Kolumne: Experte des Monats - Dirk Pilz möchte Shakespeare nicht loben
Knien oder strampeln
von Dirk Pilz
3. Mai 2016. Heute vor vierhundert Jahren ist William Shakespeare von uns gegangen. Das ist traurig, wieder einer tot. Wir wollen seiner deshalb gedenken. Shakespeare ist der Größte. Der Beste. Der Unbegreiflichste. Niemand wird so oft zitiert, außer die Bibel. Er ist der Autor mit der höchsten Auflage, abgesehen von Bibel und Koran. Er ist der am meisten besungene, bestaunte, belobigte Mensch auf Erden, nach Jesus, Mose und Mohammed.
Es wurde das alles erst kürzlich wieder in den On- und Offline-Medien vermeldet, weil es den Göttern gefiel, sowohl den großen Miguel de Cervantes als auch unseren heiligen Willi an ein und demselben Tag aus der Welt abzuberufen, am 23. April 1616, ehe die Menschen auf die Idee verfielen, eine andere Zeitrechnung einzuführen, so dass Shakespeares Abschiedstag in den Mai wanderte. Aber er bleibt tot, leider.
Muss man Shakespeare loben? Diese Redaktion wurde angeraunzt, als peinlich und erbärmlich betitelt, weil sie ihn nicht jubiläumsordentlich gelobt hat. Mit Recht wahrscheinlich. Es wird ja viel zu wenig gepriesen und gelobt in dieser schlecht gelaunten Welt. Und nichts ist einfacher als Shakespeare zu rühmen, siehe oben.
loben = instrumentalisieren
Aber vielleicht sollte man es besser doch nicht tun (obwohl ich es an anderer Stelle auch getan habe). Denn am Ende artet das Loben wieder in Vereinnahmung aus. Es gelingt ja augenscheinlich kaum, Shakespeare zu lesen, heißt: zu loben, ohne ihn vor welchen Karren auch immer zu spannen. Botho Strauß zum Beispiel, ein Dramatiker, Dichter und Essayschreiber unserer trüben Tage, schrieb aus Anlass des Jubeljubiläums, das Theater betreibe "im Falle Shakespeares das Ausweichen mit vielen Mitteln", habe "Pathos durch Comedy-Scherze, die komplexe Metapher durch platten Jargon ersetzt". Um je einer Überwältigung durch Shakespeare zu begegnen, solle man besser nicht ins Theater gehen, sagt Strauß.
Das ist zum Heulen, oder zum Lachen. Aus jeder Zeile des Strauß-Sermons wird ersichtlich, dass er schon lange nicht mehr ins Theater geht. Dennoch redet er von "dem Theater" wie die AfD von "dem Islam". Oh ja, man findet bei Shakespeare eine "Religion des Menschlichen", wie Strauß sagt. Für ihn ein Fall, der zum Niederknien zwingt, "statt zu strampeln".
Nur lässt sich gerade bei Shakespeare nachlesen, dass alle Religionen dieser Welt schiefe Verallgemeinerungen sind. Es gibt sie nicht, es gibt einzelne Gläubige, die auf ihren Glauben nicht zu reduzieren sind. Kein Gläubiger dieser Welt ist einzig ein Niederknieer, jeder immer auch ein Strampler. Die Shakespeare-Menschen werden deshalb nie über einen gemeinsamen Kamm geschoren, das macht sie aufregend. Mit ihnen lässt sich nichts erklären, weil sie nichts zu verkünden, keine Botschaften und keine Ressentiments zu verteidigen haben. Sie wollen den Menschen verstehen, sich selbst, die anderen. Der Mensch ist aber nicht zu verstehen.
Shakespeare konnte alles – auch schlechte Texte
Seit 400 Jahren verweigert Shakespeare eine vermarktbare, straußhafte Botschaft. Seit 400 Jahren wird er in alle möglichen und unmöglichen Dienste genommen, jede Zeit hat ihren eigenen. In unserer ist es der eines Fundamentalismus, der überall zum Mainstream geworden ist. Fundamentalismus breitet sich dort aus, wo das Fundament fehlt, wo zwischen Knien und Strampeln kein Raum mehr ist. Jeder Fundamentalismus ist an seinen falschen Alternativen und entsprechend am Pathos seines abschließenden Vokabulars erkennbar, nicht nur bei Strauß.
Shakespeare, der Größte, Beste, Unbegreiflichste: das bringt nichts. Es gibt auch schlechtere Texte von Shakespeare, "Timon von Athen" zum Beispiel, oder "Coriolanus". Man muss sie nur lesen.
Dirk Pilz ist Redakteur und Mitgründer von nachtkritik.de. In seiner Kolumne "Experte des Monats" schreibt er über alles, wofür es Experten braucht.
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Da Timon über beträchtliches Vermögen verfügte, sich die Ehre gab, nicht nur Gastmahle zu geben für andere angesehene Leute, sondern auch das Mäzenatentum pflegte und sogar Senatoren finanziell unterstützte, also finanziell Einfluss auf athenische Politik auszuüben suchte, darf man ihn getrost in der athenischen Gesellschaft wenigstens dem Geldadel oder Landadel zurechnen. Das wäre ein Grund für ein ganz selbstverständliches „von“. Natürlich kann er nicht „Timon von Athen“ sein in dem Sinne, dass er Besitzer des ganzen Stadtstaates Athen gewesen wäre, dann wäre er König oder Tyrann gewesen. Wenn Shakespeare – ich bin der Stradforder-Theorie anhängig, verzeihen Sie deshalb die Behauptung von Name gleich Person – gemeint hätte, dieser von den stets Geförderten und von ihm Umbuhlten sei ein Staatsbesitzer gewesen, dann hätte er das eindeutig geschrieben. Das Stück hieße dann original entweder nur „Timon“ oder „Timon, Herr von Athen“. Shakespeare wollte offenbar jemanden zeigen, der in einem Staatswesen viel finanzielle Macht hat, die aber aus verschiedenen Gründen ausgenutzt wird. Er wollte offenbar zeigen, aus welchen jeweils konkreten vielen Gründen Finanzmacht ausgenutzt wird. Und zeigen, was mit jemandem geschieht, der denkt, weil er so ein unendlich liebenswerter, kluger und zufällig (erfolg)reicher Mensch ist, würde er ausnahmsweise nicht ausgenutzt werden und die Leute, die seinen Einladungen und Ausführungen folgen, folgten ihnen ausnahmslos, weil er so klug und liebenswert und von Herzen großzügig ist. Daraus entsteht der Schock, der Timon aus Athen wegtreibt: man hat wohl gern seine liebenswerte Gesellschaft als Beigabe seiner Finanzkraft genossen. Nicht aber umgekehrt. Als zufällig verarmter Mensch nutzte ihm weder seine Klugheit, noch seine Liebenswürdigkeit noch seine ehemalige Großzügigkeit und sein Interesse daran, auch von anderen hervorgebrachtes Gutes und Schönes zu fördern. Dass ihn seine schockhafte Ent-Täuschung a u s Athen wegtreibt, kann man titelgebend als Verweis auf den Stückverlauf natürlich bereits andeuten, wenn man „Timon aus Athen“ übersetzt: Der, der a u s Athen stammt und a u s Athen weggeht, aus der Gesellschaft in die selbstgewählte, von ihr angeekelte Einsamkeit. Aus der heraus er sich sogar noch über deren Möglichkeit der Reue hinaus rächt. Und zwar durch Scheintod. (Es ist ja ein plakatierter Tod, ein theatraler, den er sich vorgenommen hat. Einer also, der Schuld zuweist.) Einer, der aus Athen, dem genau so regierten Stadtstaat stammt und aus ihm weggeht, hat Gründe. Die aber eher im Persönlichen liegen und eher die ökonomische Basis außen vor lassen bei der Betrachtung, als wenn man das „von“ benutzt. Das „von“ – Sie sagen selbst – verweist auf Besitz, auf die ökonomische Ausgangslage ohne die persönliche zu schmälern.
Umgekehrt jedoch verweist das „aus“ auf die persönliche Ausgangslage. Was die ökonomische Betrachtung in den Zufall eines spezifischen Interesses des Betrachters/Lesers verweist. Deshalb würde ich mich in erster Linie für das „von“ entscheiden. Weil ich immer bestrebt bin in jeder Dramatik, das Ökonomische nicht vom Persönlichen getrennt als textliche Ausgangslage anzubieten. Auch in der Übersetzung, wenn die Ausgangssprache das hergibt. Weiter – das wäre mein zweiter Grund - können wir also in das Athen der Senatoren blicken. Und das ist antikes Athen. Was jeder weiß. Auch heute. Das ist schon frühes Schulwissen. Es gibt auch z.B. hervorragende Kinderbücher für Menschen ab etwa 8 Jahren über die antiken Stadtstaaten, über Athen, Rom usw. Und in der Antike wurde für „Jemand-stammt-aus“ gesagt „Der bestimmte Jemand-von“ benutzt. Als „Dieser Jemand ist ein bestimmter von da und da stammend“. Das waren ja Zeiten großer Völkerbewegungen durch Kriege und als Kriegsfolgen. In denen dem Ort von dem einer stammte, mehr von Siegern wie Besiegten Bedeutung beigemessen wurde, als der Tatsache, dass jemand aus einem Staat oder einer Stadt in einen anderen oder in eine andere kam. – Thales von Milet heißt z.B. bis heute Thales von Milet und nicht „aus“. Dieses "irgendwo herauskommen" zu betonen, impliziert immer die Möglichkeit, dass einer "dahinein wieder zurück"kehrt. Was nur möglich ist, wenn Kriegsfolgen für den angestammten Ort keine persönlichen Konsequenzen für jemanden haben. Das „V o n-irgendwoher-kommen“ betont hingegen das „Jetzt-hier-sein“. Es betont die Bedeutung des Ankunftsortes für den die Geschichte eines Weggehens relevant ist. Das „A u s-woher-kommen“ betont hingegen das „Vorrübergehend-bleiben“. – Nun ja, es ist nur ein einziges, winziges Wort, ich weiß. Aber ich halte es im Sinne der Schauspielkunst für wichtig, in Übersetzungen und im Schreiben von Dramatik das Wort auf die Goldwaage der theatralen Motivation zu legen… Danke für das kleine Gespräch, gewiss am Unort.
