John Gabriel Borkman von Vegard Vinge / Ida Müller - Der Shorty zum Gastspiel beim Theatertreffen 2012
To be continued
von Christian Rakow
Berlin, 5. Mai 2012. Um 4:10 Uhr, nach etwas mehr als 12 Stunden Spieldauer (wie angekündigt), durfte ich mir also das imaginäre Finisher-Shirt überziehen. Als einer von rund fünfzig verbliebenen Stellungskriegern auf den Rängen des kleinen Prater-Saals der Volksbühne. Im Schweiße unseres Angesichts können wir bezeugen, dass dieser "John Gabriel Borkman" von Vegard Vinge und Ida Müller ein Ende hat. Auch wenn da auf dem Videoschirm "to be continued" steht.
Wann ist Theater einmal so schnell so legendär geworden? In der Nachtkritik der Oktoberpremiere 2011 und im Forum wurde dieser Ibsen von zig Seiten ausgeleuchtet. Zu Vinge/Müller geht man inzwischen wie zu einem Rockkonzert: mit heißem Herzen über die "Setlist" spekulierend. Werden wir Erharts sagenhafte Geburtsszene in einem Raum mit blutigen Nabelschnüren und Vagina sehen? Ja! Wird Vinge mit dem Anus sein Action-Painting zeichnen? Ja! Werden Zuschauerbänke herausgerissen? Heute nein.
Kunstentzug fürs mitmachbereite Publikum
Natürlich sind Vinge/Müller dabei nicht eigentlich auf crowdpleasing aus. Zum Start beim "Theaterrrrtreffen" gab's gleich mal eineinhalb Stunden – fürwahr: neunzig Minuten (!) – ultimativen Kunstentzug. Advokat Hinkel hockte wie der Anzug-Ganove "Two Face" aus "Batman" in seinem Büro und zählte laaaangsam Paragraphen hoch: von eins bis über 1300. Missmutiger Applaus der Zuschauer, Zwischenrufe, Bitten, Flehen. Alles half nichts. Er zählte und zählte. Und zwischendrin erfuhren die I-Phone-Besitzer, dass Hertha BSC den Relegationsplatz der Fußball-Bundesliga erreicht hat.
Gegangen ist – anders als in früheren Aufführungen – stundenlang niemand. Dem grundschulmathematischen Fegefeuer entstieg ein ungekannt mitmachbereites, durch und durch entspanntes Publikum. Der Ausschank im Prater brummte. Man darf Getränke und Essen in den Saal mitnehmen.
Das Schwerste: nicht dabei sein
Die Gründung eines "12-Sparrrrten-Theaterrrrrs" versprach uns Vinge über sein verzerrtes Mikro heute wiederholt. Wohlan! Es dürfte alles umfassen, was diese Meister aller Fakultäten in ihren Ibsen-Ausuferungen mixen: Oper (bevorzugt Wagner), Dramaturgie (auf's Essentielle beschränkt), Kindertheater (wenn auch ab 18 Jahren!), Tanz/Performance (Robot-Style), Architektur (abrissgefährdet), Film (live hingewackelt), Comic (bunt), Computerspiel (mit old school 64-Bit-Anmutung), Wrestling (blutig), Penetranz, Genie und Wahnsinn (im Übermaß).
"Das Herz darf nicht befreit werden", sagte Regie-Diktator Vinge kurz vor'm langen Schluss. Aber er hat es befreit. Er hat ihm das Reich der Kunst sperrangelweit aufgestoßen. In Ibsens Worten: "Ja, ja, ja – nicht dabei sein, nicht mitmachen können, das ist das Schwerste von allem."
Keine Karte für die restlos ausverkauften Aufführungen bekommen? So könnte es klappen: Wenn Zuschauer endgültig den Saal verlassen, was ab etwa 4 Stunden nach Vorstellungsbeginn immer wahrscheinlicher wird, lässt die Volksbühne für 10 Euro Nachrücker rein.
Für 0 Euro geht es hier entlang zur Nachtkritik über Vinges/Müllers "John Gabriel Borkman".
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Was zählt der da eigentlich? Borkmans Schulden? Borkmans Sünden? Griechenlands Schulden? Die Zuschauer, die das Borkman-Spektakel bislang erleiden und genießen durften?
Übrigens: ziemlich zu Anfang kündigte Vinge an: "Heute spielen wir John Gabriel Borkman. Übermorgen spielen wir Don Carlos. Überübermorgen spielen wir die Wildente!"...
@ 1. + 3.: Aua, schreit der Bauer, die Äpfel sind zu sauer, die Birnen sind zu süß, morgen gibt's Gemüs', übermorgen Sauerkraut, ist der ganze Tisch versaut. Warum gerade "Don Carlos" und "Die Wildente"? Warum holt Erhart sich in seinem Jugendzimmer lautstark einen runter? Was ist daran so toll, dass sich einer in den Mund pinkeln kann?
@Inga: Warum Don Carlos und die Wildente? Das müssen Sie Vegard Vinge fragen. Warum Erhart sich einen runterholt, auch das können Sie Vinge oder Ibsen oder vielleicht auch sich selbst fragen.
