Redaktionsblog - Wiener Publikumsgewisper
Der Artgenosse als Rätsel
Wien, 6. September 2009. Es hat geregnet an jenem Tag, als Matthias Hartmann die Stadt von jahrzehntelanger "Faust"-Entbehrung erlöste. Aber Regen tut nix, sie haben wieder einen Faust in Wien, also kamen die Wiener in freudiger Goethe-Großkunst-Erwartung herbeigeeilt. Da putzt man sich raus, da zeigt man sich her. Es ist immer ein Ereignis, die Wiener beim Theatergang zu erleben, manchmal ist es fast das einzige, was es an der Burg überhaupt zu erleben gibt. Wie beim "Faust" jetzt, aber lassen wir das.
Vor mir saß eine wunderbar aufgeputzte Wiener Dame (geschätztes Alter 75, von ihr selbst gefühltes Alter 35), die ihrem Begleiter (in jedem Fall 20 Jahre älter) während der langen "Faust"-Stunden immer wieder ins Ohr flötete. Leider war nicht zu verstehen, was sie mitzuteilen hatte. Als der Abend überstanden war, rief sie laut und viel "Bravo!" in die Burgtheaterpublikumsherrlichkeit hinein. Das ist ja auch immer schön, Menschen bei ihrer Begeisterung zuzuschauen. Sie schluchzte schließlich, stand auf, zupfte am Haar: "Aber fad war's scho." Der Mann schaute ängstlich, ob wer seine Frau hat hören können, sie zupfte das Haar auf der anderen Seite: "Taugt eh net, des Burgtheater. I geh nur noch in die Oper, da hat's wenigstens Musik."
Verstehe einer den Artgenossen. Ein Rätsel.
Tags darauf, im Akademietheater, wo der Dichter Schimmelpfennig sein
jüngstes Werk selbst für die Öffentlichkeit hergerichtet hat, saß selbige Dame schräg hinter mir. Es muss ihr gefallen haben, sie hat viel gelacht. Oder es hat ihr nicht gefallen, aber sie hat dennoch gelacht. Oder sie hat sich an der Musik erfreut, denn merkwürdigerweise hat sie immer gelacht, wenn auf der Bühne die lustigen, kleinen Klangschalen ertönten. Ich glaube aber, sie hat die Klangschalen nicht gehört, sie waren regietheaterbedingt sehr leise.
Wahrscheinlich hat sie einfach so gelacht, man kann im Theater schließlich nicht oft genug lachen, so wie das Theater oft ist. Vielleicht weiß sie selbst nicht, was sie lachen ließ.
Die Wiener Artgenossen sind die schönsten Rätsel.
(dip)
Hier geht's zu den gesammelten Blog-Beiträgen im Menü "gemein & nützlich".
Wir bieten profunden Theaterjournalismus
Wir sprechen in Interviews und Podcasts mit wichtigen Akteur:innen. Wir begleiten viele Themen meinungsstark, langfristig und ausführlich. Das ist aufwändig und kostenintensiv, aber für uns unverzichtbar. Tragen Sie mit Ihrem Beitrag zur Qualität und Vielseitigkeit von nachtkritik.de bei.
- Redaktionsblog Wien: sagt alles
- #1
- Hexenmeister
- Redaktionsblog Wien: Saalgeflüster ist nicht das Maß
- #2
- @Hexenmeister
- Redaktionsblog Wien: so sind alle Zuschauer immer
- #3
- hexe
meldungen >
- 06. Mai 2024 Bochum: Sabine Reich leitet ab 2025 das Prinz-Regent-Theater
- 06. Mai 2024 Wiener Festwochen: Kritik an Rede an Europa
- 05. Mai 2024 Heidelberger Stückemarkt: Autor*innenpreis 2024 vergeben
- 04. Mai 2024 Deutsche Filmpreise für "Sterben" und Corinna Harfouch
- 04. Mai 2024 Russland: Theaterkünstlerinnen weiter in Untersuchungshaft
- 03. Mai 2024 12. Festival Politik im Freien Theater läuft 2025 in Leipzig
- 03. Mai 2024 Kleist-Preis 2024 für Sasha Marianna Salzmann
- 03. Mai 2024 Wiener Theatermacher Karl Schuster gestorben
neueste kommentare >
-
Wasserschäden durch Brandschutz Sehr kurze Antwort
-
Kolumne Hussein Glaub-Würdigung
-
Heidelberger Stückemarkt Halbiert
-
Kolumne Hussein Ein klarer Geist
-
Leser*innenkritik Hamlet, Hamburg
-
Heidelberger Stückemarkt Geschichte wiederholt sich
-
Wasserschäden durch Brandschutz Völliges Rätsel
-
Duo für Theater des Westens Musical nach bewährtem Rezept
-
RCE, Berlin Kritikenrundschau
-
State of Affairs, Hamburg Langweilig
nachtkritikcharts
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau