und aus einem weiteren alten Recken, der eigenem Bekunden zufolge seit vierzig Jahren das Theatertreffen besucht, brach es angesichts nicht-deutschsprachiger Einladungen heraus: "Das geht doch nicht. Das ist doch ein DEUTSCHES Theatertreffen." Ja.
Veränderte Ästhetik
Der im Publikum sitzende neue Festspielchef Thomas Oberender verwies auf die radikale Strukturveränderung der Theaterlandschaft, die sich auch in der Auswahl wiederspiegeln müsse, auf die Professionalisierung der freien Szene. Die Stadttheater selbst veranstalteten immer mehr Festivals. Sogar Peymann mache diesen Trend jetzt mit. Viele Stadttheater-Produktionen kämen nur noch als Koproduktionen mit großen Festivals (Stemanns Faust) oder vieler kleinerer Spielstätten ("Hate Radio") zustande. Die Grenzen zwischen Stadttheatern und freier Szene sei längst durchlässig geworden. Diese veränderten Produktionsformen veränderten auch die Ästhetik, was auch die Auswahl des Theatertreffens abbilden müsse.
Volksfeind, der hat was!" Es ging naturgemäß auch ums ewig wieder neue Ausbuchstabieren des Begriffes "bemerkenswert", um Innovationskraft einzelner Produktionen wie John Gabriel Borkman, "Hate Radio" oder "Before Your Very Eyes".
Zwischendurch durfte die Jury auf dem Podium auch mal was sagen, die eine oder andere Produktion verteidigen, wobei inhaltlich Ulrike Kahle den Vogel abschoss: "DerDer Fäkalien-Trend
Angesichts der diesjährigen Dominanz von Berliner Produktionen machte Manfred Beilharz, Noch-Intendant in Wiesbaden und vor allem Präsident des deutschen Zentrums des Internationalen Theaterinstituts, schließlich (aus dem Publikum heraus) den Vorschlag, Berliner Produktionen künftig vom Theatertreffen auszuschließen, da sie ohnehin einen Standortvorteil mit Aufmerksamkeitsgarantie hätten. Er ließ sich auch nicht durch Christoph Leibolds Einwand vom Podium aus der Ruhe bringen, "Hate Radio" könne man gar nicht als Berliner Produktion bezeichnen, da hier auch kleinere Schweizer Theaterhäuser mit im Boot wären, wie Südpol Luzern oder die Kaserne Basel. Schließlich kam noch die unvermeidliche Frage auf, ob Fäkalien auf der Bühne (in diesem Jahr gleich zweimal beim TT vertreten: in Johan Simons' Sarah-Kane-Triptychon und Vinge/Müllers Ibsen-Exzess "John Gabriel Borkman") als neuer Trend zu betrachten seien.
So blieb die Schlussdebatte müde. In den Kastanien vor dem Haus der Berliner Festspiele zwitscherten die Vögel, als wär's ein Casting für die nächste Alvis-Hermanis-Produktion. Die Temperatur im oberen Foyer (wo es auch nach millionenteuerer Renovierung des Hauses noch immer keine Klimaanlage gibt) stieg beharrlich. Aber leider eben nur auf dem Thermometer.
Schlussdiskussion mit der Theatertreffen-Jury
Mit: Christine Wahl, Ulrike Kahle, Elinor Landmann, Franz Wille, Christoph Leibold, Vasco Boenisch und Anke Dürr. Moderation: Barbara Burckhardt.
www.berlinerfestspiele.de
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#1 Berliner Produktionen können weiterhin eingeladen werden, werden aber nicht auf die 10 angerechnet & laufen dann halt parallel in ihren Stammhäusern.
#2 Jedes Jahr eine Produktion, für die die Premierenzeitraumbeschränkung nicht gilt.
#3 Publikumspreis?
Es ist übrigens das "Berliner" und nicht das "deutsche" Theatertreffen. Alle Verfechter des Hohen Tons in Exklusivpräsenz können ja ebenso Statutenänderungen vorschlagen ("Deutschquote"). Was solls.
Die Idee eines Publikumspreises finde ich interessant, koennte aber an der Tatsache scheitern dass die wenigsten "normalen" Zuschauer alle zehn Inszenierungen auch ansehen.