Da Sie das Stück so schön beschrieben haben, bin ich jetzt sehr neugierig darauf und werde es lesen.
Ach woher. Nein, nein. Das ist Strohmann-Argumentation - sich gegen etwas verwahren, was niemand verlangt hat. Ich habe die Redaktion nicht "angeraunzt", weil sie Shakespeare nicht gelobt hat - ich habe sie angeraunzt, weil sie offenbar zu einem Shakespeare-Jahrhundert-Jubiläum exakt Null Ideen und Gedanken hat, was meiner unmaßgeblichen Meinung nach einigermaßen grotesk für ein "Theater"portal ist. Nachdenken über Shakespeare und das Theater ist was Anderes als "loben". Ist aber offenbar nicht mehr der Mühe wert. Na gut.
Man könnte ja auch erklären, daß Shakespeare in die Mottenkiste gehört, bitte, wäre interessant - aber dann bitte erklären, warum.
Was hier jetzt patzig und gnatzig zum "Geburtstag" am 3. Mai nachgeschoben wird, macht es keineswegs besser, im Gegenteil - die Gleichgültigkeit offenbart sich endgültig. Der Typ nervt eben einfach nur. Da wird hämisch demonstriert, wie simpel es ist, den blöden alten "heiligen" Shakespeare mit abgedroschenen Klischees zu rühmen - während ja, wie ich finde, die eigentlich spannende Aufgabe wäre, über Shakespeare OHNE abgedroschene Klischees nachzudenken. Aber wozu, das bringt's nicht mehr. Es sei ja eh unmöglich, wird kühn erklärt, weil man Shakespeare schon beim Lesen immer vor irgendeinen Karren spanne. Statt über Shakespeare redet man lieber über Botho Strauß. Lieber wird sich an Botho Straußens überspannter Eloge abgearbeitet, die als Vorwand herhalten muß, warum man über Shakespeare nichts sagen will oder kann - außer, daß Shakespeare heute "in den Dienst" "eines Fundamentalismus" genommen werde, "der überall zum Mainstream geworden ist". Was das für ein Fundamentalismus sein soll, der überall Mainstream geworden sei, bleibt unklar (der Botho Straußsche Fundamentalismus kann schon mal nicht Mainstream sein, wie jede nachtkritik-Lektüre zweifelsfrei belegt).
Wer "Coriolan" für ein "schlechteres" Stück (als welches andere?) hält, wird sicher glücklicher mit solch irre innovativen Filmadaptionen auf der Theaterbrühne, wie eine im nachtkritik-Aufmacher-Artikel vom Shakespeare-Jubiläumsdatum 23. April beschrieben wird: "Verdammte, verfickte Körper", in dem eine Trash-Zitate-Veranstaltung bedeutungswabernder Unbestimmtheit respektvoll gehypt wird. Mainstream, eben.
Die mainstreamigen Zeitgeistsurfer der nachtkritik arbeiten eben fleißig mit am Großen Theatralischen Selbstzerstörungswerk. Tagesspiegel-Zitat zum Theatertreffen: "Wir leben in einer „Zeit der offenen Form“, kein klassischer Theatertext schaffte es in die Auswahl, das Theatertreffen 2016 bringt adaptierte Filme, Romane und „überschriebene“ Dramen" - so der Tagesspiegel, "...schwärmt von „neuen Ritualen der Begegnung, neuen Theaterformen“ ." Cool. Das Theater ist stolz, daß es zur Afterkunst des Films und Romans wird. Das ist wohl sehr richtig beobachtet: "Drama" hat im coolen neuen Theater nichts mehr zu suchen. Theater IST aber nun mal Drama. Wenn dem Theater sein Kern abhanden kommt, kommt es sich selbst abhanden. Ist dann nur noch eine Frage der Zeit bis zur Abwicklung. Angeödete Shakespeare-Vergessenheit ist da nur ein beliebiges, tatsächlich nicht so wichtiges, aber typisches Symbol für den Trend ins Aus - sozusagen das sichtbare Omen. Ja, was soll man noch mit Shakespeare im coolen neuen Theater? Ihn etwa "loben"? Igitt, nein, das geht gar nicht. Er hat ja schließlich auch schlechtere Stücke geschrieben. Also.
Botho Strauß hat, wie sich auch hier zeigt, mit vielem ziemlich recht, was er über Theater sagt. Vermutlich ist er ein paar mal zu oft reingegangen.