Wer hat übrigens behauptet, dass etwas daran toll ist, dass einer sich in den Mund pinkeln kann? Ich habe doch lediglich berichtet, dass Vinge sich während der zweiten TT-Vorstellung dafür "entschuldigt" hat, dass er das in eben dieser Vorstellung nicht gemacht hat.
in einem raum mit blutigen nabelschnüren und vagina sehen?
ja!
wird v. mit dem anus sein action-painting zeichnen?
ja!
natürlich sind sie sind die eigentlich unnatürlich auf perverses crowdpleasing aus.
erzählen sie uns doch nicht das bescheuerte gegenteil herr rakow!
so kann kein herz befreit werden. so kann ihm nur das reich der after-kunst
sperrangelweit aufgestoßen werden.
dabei sein müssen, mit machen müssen (den lebenswahnsin als theater)
das ist doch das schlimmste an allen krankheiten!
Es ging mir natürlich nicht allein um die Frage, warum sich eine/r einen runterholt. Für mich impliziert diese Frage vielmehr, an welchem Thema sich Vegard Vinge hier eigentlich abarbeitet bzw. warum er für Ibsens Borkman gerade diese ästhetische Form gewählt hat. Mit welcher Absicht transformiert er MedienBilder? Und beschwört er hier auch TheaterGeister (was ich persönlich für interessanter halten würde)? Ich denke hier an einen Text von Hans-Thies Lehmann, Zitat:
"Das Bild, verstanden als der Bereich von Darstellung, wäre jedenfalls die Behauptung der Schicksalslosigkeit. Theater der Darstellbarkeit dagegen wäre die zugleich ästhetische und ethische Erfahrung einer Manifestation von Schicksal. Darin besteht sein Wert, oder: Wert hat es nur dort, wo es dieses sagt: daß man es nur erfährt, wenn es schon geschwunden ist, als Nachtrag. Vielleicht - manchmal will es so scheinen - befindet sich, was man Gesellschaft nennt, schon lägst auf dem Weg in die Bilder, in den Terror der Präsenz, vor den allmählich versagenden Augen nur mehr das Wunschbild der Schicksalslosigkeit, das der Kern der virtuellen Kommunikation ist."
Zum Thema "in den Mund pinkeln". Es ging mir um Folgendes: Wen interessiert und wozu führt es, dass Vegard Vinge sich in den Mund pinkelt oder nicht bzw. ob er sich dafür entschuldigt oder nicht.
ach ja : natürlich Fritsch! Die erlösung...aber das ist die Komödie nach den Tragödien und auch toll, aber eben ein anderes genre...alles andere muss sich in meinen augen strenger rechtfertigung unterziehen...
auf die frage woran sich die regie abarbeitet: meiner wahrnehmung nach nicht zuletzt an der regie-diktatur. aber hallo!
grüße..
Und wie verstehen Sie eigentlich diesen Satz "das Herz darf nicht befreit werden"? Geht das jetzt in Richtung einer Art Artaud-Ästhetik? Um ein Theater der Grausamkeit, welches dem psychologischen Theater (Ibsens) entgegensteht? Zitat Artaud:
"Geldgeschichten, Geschichten von Ängsten um das liebe Geld, von gesellschaftlicher Karrieremacherei, von den Schrecken der Liebe, denen nichts von Selbstlosigkeit anzumerken ist, von sexuellen Dingen, die mit Erotik ohne Geheimnis gewürzt sind, haben zwar etwas mit Psychologie zu tun, nichts aber mit Theater. Diese Ängste, diese Schamlosigkeit, diese Geilheiten (sic!), vor denen wir lediglich Voyeurs sind, die sich delektieren, schlagen in Revolution um und werden sauer: darüber muss man sich im klaren sein. [...] Zu viele Anzeichen lassen jedoch erkennnen, daß all das, was uns leben ließ, nicht länger standhält, daß wir allesamt verrückt, verzweifelt und krank sind. Und ich fordere UNS auf, dagegen anzugehen." (aus : "Das Theater und sein Double")
Sorry, aber Sie (ich duze erst, wenn ich jemanden wirklich kenne) sollten mir schon zugestehen, eine eigene Perspektive auf diese Inszenierung zu haben. Alles andere ist genauso problematisch wie ein diktatorischer Regiezugriff. Ich empfehle Jacques Rancières "The emancipated spectator". Zitat:
"The collective power that is common to these spectators is not the status of members of a collective body. Nor is it a peculiar kind of interactivity. It is the power to translate in their own way what they are looking at."
hat schon komödiantische züge.
sollte als exkursblase in "heißdiskutierten" inszenierungen live mitgespielt werden - als szenische lesung, selbstreferenzielles zwangswichsen.
übrigens, vegard: "überirdisch HIMMLISCH" deine PASSION! hut ab! daumen hoch!
von hier oben schöne grüße!
Komplette "Kritik": http://stagescreen.wordpress.com
in ihren betonten wiederholungen des immergleichen - -