Ich bin gegen eine Quote, ich finde alleine die Qualitaet sollte zaehlen, egal aus welcher Stadt/staatl. Buehne/privat etc
@Hans Uwe Zich: Es geht um die 10 besten Inszenierungen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum. Da kann man Berlin nicht einfach rausnehmen. Die Einladung verliert dann einfach an Wert.
Nun könnte man auch so verfahren - und genau das war mein Vorschlag -, dass die Zahl der VON AUSSERHALB (Berlins) eingeladenen Inszenierungen 10 beträgt. Dafür wäre freilich ein geeignetes Verfahren für die Jury zu bestimmen, aber das lässt sich machen. Dass dann im Falle von Berliner Einladungen in toto mehr als 10 Einladungen ergehen, macht die einzelne Einladung NICHT wertloser. Es ist ja kein geteilter Preis (der damit kleiner würde), sondern eine jeweilige Einzelauszeichnung.
In jedem Fall wäre es von Vorteil für a) das Treffen (das reicher wird; mehr kosten tut es nicht und das jeweilige Haus wird den Teufel tun, keine Vorstellung Mitte Mai anzusetzen), b) das Publikum (das mehr sieht).
1) "weniger gute Inszenierungen aufzunehmen, die es sonst eben nicht geschafft haben" & "eigentlich nicht zu den besten": Das halte ich für eine äußerst problematische und fragwürdige Position!! Wer sagt, dass Nr. 11-14 "weniger gut" seien sollen? Diese lineare Skala an sich ist schon fragwürdig und wir sind uns alle im Klaren, dass - selbst wenn man eine lineare Skala (Rangliste, die alle anderen Dimensionen zusammenmanscht) akzeptiert - Nr. 11 nicht EINDEUTIG oder SCHARF ABGRENZBAR "weniger gut" als Nr. 10 ist. Eine Flexibilität in der Zahl der insgesamt ergehenden Einladungen ist also eher die Berücksichtigung dieser Tatsache.
Es ist zudem an der Grenze der Überhebung, von 300 gesehen und 2500 abgelaufenen jährlichen Premieren die diskutierten, aber nicht eingeladenen als "weniger gut" zu bezeichnen. Vorsicht. (Mit dem Glaube an die Jury.)
2) "Worum geht es denn dabei? Daß man mehr Gastspiele zu sehen bekommt oder daß man die Theatermacher ehrt?": Beides. Die Ehrung ist - wenn nicht inflationär - eben multipliziert, wenn 14 statt 10 vor Ort sein KÖNNTEN. Geteiltes Glück ist doppeltes Glück!! Sie denken sehr in rationierten Gütern (Lebensmittelkarte, ...). Ehrungen sind dies nicht. Und wenn es einem Haus (vor allem einem nichtberliner) damit zu einer Einladung gereicht, ist das doch großartig, Ansporn und Bestätigung für alle Beteiligten (Künstler, Haus, Kommune/Land)! Warum künstlich verknappen, solang die Grundidee beibehalten wird?
Ich bin sehr dafür von dieser Zahlengläubigkeit abzurücken. Die Jury hat dazu ja auch alle Gelegenheit, darf sie doch die Statuten anpassen.
3) "Wenn eben in einem Jahr 4 von 10 Produktionen aus Berlin kommen, sagt das eben auch etwas über die Theaterlandschaft aus.": Eben nicht nur, sondern auch über die Wahrnehmungsmuster der Branche, der Kritik, der Jury, der Politik. Ferner einer bestimmten Einladepolitik (die wie auch immer dahinter steht). Wir können uns dann fragen, wie "verlässlich" ein bestimmtes Urteil ist. Noch einmal, es GARANTIERT eben die Vielfalt (für Künstler/Häuser und Publikum).
Gleichzeitig lässt mein Anstoß genau das aber eben auch zu.Wenn viele Berliner Inszenierungen gut sind, dann sollen sie auf kommen. (Und wenn es 10 sind, ist die Jury nicht versucht, davon welche unter den Tisch fallen zu lassen, weil man sonst Gefahr läuft es würde zu "berlinlastig".) Es können dann weiterhin 4 Berliner eingeladen werden.
Es wäre gleichermaßen denkbar, zu strukturieren:
- 10 Auszeichnungen (früher "Einladungen")
- und danach soviele "lobende Erwähnungen" wie Berliner unter den obigen 10
- alle werden "eingeladen".
Das ist hierarchisch, aber warum sollte das nicht auch möglich sein.
Eine weitere Idee wäre
- weiterhin 10 "Einladungen" unter der Bedingung, dass maximal 1 pro "Haus" (kann man sich dann technisch überlegen, wie mit Koproduktionen verfahren wird) ergeht
- all das was die Jury partout miteinladen wollen würde, aber wegen der obigen Einschränkung nicht kann, wird ebenso "lobend erwähnt", aber eben nicht eingeladen (einfach aus dispositionellen Gründen; dieser Effekt ist bei meinen vorigen Ideen nicht nötig, weil die Berliner einfach in ihren Häusern weiterspielen)
Natürlich könnte man auch über ein Ortsrotieren des TT nachdenken, dann erübrigt sich das Ganze. Dagegen spricht, dass es eben die Aufgabe der Berliner Festspiele ist, sowas für den Bund(!) zu leisten und das Haus an der Schaperstraße auch ideal ist, weil groß genug und ansonsten nicht bespielt. Zudem ist Berlin nun einmal in gewisser Weise ein Zentrum und nach wie vor beliebtes Ziel von Anreisenden zum Festival. Weiterhin erlaubt der feste Ort eine sonst nicht mögliche Tradition, die sich andernfalls nur schwer einstellt (vgl. EM/WM).
Also, machen Sie mal klar, was Ihre Prämissen sind. Ich bin für
- breiten Einladungshorizont
- dem Entgegentreten des Berliner Verdrängungseffekts
- ein Abmildern der (faktischen, aber nicht normativen) Überpräsenz der "Zentren"
- eine Bereicherung des Festivalgeschehens
- eine weitere Verteilung der Auszeichnung (solang nicht inflationär)
- eine eher mögliche Wertschätzung der Arbeit auch unter anderen als staatstheatralen Bedingungen.
Ich hatte in #8 geschrieben, was ich möchte.
"Ich bin für
- breiten Einladungshorizont
- dem Entgegentreten des Berliner Verdrängungseffekts
- ein Abmildern der (faktischen, aber nicht normativen) Überpräsenz der "Zentren"
- eine Bereicherung des Festivalgeschehens
- eine weitere Verteilung der Auszeichnung (solang nicht inflationär)
- eine eher mögliche Wertschätzung der Arbeit auch unter anderen als staatstheatralen Bedingungen."
Das Übrige sind Vorschläge und Diskussionsanregungen. Lesen Sie vielleicht doch noch einmal komplett und aufmerksam ("wäre gleichermaßen denkbar", "weitere Idee wäre", "könnte man nachdenken", ...).
Vorsicht mit den jungen Pferden.
Im Übrigen ist "10" an sich eine Quote. (Wie wäre es, dass alle kommen können, die wollen? Dann bleiben nur noch die Quoten, die im System stecken.) Meine Gedanken zu den Statuten lockern eine solche Quote auf. Vielleicht haben Sie aber #2 nicht, oder nicht aufmerksam gelesen. Dort hatte ich mich schon zu Quoten geäußert.
solange die zielrichtung allerdings das publikum ist, finde ich die diskussion merkwürdig, weil sie daran vorbei diskutiert, bzw. nahelegt, dass mit mehr einladungen mehr ahnung über die szene einhergehen würde.
interessanter finde ich es darüber nachzudenken, was die zusammenhänge von zusammengestrichenen reisekostenetats in den kulturredaktionen, entprofessionalisierung der kulturkritik in den regionen - wo jenseits der paar grossen städte gibt es denn noch echten kulturjounalismus? - und die verflechtung von häusern und redaktionen, wo der ehemalige dramaturg jetzt für die zeitung xy schreibt, ergeben. damit möchte ich dezidiert keine verfilzte einladungspraxis unterstellen, sondern deutlich machen, dass es nicht von ungefähr kommt, wenn auf manchen regionen der republik mehr aufmerksamkeit liegt, als auf anderen, wenn kritiker/innen eben nicht regelmäßig in theater in der provinz reisen können, wenn berichte in der regionalzeitung so bla bla sind, dass sie keinen jurykritiker mehr zum nachschauen anregen ... . wenn für die strukturen insgesamt nicht genug da ist, dann rottet sich eben alles da zusammen, wo noch genug ist. das spiegelt sich eben auch auf so einen festival. vielleicht sollten wir lieber solche zeichen aufmerksam lesen und damit umgehen, anstatt sie verwischen zu wollen.